Individuum und Staat: Grundrechte

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Institut für Völkerrecht
Individuum und Staat:
Grundrechte - Allgemeiner Teil
Vorlesungen vom 11. und 14. Oktober 2011
Prof. Christine Kaufmann
Herbstsemester 2011
Institut für Völkerrecht
Grundfragen: Einstieg
¾ Der vierzehnjährige P. wird auf der Fahrt im Extragzug zu einem
Fussballspiel des FCZ gegen den FC Basel von der Polizei am
Bahnhof Altstetten festgenommen. Erst nach Mitternacht darf er
seine Eltern anrufen. Sind Grundrechte tangiert?
¾ Der fünfzehnjährige M. wird wegen wiederholter massiver Störung
des Unterrichts definitiv von der Schule verwiesen. Wird sein Recht
auf Bildung verletzt?
Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011
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Status des Individuums:
Rechte und Pflichten: Terminologie
(1/3)
¾ Grundrechte
–
Von der Verfassung garantiert
–
Schützen grundlegende Rechte des Einzelnen oder einer Gruppe
–
Rechtsansprüche gegenüber dem Staat
¾ Menschenrechte
–
Rechte, die für alle Menschen gelten, insbes. auch Ausländerinnen
und Ausländer
–
Grundrechte, die vom Völkerrecht garantiert werden
–
Nicht alle Menschenrechte sind vor Gericht eingklagbar
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Institut für Völkerrecht
Status des Individuums:
Rechte und Pflichten: Terminologie
(2/3)
¾ Verfassungsmässige Rechte
–
Umfasst alle Grundrechte und einige weitere Bestimmungen der
BV, z.B. den Vorrang des Bundesrechts
–
Hat primär prozessrechtliche Bedeutung (Voraussetzung für
subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
¾ „Bürgerrechte“
–
Uneinheitliche Terminologie
–
Kann stehen für
• Grundrechte, auf die sich nur Schweizer Bürger berufen
können (z.B. Niederlassungsfreiheit)
• Rechte von Art. 37 und 38 BV
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Status des Individuums:
Rechte und Pflichten: Terminologie
(3/3)
¾ Grundpflichten
–
Elementare Pflichten des Einzelnen
–
In BV kein Pflichtenkatalog, nur punktuelle Erwähnung, z.B.
Militärdienst- und Zivilschutzdienstpflicht (Art. 59 Abs. 1 BV und 61
Abs. 3 BV)
–
Kantone kennen z.T. weitergehende Pflichten: z.B. Stimmpflicht
(Schaffhausen), Amtszwang.
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Status des Individuums:
Rechte und Pflichten: Widerstandsrecht?
¾ „Grosses Widerstandsrecht“
–
Naturrechtlich begründetes Recht, sich gegen ein illegitimes,
ungerechtes Verhalten des Staates zu wehren und dabei geltendes
(positives) Recht zu verletzen
–
Voraussetzungen
• Legale Mittel erfolglos ausgeschöpft
• Wahrung der Verhältnismässigkeit
¾ „Kleines Widerstandsrecht“
–
Gleiche Definition wie oben, umfasst jedoch nur gewaltfreie
Handlungen
–
Insbesondere: Ziviler Ungehorsam
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Allgemeine Grundrechtslehren: Grundlagen der
Grundrechte
¾ Erster Schritt: Philosophie (Naturrechtslehre)
– John Locke:
„The State of Nature has a Law of Nature to govern it, which obliges everyone: And
Reason, which is that Law, teaches all Mankind, who will but consult it, that being all
equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health Liberty and
Possessions.“
– Zweck des Staates ist Schutz der Menschenrechte
¾ Zweiter und dritter Schritt: Umsetzung
– Politische Umsetzung im Rahmen der Nationalstaaten
– Universelle politische Umsetzung (Vereinte Nationen)
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Allgemeine Grundrechtslehren:
Entstehung, wichtige historische Daten
(1/3)
¾ Ausgangspunkt: Grundrechte als rechtliche Antwort auf
Bedrohungen durch den Staat, aber
– Nicht jede Bedrohungslage führt zu neuen Grundrechten
– Nicht jedes Element der menschlichen Entfaltung wird von Grundrechten
geschützt
¾ 1215: Magna Charta
¾ 1628: Petition of Rights: Sicherheit der Person und des Eigentums
¾ 1679: Habeas Corpus Akte: Schutz vor willkürlicher Verhaftung
