Institut für Völkerrecht Individuum und Staat: Grundrechte - Allgemeiner Teil Vorlesungen vom 11. und 14. Oktober 2011 Prof. Christine Kaufmann Herbstsemester 2011 Institut für Völkerrecht Grundfragen: Einstieg ¾ Der vierzehnjährige P. wird auf der Fahrt im Extragzug zu einem Fussballspiel des FCZ gegen den FC Basel von der Polizei am Bahnhof Altstetten festgenommen. Erst nach Mitternacht darf er seine Eltern anrufen. Sind Grundrechte tangiert? ¾ Der fünfzehnjährige M. wird wegen wiederholter massiver Störung des Unterrichts definitiv von der Schule verwiesen. Wird sein Recht auf Bildung verletzt? Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 2 Institut für Völkerrecht Status des Individuums: Rechte und Pflichten: Terminologie (1/3) ¾ Grundrechte – Von der Verfassung garantiert – Schützen grundlegende Rechte des Einzelnen oder einer Gruppe – Rechtsansprüche gegenüber dem Staat ¾ Menschenrechte – Rechte, die für alle Menschen gelten, insbes. auch Ausländerinnen und Ausländer – Grundrechte, die vom Völkerrecht garantiert werden – Nicht alle Menschenrechte sind vor Gericht eingklagbar Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 3 Institut für Völkerrecht Status des Individuums: Rechte und Pflichten: Terminologie (2/3) ¾ Verfassungsmässige Rechte – Umfasst alle Grundrechte und einige weitere Bestimmungen der BV, z.B. den Vorrang des Bundesrechts – Hat primär prozessrechtliche Bedeutung (Voraussetzung für subsidiäre Verfassungsbeschwerde) ¾ „Bürgerrechte“ – Uneinheitliche Terminologie – Kann stehen für • Grundrechte, auf die sich nur Schweizer Bürger berufen können (z.B. Niederlassungsfreiheit) • Rechte von Art. 37 und 38 BV Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 4 Institut für Völkerrecht Status des Individuums: Rechte und Pflichten: Terminologie (3/3) ¾ Grundpflichten – Elementare Pflichten des Einzelnen – In BV kein Pflichtenkatalog, nur punktuelle Erwähnung, z.B. Militärdienst- und Zivilschutzdienstpflicht (Art. 59 Abs. 1 BV und 61 Abs. 3 BV) – Kantone kennen z.T. weitergehende Pflichten: z.B. Stimmpflicht (Schaffhausen), Amtszwang. Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 5 Institut für Völkerrecht Status des Individuums: Rechte und Pflichten: Widerstandsrecht? ¾ „Grosses Widerstandsrecht“ – Naturrechtlich begründetes Recht, sich gegen ein illegitimes, ungerechtes Verhalten des Staates zu wehren und dabei geltendes (positives) Recht zu verletzen – Voraussetzungen • Legale Mittel erfolglos ausgeschöpft • Wahrung der Verhältnismässigkeit ¾ „Kleines Widerstandsrecht“ – Gleiche Definition wie oben, umfasst jedoch nur gewaltfreie Handlungen – Insbesondere: Ziviler Ungehorsam Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 6 Institut für Völkerrecht Allgemeine Grundrechtslehren: Grundlagen der Grundrechte ¾ Erster Schritt: Philosophie (Naturrechtslehre) – John Locke: „The State of Nature has a Law of Nature to govern it, which obliges everyone: And Reason, which is that Law, teaches all Mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health Liberty and Possessions.