Da schmeckt sogar Mangold!

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judith hotes
www.ackerdemia.de
bildung
Da schmeckt
sogar Mangold!
Schülerinnen und Schüler gärtnern auf ihrem Acker.
von christiana henn
d
ass Kartoffeln nicht auf Bäumen wachsen, dass es gelbe und sogar grüne Tomaten gibt und auch krumme Möhren gut schmecken, könnte zum Grundwissen von Kindern und Jugendlichen
gehören, doch im Schulalltag kommen solche Erfahrungen zu kurz. Der
Verein »Ackerdemia« will hier Abhilfe schaffen.
Die Tatsache, dass derzeit ein Drittel unserer Nahrungsmittel auf dem Müll
landet, hat sicherlich auch mit der weitverbreiteten gesellschaftlichen Entfremdung von landwirtschaftlichen Prozessen zu tun. Der urbanisierte Mensch
hat kaum eine Beziehung zur Natur. Ihm fehlt das Wissen darüber, wie »grüne«
Lebensmittel auf eine für Mensch und Natur förderliche Weise angebaut werden können und wieviel Einsatz dies erfordert. Unser Anliegen ist, anknüpfend
an die alte Tradition der dörflichen Schulgärten diesem Mangel entgegenzuwirken. Der gemeinnützige Verein Ackerdemia hat dafür das Bildungsprojekt
»GemüseAckerdemie« ins Leben gerufen. Schulen haben für einen Garten nur
selten Platz, so unterstützen wir sie bei der Suche nach geeigneten Flächen für
einen Gemüseacker und beraten sie bei dessen Einrichtung, beim Bestellen von
ökologischem Saatgut sowie bei Aussaat und Bepflanzung. Dazu bieten wir Lehrern und ehrenamtlichen Mentoren Kurse zur Fortbildung an und versorgen
sie für ihre Arbeit mit Materialien und dem erforderlichen Hintergrundwissen.
Zusätzlich sprechen wir die Schüler unterschiedlichen Alters persönlich über
ihre Interessen an – beispielsweise über ein Online-Ackerspiel, in dem die Kinder ihr Wissen testen können, und über einen Blog, wo sie über ihre Erfahrun-
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gen schreiben und Fotos hochladen können, etwa von
ihrer größten Möhre oder dem längsten Regenwurm.
Viele Kinder in der Stadt haben kaum Bezug zur
Natur. Sie wissen nicht, woher ihr Gemüse kommt
und wie wichtig es für unsere Ernährung ist, und viele
konnten noch nie in der Erde wühlen. Doch während
der zwanzig Wochen, über die sich ein GemüseAckerProjekt erstreckt, verlieren die Schülerinnen und Schüler bald den Ekel vor Regenwürmern und legen mit der
Zeit auch die Sorge ab, sich die Hände schmutzig zu
­machen. Es ist leicht, das Interesse der Kinder für die
Natur zu wecken. Ihnen Zugang zu Erde, Tieren und
Pflanzen zu verschaffen, reicht bereits aus.
Wie schmecken blaue Kartoffeln?
Im Rahmen unserer GemüseAckerdemie haben die
Kinder mindestens zwei Stunden pro Woche Zeit
für die Gartenarbeit, wobei sie viel Neues entdecken. Zu
Beginn erforschen sie, was sich auf ihrem Acker im Vergleich zur vorherigen Woche getan hat. Sind einige Gemüsepflanzen besonders stark gewachsen? Warum ist
das so? Da lassen einige die Köpfe hängen. Sind Schädlinge am Werk? Was tun? So lernen sie, was die Kleinstlebewesen in der Erde bewirken, welchen Einfluss das
Wetter auf ihre Pflanzen oder auf die Schädlinge hat,
welches Gemüse wie gepflegt werden will und wann es
erntereif ist. Jedes Kind kann auf dem Schul­acker seinen persönlichen Interessen folgen. Da sie sich in kleinen Teams für eine Parzelle des Ackers zusammen­tun,
lernen die Kinder in der Praxis Kooperation und Verantwortlichkeit. Wenn sie dann zum Beispiel darüber
staunen, dass eine Möhre bis zu 26 ­Wochen benötigt, bis
sie erntereif ist, fördert das auch ihr Verständnis für organisches Wachstum.
Haben die Schülerinnen und Schüler von April bis
Oktober ihr eigenes Gemüse angebaut und es selbst ver-
Anders lernen
Schulische Klimmzüge
Kleine Freiräume schaffen oder rundherum frei sein?
fördert ohne erhobenen Zeigefinger soziale Kompetenzen: Achtsamkeit
gegenüber den Pflanzen, Abstimmung mit anderen über die nächsten Schritte. Die Ernte ist
für die Schülerinnen und Schüler dann ein gemeinsamer Erfolg.
arbeiten oder verkaufen dürfen, haben sie – fast nebenbei – die gesamte Wertschöpfungskette kennengelernt, von der Aussaat bis zur
Vermarktung. So gewinnen sie ein tieferes Bewusstsein für gesunde
Ernährung und den Wert unserer Nahrung. Eine Lehrerin berichtete begeistert, wie ein Schüler sein Pausenbrot aufklappte, ein Salatblatt vom Schulacker pflückte, es auf seinen Aufschnitt legte und
genüsslich hineinbiss. »Wenn man in den Laden geht und Gemüse
kauft, denkt man gar nicht darüber nach, wieviel Arbeit die Bauern
damit haben, das zu ernten«, stellte ein Mädchen aus NordrheinWestfalen nach seiner ersten Ackersaison fest.