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Allgemeine Grundrechtslehren:
Entstehung, wichtige historische Daten
(2/3)
¾ 1776: Virginia Bill of Rights und Amerikanische
Unabhängigkeitserklärung
– Einfluss von John Locke
– Ergänzung der US-Verfassung durch Amendments: „Bill of Rights“
¾ 1789: Declaration des droits de l‘homme et du citoyen
– Grosser Einfluss in Europa
– Betonung der Rechtsgleichheit
¾ 1948: Allgemeine Menschenrechtserklärung
¾ 1950: Europäische Menschenrechtskonvention
¾ 1966: UNO-Menschenrechtspakte I und II
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Allgemeine Grundrechtslehren:
Entstehung, wichtige historische Daten
(3/3)
¾ 1969: Amerikanische Menschenrechtskonvention
¾ 1975: KSZE-Schlussakte von Helsinki
¾ 1981: Banjul Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (Afrika)
¾ 1989: UNO-Konvention über die Rechte des Kindes
¾ 1992: Erklärung von Rio zu Umwelt und Entwicklung (Rio-Deklaration)
¾ 1993: Vienna Declaration and Programme of Action
¾ 2004: Arabische Charta der Menschenrechte
¾ 2006: UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
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Institut für Völkerrecht
Allgemeine Grundrechtslehren:
Bedeutung der Grundrechte
¾ Grundrechte sind besonders geschützte Rechtspositionen
–
Sie binden das gesamte staatliche Handeln
–
Durchsetzung vor den Gerichten (dank Justiziabilität)
¾ Internationale Konventionen
–
Stärken Grundrechtsschutz
–
Einerseits durch Minimalstandards, andererseits (teilweise) durch
Durchsetzungsmechanismen
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Arten von Grundrechten:
Menschenrechte/Bürgerrechte
¾ Menschenrechte
–
Stehen jeder natürlichen Person zu
–
Teilweise auch juristischen Personen, soweit dafür geeignet
¾ Bürgerrechte
–
Stehen nur Schweizerinnen und Schweizern zu
–
Beispiel: Niederlassungsfreiheit
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Menschenrechte
alle
Menschen
Grundlage: Menschenwürde; jedem Menschen angeboren: Vorstaatlich,
unveräusserlich, universell
in staatliche Verfassung
gegossen
z.T. nur
Staatsbürger
Grundrechte
Je nach Verfassung unterschiedliche Ausgestaltung
klassische
Freiheitsrechte
soziale
Grundrechte
rechtsstaatliche
Garantien
politische
Rechte
• Rechtsgleichheit
• Willkürverbot
• Verfahrensgarantien
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Arten von Grundrechten: Menschenrechte im
internationalen Kontext
¾ Konzept der drei Generationen der Menschenrechte
– Bürgerliche und politische Rechte
– Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Recht („Sozialrechte“)
– Kollektive Rechte: z.B. Recht auf Entwicklung, Frieden, intakte Umwelt
¾ Unteilbarkeit der Menschenrechte
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Arten von Grundrechten: Georg Jellinek
¾ Freiheitsrechte („status negativus“)
– „Abwehrrechte“: Schutz des Einzelnen vor Übergriffen des Staates
– Traditionelles Verständnis: Staat nur zu Dulden oder Unterlassen
verpflichtet
– Modernes Verständnis: Staat hat auch gewisse Handlungspflichten
¾ Politische Rechte („status activus“)
– Recht des Einzelnen auf aktive Teilnahme an der politischen
Willensbildung
– Besondere Bedeutung der Grundpflichten (status passivus)
¾ Soziale Grundrechte („status positivus“)
– Verfassungsrechtliche Ansprüche des Einzelnen auf staatliche Leistungen
¾ Staatsbügerliche Pflichten („status passivus“)
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Arten von Grundrechten: Rechtsstaatliche
Garantien
¾ Rechtsgleichheit
¾ Willkürverbot
¾ Verfahrensgarantien
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Übersicht: Grundrechtsarten
Freiheitsrechte
• Persönliche
Freiheit (BV 10)
Soziale
Grundrechte
rechtsstaatliche
Garantien
• Recht auf Hilfe in
Notlagen (BV 12)
• Glaubens- und • Anspruch auf
Gewissensfreiheit Grundschulunter(BV 15)
richt (BV 19)
• Meinungs- und • Anspruch auf
Informationsfreiunentgeltliche
heit (BV 16)
Rechtspflege
(BV 29 III)
• etc.