“ – Zweck des Staates ist Schutz der Menschenrechte ¾ Zweiter und dritter Schritt: Umsetzung – Politische Umsetzung im Rahmen der Nationalstaaten – Universelle politische Umsetzung (Vereinte Nationen) Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 7 Institut für Völkerrecht Allgemeine Grundrechtslehren: Entstehung, wichtige historische Daten (1/3) ¾ Ausgangspunkt: Grundrechte als rechtliche Antwort auf Bedrohungen durch den Staat, aber – Nicht jede Bedrohungslage führt zu neuen Grundrechten – Nicht jedes Element der menschlichen Entfaltung wird von Grundrechten geschützt ¾ 1215: Magna Charta ¾ 1628: Petition of Rights: Sicherheit der Person und des Eigentums ¾ 1679: Habeas Corpus Akte: Schutz vor willkürlicher Verhaftung Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 8 Institut für Völkerrecht Allgemeine Grundrechtslehren: Entstehung, wichtige historische Daten (2/3) ¾ 1776: Virginia Bill of Rights und Amerikanische Unabhängigkeitserklärung – Einfluss von John Locke – Ergänzung der US-Verfassung durch Amendments: „Bill of Rights“ ¾ 1789: Declaration des droits de l‘homme et du citoyen – Grosser Einfluss in Europa – Betonung der Rechtsgleichheit ¾ 1948: Allgemeine Menschenrechtserklärung ¾ 1950: Europäische Menschenrechtskonvention ¾ 1966: UNO-Menschenrechtspakte I und II Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 9 Institut für Völkerrecht Allgemeine Grundrechtslehren: Entstehung, wichtige historische Daten (3/3) ¾ 1969: Amerikanische Menschenrechtskonvention ¾ 1975: KSZE-Schlussakte von Helsinki ¾ 1981: Banjul Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (Afrika) ¾ 1989: UNO-Konvention über die Rechte des Kindes ¾ 1992: Erklärung von Rio zu Umwelt und Entwicklung (Rio-Deklaration) ¾ 1993: Vienna Declaration and Programme of Action ¾ 2004: Arabische Charta der Menschenrechte ¾ 2006: UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 10 Institut für Völkerrecht Allgemeine Grundrechtslehren: Bedeutung der Grundrechte ¾ Grundrechte sind besonders geschützte Rechtspositionen – Sie binden das gesamte staatliche Handeln – Durchsetzung vor den Gerichten (dank Justiziabilität) ¾ Internationale Konventionen – Stärken Grundrechtsschutz – Einerseits durch Minimalstandards, andererseits (teilweise) durch Durchsetzungsmechanismen Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 11 Institut für Völkerrecht Arten von Grundrechten: Menschenrechte/Bürgerrechte ¾ Menschenrechte – Stehen jeder natürlichen Person zu – Teilweise auch juristischen Personen, soweit dafür geeignet ¾ Bürgerrechte – Stehen nur Schweizerinnen und Schweizern zu – Beispiel: Niederlassungsfreiheit Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 12 Institut für Völkerrecht Menschenrechte alle Menschen Grundlage: Menschenwürde; jedem Menschen angeboren: Vorstaatlich, unveräusserlich, universell in staatliche Verfassung gegossen z.T. nur Staatsbürger Grundrechte Je nach Verfassung unterschiedliche Ausgestaltung klassische Freiheitsrechte soziale Grundrechte rechtsstaatliche Garantien politische Rechte • Rechtsgleichheit • Willkürverbot • Verfahrensgarantien Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 13 Institut für Völkerrecht Arten von Grundrechten: Menschenrechte im internationalen Kontext ¾ Konzept der drei Generationen der Menschenrechte – Bürgerliche und politische Rechte – Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Recht („Sozialrechte“) – Kollektive Rechte: z.B. Recht auf Entwicklung, Frieden, intakte Umwelt ¾ Unteilbarkeit der Menschenrechte Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 14 Institut für Völkerrecht Arten von Grundrechten: Georg Jellinek ¾ Freiheitsrechte („status negativus“) – „Abwehrrechte“: Schutz des Einzelnen vor Übergriffen des Staates – Traditionelles Verständnis: Staat nur zu Dulden oder Unterlassen verpflichtet – Modernes Verständnis: Staat hat auch gewisse Handlungspflichten ¾ Politische Rechte („status activus“) – Recht