Programm „Versorgung verbessern – Patienten informieren“

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Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt
Fachtagung „Partizipation und Gesundheit“
Marion Grote-Westrick
Duisburg, 4. Oktober 2016
Inhalt
 Patienten im Mittelpunkt – oder doch nur im Weg?
 Acht Prinzipien der patientenzentrierten Versorgung
 Patienten – die unterschätzten Experten
 Modell der gemeinsamen Entscheidungsfindung
 Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit
 Mythen über die Machbarkeit
 Es gibt viel zu tun – packen wir es an!
Fachtagung "Partizipation und Gesundheit": Patient im Mittelpunkt
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Patienten stehen im Mittelpunkt – oder doch nur im Weg?
„Er stört. Wir kommen
ganz aus unserem
Rhythmus“
Pflegerin über den Ehemann
einer Patientin
Bartens, W. (2007)
„Wieso sollte ich mit
dem Patienten reden?
Das brauche ich nicht.“
Arzt in einem Tumorboard
Hahlweg et al (2016)
Fachtagung "Partizipation und Gesundheit": Patient im Mittelpunkt
„Was bei uns in
Deutschland fehlt, ist
Case-Management. Das
wissen wir alle, aber wir
tun nichts dagegen. […]
Im Dschungel der
Hochleistungsmedizin
verirrt sich jeder, selbst
ein Arzt und
Ärztefunktionär.“
Ehem. Ärztefunktionär und
Herzinfarktpatient
in Ärztezeitung 26.01.15
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Patientenzentrierte Versorgung fußt auf acht Prinzipien
1. Respekt für die Werte, Präferenzen und Bedürfnisse des Patienten
2. Koordination und Integration der Versorgung
3. Klare und verständliche Informationen und Hilfe zur Selbsthilfe
4. Physisches Wohlbefinden und Schmerzmanagement
5. Emotionale Unterstützung und Eingehen auf Ängste
6. Einbeziehung von Familie und Freunden
7. Kontinuität der Behandlung und strukturiertes Entlassmanagement
8. Schneller Zugang zu verlässlicher Gesundheitsversorgung
Quelle: Picker Institute / Harvard Medical School / Commonwealth Fund (http://pickerinstitute.org/about/picker-principles/)
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Patientinnen und Patienten sind die „wahren“ Experten, und zwar für…
 ihre Werte
 „Wir möchten das Kind, egal ob ohne oder mit Down-Syndrom“
 ihre Präferenzen
 „Die letzten Tage möchte ich im vertrauten Umfeld verbringen“
 ihre Ängste und Risikoeinstellungen
 „Wenn ich die Gene habe, dann muss die Brust weg“
 ihre familiären und beruflichen Anforderungen
 „Wie soll ich den Therapieplan in meinen Alltag integrieren?“
 ihr Körpergefühl und die eigenen Krankheitserfahrungen
 „Diese Dosierung ist für mich zu hoch“
 ihre Erkrankung
 „Ich weiß mehr über Arzneimittelwirkungen bei meiner Krebsart als die Ärzte“
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Bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung begegnen sich Arzt und
Patient auf Augenhöhe
Definition:
„Partizipative Entscheidungsfindung ist ein
Interaktionsprozess mit dem Ziel, unter
gleichberechtigter aktiver Beteiligung von
Patient und Arzt auf Basis geteilter
Information zu einer gemeinsam
verantworteten Übereinkunft zu kommen.“
Härter, M. (2004)
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Gemeinsame Entscheidungsfindung beinhaltet drei Gesprächsphasen
Quelle: Elwyn et al (2013)
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Wieso gemeinsame Entscheidungsfindung? Weil sie viel bewirkt!
Wirkungen von gemeinsamer Entscheidungsfindung:
 Besseres Wissen und Verständnis von der Krankheit und Behandlungsoptionen
 Besseres Risikoeinschätzung
 Mehr Zufriedenheit mit Entscheidungen
 Weniger Entscheidungen für Operationen
 Bessere Behandlungstreue
 Mehr Zuversicht und bessere Bewältigungsfähigkeiten
 Besseres Gesundheitsverhalten
 Angemessenere Inanspruchnahme
Quelle: Murray et al (2005); O’Connor et al (2009); Picker Institute Europe (2010), zitiert nach Coulter et al (2011)
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Wunsch nach gemeinsamer Entscheidungsfindung ist groß und stabil...