politische
Rechte
Rechtsgleichheit
(BV 8)
andere
verfassungsmässige
Rechte
Willkürverbot (BV 9)
• Vorrang des
Bundesrechts
(BV 49)
Verfahrensgarantien (BV 29 ff.)
• BV 127
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Verfassungsmässige Rechte
(1/2)
¾ Definition (gemäss BGE 131 I 366)
–
Justiziable Rechtsansprüche, …
–
die nicht ausschliesslich öffentliche Interessen, sondern auch
Interessen und Schutzbedürfnisse des Einzelnen betreffen…
–
und deren Gewicht so gross ist, dass sie nach dem Willen des
Verfassungsgebers verfassungsrechtlichen Schutzes bedürfen
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Verfassungsmässige Rechte
(2/2)
¾ Einzelne Rechte: Wichtigste Beispiele
–
Grundrechte
–
Vorrang des Bundesrechts
–
Grundsatz der Gewaltenteilung
–
„Nulla poena sine lege“
–
Besteuerungsgrundsätze von Art. 127 BV
¾ Bedeutung
–
Voraussetzung für subsidiäre Verfassungsbeschwerde
–
Siehe dazu Art. 116 BGG
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Nationale Verankerung
(1/2)
¾ Bundesverfassung
– Grundrechtskatalog
• Art. 7-36 BV
• Anlehnung an die EMRK
– Ungeschriebene Grundrechte
• Seit 1959 vom Bundesgericht anerkannt
o Für Freiheiten, die Voraussetzung für die Ausübung anderer in der
Verfassung genannter Freiheitsrechte bilden
o Grundrechte, die unentbehrliche Bestandteile der demokratischen
und rechtsstaatlichen Ordnung sind
• BV von 1999 kodifiziert Rechtsprechung
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Nationale Verankerung
(2/2)
¾ Kantonsverfassungen
– Nur dann relevant, wenn sie weiter gehen als die BV
• Neue Grundrechte
• Weiter gehender Schutzbereich
• Höhere Anforderungen an Einschränkungen
– Beispiele
• Unterrichtsfreiheit (Art. 15 KV-ZH)
• Sozialrechte (Art. 29 KV-BE)
– Durchsetzbarkeit vor Bundesgericht
• Art. 189 Abs. 1 lit. d BV
• Art. 95 lit. c und Art. 116 BGG
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Internationale Verankerung
(1/3)
¾ Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
– Abgeschlossen 1950, Ratifikation durch die Schweiz 1974
– Unmittelbare Anwendbarkeit
– Verfahrensrechtliche Behandlung
• Innerstaatlich: Wie Grundrechte der BV
• Zusätzlich: Beschwerde an den EGMR
• EGMR-Urteile führen faktisch – nicht aber formell – zur Aufhebung der
nationalen Urteile
– Europäischer Minimalstandard
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Internationale Verankerung
(2/3)
¾ UNO-Pakte I und II
– Individualbeschwerde nur in Zusatzprotokollen (von CH nicht ratifiziert)
– Staatenberichte als Kontrollinstrument
– Problem der Justiziabilität
• UNO-Pakt I
o Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
o Gemäss Bundesgericht mehrheitlich nicht unmittelbar anwendbar,
nicht justiziabel
• UNO-Pakt II
• Bürgerliche und politische Rechte
• Grundsätzlich unmittelbar anwendbar
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Internationale Verankerung
(3/3)
¾ Weitere Menschenrechtsinstrumente
– Zahlreiche UNO-Übereinkommen
– Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
• Resolution der UNO-Generalversammlung von 1948
• Ursprünglich nicht verbindlich, heute z.T.