Die Kinder stören sich nicht daran, dass ihr Gemüse optisch oft
nicht den Vermarktungsnormen der EU entspricht. Es kann ihnen
gar nicht verrückt genug aussehen, wie etwa die blauen Kartoffeln,
die gelben Tomaten oder Mangold mit regenbogenfarbenen Stielen.
In einer Schule in Kreuzberg wurden dieses Jahr an die 15 verschiedene Kartoffelsorten gepflanzt. Als in einer Projektgruppe das Gespräch darauf kam, dass in der GemüseAckerdemie ausschließlich
ökologisch gedüngt wird, wobei alles prächtig gedeiht, staunte ein
Schüler aus Berlin: »Ich hätte nie gedacht, dass unser Gemüse, obwohl es nie gespritzt wurde, so groß wird wie das im Supermarkt.«
Sehr gerne nehmen die Eltern das Gemüse ab. Eine Mutter
meinte dazu: »Mein Sohn hat danach Sorten gegessen, die er vorher
ablehnte, wie etwa Mangold. Nachdem wir es gemeinsam zubereitet haben, hat es ihm durchaus geschmeckt. Schon alleine das ist
ein Erfolg.« Weitere Kunden sind die Schulmensa, das Lehrerkollegium und die Nachbarn.
Nach dem Start des Bildungsprogramms 2014 in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen ist 2015 auch Niedersachsen mit
von der Partie. Insgesamt beteiligen sich dieses Jahr 19 Bildungseinrichtungen – vornehmlich Schulen, aber auch Kindertagesstätten und ein Sportverein – an der GemüseAckerdemie. Für 2016 sind
eine bundesweite Ausdehnung und die konzeptionelle Erweiterung
geplant. Vielleicht wird es bald selbstverständlich sein, dass jede
Schule ihren Gemüsegarten hat.
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◀▲ Gartenarbeit
Was ist bloß los mit dem Lernen? Die einen sagen,
Kinder lernten von selbst, es ließe sich doch gar nicht
vermeiden. Die andere meinen: Nein, dafür brauchen
wir Fachleute! Da muss den jüngeren Schülern über
eigens qualifizierte Menschen verständlich gemacht
werden, dass Natur etwas höchst Interessantes sei, und
älteren Schülern muss der Zugang zu den Armen in
­Afrika vermittelt werden, damit sie Hilfsbereitschaft
und Selbstwertgefühl entwickeln. Solche Initiativen
sind notwendig, doch zugleich frage ich mich: Wie sehr
lassen wir unseren Kindern in den Schulen ihren Wissensdurst und Unternehmungsgeist austreiben, dass
wir solche Klimmzüge zur Belebung ihrer Vitalität veranstalten müssen? So dankbar ich für jeden Schritt im
schulischen Bereich bin, der den jungen Menschen ein
wenig mehr Luft zum Atmen und Eigeninitiative gibt,
so sehr schmerzt es mich, zu sehen, wie stark Kinder
meist vom ersten Schultag an gehindert werden, sie
selbst zu sein und aus sich selbst heraus – im Austausch
mit ihrem Umfeld und den realen Notwendigkeiten des
Lebens – ihre Kraft und Potenziale zu entfalten.
Liegt es daran, dass nur die wenigsten von uns
jemals junge Menschen zu Gesicht bekamen, die aufrecht ihrem Gegenüber frei ins Gesicht schauen? Die
aus einer inneren Sicherheit heraus unbeschwert mit
jedermann umgehen können, ob mit Älteren oder den
ganz Kleinen, den als bedeutend oder den als unbedeutend Angesehenen? Die zupacken, wenn es notwendig
ist? Sie meinen, ich träume mir etwas zurecht? Nein,
diese Menschen sind unter Freilernern zu finden oder
in sehr freien Schulen, die sich trauen, den Schulanwesenheitszwang weitgehend auszutricksen. Glücklicherweise begegnen mir immer wieder junge Leute,
die nach dem Verlassen der Schule, etwa nach einem
Praktikum, einem Schupperjahr im Ausland oder nach
einem sozialen oder ökologischen Jahr die vorgespurten Wege verlassen und dann beginnen, ihre Augen für
die Freuden und die Notwendigkeiten der Welt zu öffnen. Sie heben ihre Flügel, verweigern sich fortan dem
glitzernd-faden Mainstream und werden zu kreativen
Mitmenschen. Anke Caspar-Jürgens
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Christiana Henn (26) ist für die Betreuung der Acker-Schulen in Berlin
und Brandenburg zuständig. Sie ist fasziniert von der Neugier der Kinder
auf dem Acker, ihrem Teamgeist und den leuchtenden Augen bei der Ernte.
Der Ackerdemia e. V. freut sich über jeden neuen Kooperationspartner:
www.gemüseackerdemie.de
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