des Einzelnen auf aktive Teilnahme an der politischen Willensbildung – Besondere Bedeutung der Grundpflichten (status passivus) ¾ Soziale Grundrechte („status positivus“) – Verfassungsrechtliche Ansprüche des Einzelnen auf staatliche Leistungen ¾ Staatsbügerliche Pflichten („status passivus“) Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 15 Institut für Völkerrecht Arten von Grundrechten: Rechtsstaatliche Garantien ¾ Rechtsgleichheit ¾ Willkürverbot ¾ Verfahrensgarantien Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 16 Institut für Völkerrecht Übersicht: Grundrechtsarten Freiheitsrechte • Persönliche Freiheit (BV 10) Soziale Grundrechte rechtsstaatliche Garantien • Recht auf Hilfe in Notlagen (BV 12) • Glaubens- und • Anspruch auf Gewissensfreiheit Grundschulunter(BV 15) richt (BV 19) • Meinungs- und • Anspruch auf Informationsfreiunentgeltliche heit (BV 16) Rechtspflege (BV 29 III) • etc. politische Rechte Rechtsgleichheit (BV 8) andere verfassungsmässige Rechte Willkürverbot (BV 9) • Vorrang des Bundesrechts (BV 49) Verfahrensgarantien (BV 29 ff.) • BV 127 Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 17 Institut für Völkerrecht Verfassungsmässige Rechte (1/2) ¾ Definition (gemäss BGE 131 I 366) – Justiziable Rechtsansprüche, … – die nicht ausschliesslich öffentliche Interessen, sondern auch Interessen und Schutzbedürfnisse des Einzelnen betreffen… – und deren Gewicht so gross ist, dass sie nach dem Willen des Verfassungsgebers verfassungsrechtlichen Schutzes bedürfen Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 18 Institut für Völkerrecht Verfassungsmässige Rechte (2/2) ¾ Einzelne Rechte: Wichtigste Beispiele – Grundrechte – Vorrang des Bundesrechts – Grundsatz der Gewaltenteilung – „Nulla poena sine lege“ – Besteuerungsgrundsätze von Art. 127 BV ¾ Bedeutung – Voraussetzung für subsidiäre Verfassungsbeschwerde – Siehe dazu Art. 116 BGG Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 19 Institut für Völkerrecht Nationale Verankerung (1/2) ¾ Bundesverfassung – Grundrechtskatalog • Art. 7-36 BV • Anlehnung an die EMRK – Ungeschriebene Grundrechte • Seit 1959 vom Bundesgericht anerkannt o Für Freiheiten, die Voraussetzung für die Ausübung anderer in der Verfassung genannter Freiheitsrechte bilden o Grundrechte, die unentbehrliche Bestandteile der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung sind • BV von 1999 kodifiziert Rechtsprechung Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 20 Institut für Völkerrecht Nationale Verankerung (2/2) ¾ Kantonsverfassungen – Nur dann relevant, wenn sie weiter gehen als die BV • Neue Grundrechte • Weiter gehender Schutzbereich • Höhere Anforderungen an Einschränkungen – Beispiele • Unterrichtsfreiheit (Art. 15 KV-ZH) • Sozialrechte (Art. 29 KV-BE) – Durchsetzbarkeit vor Bundesgericht • Art. 189 Abs. 1 lit. d BV • Art. 95 lit. c und Art. 116 BGG Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 21 Institut für Völkerrecht Internationale Verankerung (1/3) ¾ Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – Abgeschlossen 1950, Ratifikation durch die Schweiz 1974 – Unmittelbare Anwendbarkeit – Verfahrensrechtliche Behandlung • Innerstaatlich: Wie Grundrechte der BV • Zusätzlich: Beschwerde an den EGMR • EGMR-Urteile führen faktisch – nicht aber formell – zur Aufhebung der nationalen Urteile – Europäischer Minimalstandard Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 22 Institut für Völkerrecht Internationale Verankerung (2/3) ¾ UNO-Pakte