Völkergewohnheitsrecht
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Dimensionen von Grundrechten: Überblick
¾ Art. 35 Abs. 1 BV
–
Regelung des Grundrechtsverständnisses
–
Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung
kommen
¾ Art. 35 Abs. 2 BV
–
Regelung des Adressatenkreises
–
Jede Wahrnehmung staatlicher Aufgaben unterliegt der
Grundrechtsbindung
¾ Art. 35 Abs. 3 BV
–
Regelung der Drittwirkung
–
Behörden müssen dafür sorgen, dass die Grundrechte, soweit sie
sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden
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Dimensionen von Grundrechten:
Grundrechte als subjektive Rechte
¾ Praktische Bedeutung für die Auslegung
¾ Negatorisches Grundrechtsverständnis
– Auf Freiheitsrechte ausgerichtet
– Grundrechte als reine Abwehrrechte gegen den Staat
¾ Modernes Grundrechtsverständnis
– Umfassender Schutz
• Abwehr staatlicher Eingriffe
• Anspruch auf staatliche Leistungen, wenn
o explizit in der Verfassung erwähnt, oder
o zur Verwirklichung der Grundrechte notwendig
• Schutzpflicht des Staates
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Dimensionen von Grundrechte:
Modalitäten der Geltung
(1/2)
¾ Geltung in der gesamten Rechtsordnung: Art. 35 Abs. 1 BV
– Ordnungsprinzipien
– Handlungsaufträge an alle staatlichen Organe
¾ Ausübung staatlicher Aufgaben: Art. 35 Abs. 2 BV
– Grundrechtsbindung gilt umfassend: Wer staatliche Aufgaben
wahrnimmt, ist an Grundrechte gebunden
• Private sind bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben an die
Grundrechte gebunden
• Kriterium für „staatliche Aufgabe“: Ist der Staat für die Erfüllung
der Aufgabe verantwortlich?
– Staatliche Organe sind immer, auch bei privatrechtlichen Tätigkeiten
an die Grundrechte gebunden
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Institut für Völkerrecht
Dimensionen von Grundrechten:
Modalitäten der Geltung
(2/2)
¾ Wesen der Drittwirkung
– Sind Private bei privater Tätigkeit an die Grundrechte gebunden?
– Art. 35 Abs. 3: Massgebend ist Eignung
¾ Direkte Drittwirkung
– Direkte und umfassende Bindung der Privaten an ein Grundrecht
– Nach herrschender Lehre, nur wenn explizit in der BV vorgesehen.
Beispiel: Art. 8 Abs. 3 Satz 3 BV.
¾ Indirekte Drittwirkung
– Grundrechte werden zur Auslegung des Privatrechts herangezogen
– Indirekte Drittwirkung ist bei allen Grundrechten anerkannt
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Persönlicher Schutzbereich:
Träger der Grundrechte
(1/2)
¾ Regelt die Frage, wer sich auf ein Grundrecht berufen darf
¾ Natürliche Personen
– Grundsatz: Alle natürlichen Personen
• Teilweise Beschränkung auf bestimmte Personengruppen
• Bsp. Niederlassungsfreiheit, Wirtschaftsfreiheit
– Beginn und Ende der Grundrechtsträgerschaft
• Anfang: Ungeborene Kinder, Embryonen?