Einstellung zu Shared Decision Making, in Prozent der Befragten, 2001-2012
Quelle: Gesundheitsmonitor (2014)
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… und in manchen Gruppen stärker ausgeprägt
Präferenz für gemeinsame EF stärker bei:
 Jüngeren
 Frauen
 höherem Bildungsabschluss
 chronischer Erkrankung
Quelle: Gesundheitsmonitor (2014)
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Ist PEF möglich? Die meisten Leistungen sind präferenzsensitiv und
erfordern eine gemeinsame Entscheidungsfindung – Übersicht evidenzbas. EH –
Operationen
Medikamente
Screenings
Schw. / Geburt
Brustentfernung
Polypharmazie
PSA
Kaiserschnitt
Prostataentferung
Hormonersatztherap.
Darmkrebs
Vag. Entbind. n. KS
Gebärmutterentf.
Horhofflimmern
Mammographie
Schw.-Abbruch
Gaumenmandelentf.
Gerinnungshemmer
Brustskrebsgen
Steißlage
Koron. Revask.
Diabetes
Diabetes
PDA
Rückenoperation
Chemotherapie
Zervixkrebs
Schw.-Vorsorge
Knieoperation
Depression
Bariatrische OP
Bluthochdruck
Vasektomie
Multliple Sklerose
Parenterale Ern.
Akute Atemwegserk.
Plus:
Bei der Hälfte
der 3.000
Behandlungsleistungen für die
wichtigsten
Erkrankungen ist
die Wirksamkeit
mangels
hochwertiger
Studien
unbekannt!
Quelle: Stacey et al (2016)
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Medikationsplan in Deutschland?
Der kanadische „Medstopper“ gegen Polypharmazie geht viel weiter
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Erfahrung mit gemeinsamer Entscheidungsfindung? Fehlanzeige!
Frage: Wie oft ist es in den letzten drei Jahren zu einer Entscheidungssituation mit mehreren
Alternativen gekommen?
70%
65%
noch nie
14%
18%
einmal
Selbst 50 Prozent
derjenigen, die sich selbst
als chronisch krank
bezeichnen,
haben eine gemeinsame
Entscheidungsfindung
in den letzten drei Jahren
nie erlebt!
4%
6%
zweimal
2%
2%
dreimal oder öfter
10%
9%
weiß nicht
0%
20%
40%
beim Hausarzt
60%
80%
beim Facharzt
Quelle: Gesundheitsmonitor (2014)
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Dabei ist die Aufklärung über Alternativen eine gesetzliche Pflicht
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Zeitlich stabile regionale Variationen – kaum auf unterschiedlichen
wohlinformierten Patientenpräferenzen zurück zu führen
Kaiserschnittentbindungen
2007-2009 vs. 2010-2012
Gaumenmandelentfernungen
2007-2009 vs. 2010-2012
Quelle: Faktencheck Gesundheit 2015
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Zeitlich stabile regionale Variationen – kaum auf unterschiedlichen
wohlinformierten Patientenpräferenzen zurück zu führen
Gebärmutterentfernungen
2007-2009 vs. 2010-2012
Knie-TEPs
2007-2009 vs. 2010-2012
Quelle: Faktencheck Gesundheit 2015
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In je 40 Kreisen wird anders entschieden als im Rest der Republik…
95./5.Perzentil-Quotient
3,0
Entf. Gaumenmandeln
8,0
2,3
Knie-TEP
Entf. Gallenblase
7,7
2,7
Bypass OP
Kaiserschnitte
8,1
1,3
Entf. Prostata
Entf. Gebärmutter
8,3
2,8
Defi-Implantate
Entf. Blinddarm
Extremalquotient
1,8
3,3
1,7
3,0
1,8
1,5
5,7
2,1
Quelle: Faktencheck Gesundheit 2015
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2,6
Erläuterung:
• Extremalquotient: Der Extremalquotient ist
das Verhältnis zwischen höchster und
niedrigster OP-Rate von allen 405 Kreisen in
Deutschland.