• Ende: Tod
– Minderjährige
• Grundrechtsträger sind auch noch nicht urteilsfähige Kinder und Jugendliche
• Selbständiges Geltendmachen von Grundrechten (Grundrechtsmündigkeit)
im Rahmen der Urteilsfähigkeit (Art. 11 Abs. 2 BV)
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Persönlicher Schutzbereich:
Träger der Grundrechte
(2/2)
¾ Juristische Personen des Privatrechts
–
Nur Grundrechte, die sich für juristische Personen eignen
–
Beispiele: Wirtschaftsfreiheit, Eigentumsgarantie,
Rechtsgleichheit
¾ Juristische Personen des öffentlichen Rechts
–
Grundsätzlich keine Grundrechtsträger
–
Ausnahme, wenn sie sich auf dem Boden des Privatrechts
bewegen und durch den staatlichen Akt wie eine Privatperson
betroffen sind
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Übersicht: Grundrechte nach Trägern
Menschenrechte i.w.S.:
unabhängig von der Nationalität
Menschenrechte i.e.S.
(nur natürliche Personen)
z.B.:
• BV 10 I
• BV 10 III
• BV 25 III
• BV 31
Grundrechte, die an die
Nationalität anknüpfen
(Bürgerrechte)
z.B.:
• BV 24
• BV 25 I
• BV 34
Personenrechte
(auch jur.
Personen)
z.B.:
• BV 8 I
• BV 29 I und II
Folie teilweise übernommen von Prof. Giovanni Biaggini
Sonderfälle: Beschränkter
Personenkreis
z.B.: BV 11, 25 II, 27, 34
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Seite 31
Institut für Völkerrecht
Sachlicher Schutzbereich der Grundrechte
¾ Regelt, welche Lebensbereiche vor welcher Art von staatlichen
Eingriffen geschützt sind
–
Eingriff durch formelle Anordnung oder durch Realakt möglich
–
Auch Unterlassungen können Schutzbereich eines Grundrechts
tangieren
¾ Kerngehalt
–
Teil des Schutzbereichs, der absoluten Schutz geniesst
–
Kerngehalt ist nicht einschränkbar
¾ Ermittlung des Schutzbereichs durch Auslegung
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Seite 32
Institut für Völkerrecht
Einschränkungen von Grundrechten:
Einschränkbarkeit
¾ Anwendungsbereich von Art. 36 BV
– Freiheitsrechte
– „Differenzierend“ auch für andere Grundrechte
¾ Soziale Grundrechte
– Bundesgericht: „Sinngemässe“ Anwendung von Art. 36 BV
– Keine Einschränkbarkeit, wenn Schutzbereich = Kerngehalt
¾ Grundrechtliche Verfahrensgarantien
– Lehre: Minimalstandards nicht einschränkbar, andere Teilgehalte
einschränkbar
– Bundesgericht: Anwendung von Art. 36
¾ Gleichstellungsmassnahmen
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Seite 33
Institut für Völkerrecht
Einschränkung von Freiheitsrechten
(1/4)
¾ Welche Grundrechte sind berührt?
– Sachlicher Schutzbereich der Grundrechte
– Persönlicher Schutzbereich der Grundrechte (Trägerschaft)
– Sofern ein Sachverhalt in den persönlichen und den sachlichen
Schutzbereich fällt, ist das Freiheitsrecht berührt (tangiert)
¾ Wird das berührte Grundrecht verletzt?
– Prüfen der Voraussetzungen gemäss Art. 36 BV
– Wird eine Voraussetzung von Art. 36 BV nicht erfüllt, ist das
Freiheitsrecht verletzt
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Seite 34
Institut für Völkerrecht
Einschränkung von Freiheitsrechten
(2/4)
¾ Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV)
– Erfordernis des Rechtssatzes
• Generell-abstrakte Norm
• Genügende Bestimmtheit
• (Zuständigkeit des erlassenden Organs bzw. Gemeinwesens)
– Erfordernis der Gesetzesform
• Bei schweren Eingriffen: Formelles Gesetz
• Bei leichteren Eingriffen: Auch Verordnung, sofern vom zuständigen
Organ erlassen
– Ausnahme: Polizeiliche Generalklausel
– Besondere Voraussetzungen bei Eingriffen in die Rechte von Personen in
einem besonderen Rechtsverhältnis zum Staat („Sonderstatusverhältnis“)
Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011
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Institut für Völkerrecht
Einschränkung von Freiheitsrechten
(3/4)
¾ Öffentliches Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV)
– Grundsätzlich alle öffentlichen Interessen
• Beispiele: Polizeiliche Interessen, Umweltschutz, Sozialpolitik
• Ableitung insbesondere auch aus Staatszielbestimmungen
• Ausnahmen?