• 95./5. Perzentil-Quotient: Die Kreise mit den
20 höchsten und 20 niedrigsten OP-Raten
werden weggelassen, um Ausreißer
auszuschließen. Der 95./5. Perzentil-Quotient
ist das Verhältnis zwischen höchster und
niedrigster OP-Rate der verbleibenden 385
Kreise in Deutschland.
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Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander
Quelle: Floer et al (2004)
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Eine untypische Krebspatientin mit typischen Erfahrungen:
Dr. Tessa Richards, Ärztin und BMJ-Redakteurin
“A failure to be fully open with
patients about the risks of
interventions and short and long term
burden of treatments makes no sense.
Patients, perforce, have to live in the
real world and shoulder its
consequences.”
“The idea that best management could
be decided by a team of health
professionals who had never met me
and knew nothing about my
preferences and priorities was
absurd.”
Quelle: Cancer Knowledge Network (https://cancerkn.com/decision-making-cant-be-shared-if-conversations-arent/)
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Deutsche Ärzte haben am wenigsten Zeit für Patienten und sind damit
unzufrieden. Schwedische Ärzte haben viel mehr Zeit, sind aber noch unzufriedener!
80
73
70
58
60
55
50
44
40
30
20
33
24
45
41
33
25
19
19
17
15
15
11
11
10
10
0
Zeit pro Patient (in Minuten)
Unzufriedenheit mit Zeit
Quelle: Commonwealth Fund (2015)
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Ärzte sehen selbstinformierte Patienten zunehmend kritisch
– und es liegt nicht (nur) am Zeitmangel!
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Trotzdem – eine Aufbruchstimmung für mehr Kommunikation und
gemeinsame Entscheidungsfindung ist in der Ärzteschaft vorhanden
Beschlussprotokoll vom 119. Deutscher Ärztetag 2016
Beschlussprotokoll vom 118. Deutscher Ärztetag 2015
Beschlussprotokoll 117. Deutscher Ärztetag 2014
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Es gibt viel zu tun – packen wir es an!
Förderliche Faktoren für die Verbreitung von gemeinsamer Entscheidungsfindung
1. Wissenschaftliche Beweise für die Wirksamkeit von PEF in einem konkreten Kontext
2. Zusage der ärztlichen Vertreter zur Unterstützung von PEF
3. Forderung nach PEF durch Patientenvertreter und -organisationen
4. Ethische, finanzielle und professionelle Anreize für Ärzte, ihre Praktiken zu ändern
5. Training von Ärzten und Gesundheitsberufen in PEF und Risikokommunikation, sowie
Unterstützung und Überwachung der Implementierung
6. Verfügbarkeit von hochwertigen Entscheidungshilfen
7. Integration von Entscheidungshilfen in Praxis- und Kliniksoftware
8. Institutionelle Verankerung zur Entwicklung und Aktualisierung von Entscheidungshilfen
9. Zertifizierung von Entscheidungshilfen
10. Validierte Messinstrumente, um Pateintenerfahrung von PEF zu erfassen und Ärzten
Rückmeldung zu geben
Quelle: Coulter (2015)
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Wichtigster Startpunkt: Widerlegung von (mindestens) 12 Mythen zur
gemeinsamen Entscheidungsfindung
1.
“Shared decision making is a fad – it will pass.”
2.
“In shared decision making, patients are left to make decisions alone.”
3.
“Not everyone wants shared decision making.”
4.
“Not everyone is good at shared decision making.”
5.
“Shared decision making is not possible because patients are always asking me what I would do.”
6.
“Shared decision making takes too much time.”
7.
“We’re already doing shared decision making.”
8.
“Shared decision making is easy! A tool will do.”
9.
“Shared decision making is not compatible with clinical practice guidelines.”
10. “Shared decision making is only about the doctors and their patients.”
11. “Shared decision making will cost money.”
12. “Shared decision making does not account for emotions.”
Quelle: Legare (2014)
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Kulturwandel: Kampagnen für mehr gemeinsame Entscheidungen
Ask 3 Questions
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Vielen Dank.
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www.bertelsmann-stiftung.de
Gründe, Konsequenzen und Lösungsstrategien gegen unerwünschte
regionale Variationen
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