– Schutz von Grundrechten Dritter
Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011
Seite 36
Institut für Völkerrecht
Einschränkung von Freiheitsrechten
(4/4)
¾ Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV)
– Eignung: Kann die Massnahme zum Ziel führen?
– Erforderlichkeit: Gäbe es eine gleich wirksame, aber für den
Betroffenen mildere Massnahme?
– Verhältnismässigkeit i.e.S.: Verhältnismässigkeit von Eingriffszweck
und Eingriffswirkung, „Zumutbarkeit“
¾ Wahrung des Kerngehalts (Art. 36 Abs. 4 BV)
– Auslegung
– Hinweise gibt die Notstandsfestigkeit i.S.v. Art. 15 Ziff. 2 EMRK
Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011
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Institut für Völkerrecht
Hinweis: Sonderstatusverhältnisse
¾ Grundsatz
– Die Grundrechte von Menschen in einem Sonderstatusverhältnis können
unter den üblichen Voraussetzungen eingeschränkt werden
¾ Relativierungen
– Die zwangsweise Begründung des Sonderstatusverhältnisses muss sich
auf ein formelles Gesetz stützen können
– Besondere Grundrechtseinschränkungen müssen sich aus der Natur des
Sonderstatusverhältnisses ergeben
– Der (Un-)Freiwilligkeit eines Sonderstatusverhältnisses ist im Rahmen der
Zumutbarkeit Rechnung zu tragen
– Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm sind in der Praxis eher tief
Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011
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Institut für Völkerrecht
Grundrechtskonkurrenz und -kollisionen
¾ Grundrechtskonkurrenz
–
Staatliche Handlung kann mehrer Grundrechte betreffen
–
Zulässigkeit des Eingriffs ist eigentlich für jedes Grundrecht separat
zu prüfen
–
Wenn ein Grundrecht zu anderen lex specialis ist, muss bei den
anderen jedoch nur geprüft werden, ob sie in einer bestimmten
Hinsicht einen weiter gehenden Schutz bieten
¾ Grundrechtskollisionen
–
Begriff: Verschiedene Grundrechte stehen in einem
Spannungsverhältnis zueinander stehen
–
Ausdrückliche Erwähnung dieser Situation in Art. 36 Abs. 2 BV
–
Interessenabwägung erforderlich
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Institut für Völkerrecht
Grundrechtsverzicht und Grundrechtsverwirkung
¾ Grundrechtsverzicht
–
Grundsätzlich kann nicht im Voraus auf Grundrechte verzichtet
werden
–
Jedoch ist niemand verpflichtet, seine Grundrechte geltend zu
machen
¾ Grundrechtsverwirkung
–
Rechtsverlust durch missbräuchliches Verhalten
–
Im deutschen Recht sowie der EMRK bekannt
–
Vom Bundesgericht in BGE 122 II 193 angenommen
–
Von der herrschenden Lehre nicht anerkannt
Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011
Seite 40
Institut für Völkerrecht
Rechtsfolgen von Grundrechtsverletzungen
¾ Restitution
–
Wiederherstellung des grundrechtskonformen Zustandes
–
Beispiel: Erteilung einer Baubewilligung für ein Minarett
¾ Kompensation
–
Bei irreversiblen Folgen durch staatliche Handlung
–
Beispiele: Entschädigung, Nichtberücksichtigung von rechtswidrig
erlangten Beweisen
¾ Prävention
–
Präjudizwirkung einer festgestellten Grundrechtsverletzung
–
Massnahmen des Staates zur Verhinderung weiterer
Grundrechtsverletzungen
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