I und II – Individualbeschwerde nur in Zusatzprotokollen (von CH nicht ratifiziert) – Staatenberichte als Kontrollinstrument – Problem der Justiziabilität • UNO-Pakt I o Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte o Gemäss Bundesgericht mehrheitlich nicht unmittelbar anwendbar, nicht justiziabel • UNO-Pakt II • Bürgerliche und politische Rechte • Grundsätzlich unmittelbar anwendbar Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 23 Institut für Völkerrecht Internationale Verankerung (3/3) ¾ Weitere Menschenrechtsinstrumente – Zahlreiche UNO-Übereinkommen – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte • Resolution der UNO-Generalversammlung von 1948 • Ursprünglich nicht verbindlich, heute z.T. Völkergewohnheitsrecht Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 24 Institut für Völkerrecht Dimensionen von Grundrechten: Überblick ¾ Art. 35 Abs. 1 BV – Regelung des Grundrechtsverständnisses – Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen ¾ Art. 35 Abs. 2 BV – Regelung des Adressatenkreises – Jede Wahrnehmung staatlicher Aufgaben unterliegt der Grundrechtsbindung ¾ Art. 35 Abs. 3 BV – Regelung der Drittwirkung – Behörden müssen dafür sorgen, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 25 Institut für Völkerrecht Dimensionen von Grundrechten: Grundrechte als subjektive Rechte ¾ Praktische Bedeutung für die Auslegung ¾ Negatorisches Grundrechtsverständnis – Auf Freiheitsrechte ausgerichtet – Grundrechte als reine Abwehrrechte gegen den Staat ¾ Modernes Grundrechtsverständnis – Umfassender Schutz • Abwehr staatlicher Eingriffe • Anspruch auf staatliche Leistungen, wenn o explizit in der Verfassung erwähnt, oder o zur Verwirklichung der Grundrechte notwendig • Schutzpflicht des Staates Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 26 Institut für Völkerrecht Dimensionen von Grundrechte: Modalitäten der Geltung (1/2) ¾ Geltung in der gesamten Rechtsordnung: Art. 35 Abs. 1 BV – Ordnungsprinzipien – Handlungsaufträge an alle staatlichen Organe ¾ Ausübung staatlicher Aufgaben: Art. 35 Abs. 2 BV – Grundrechtsbindung gilt umfassend: Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an Grundrechte gebunden • Private sind bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben an die Grundrechte gebunden • Kriterium für „staatliche Aufgabe“: Ist der Staat für die Erfüllung der Aufgabe verantwortlich? – Staatliche Organe sind immer, auch bei privatrechtlichen Tätigkeiten an die Grundrechte gebunden Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 27 Institut für Völkerrecht Dimensionen von Grundrechten: Modalitäten der Geltung (2/2) ¾ Wesen der Drittwirkung – Sind Private bei privater Tätigkeit an die Grundrechte gebunden? – Art. 35 Abs. 3: Massgebend ist Eignung ¾ Direkte Drittwirkung – Direkte und umfassende Bindung der Privaten an ein Grundrecht – Nach herrschender Lehre, nur wenn explizit in der BV vorgesehen. Beispiel: Art. 8 Abs. 3 Satz 3 BV. ¾ Indirekte Drittwirkung – Grundrechte werden zur Auslegung des Privatrechts herangezogen – Indirekte Drittwirkung ist bei allen Grundrechten anerkannt Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 28 Institut für Völkerrecht Persönlicher Schutzbereich: Träger der Grundrechte (1/2) ¾ Regelt die Frage, wer sich auf ein Grundrecht berufen darf ¾ Natürliche Personen – Grundsatz: Alle natürlichen Personen • Teilweise Beschränkung auf bestimmte Personengruppen • Bsp. Niederlassungsfreiheit, Wirtschaftsfreiheit – Beginn und Ende der Grundrechtsträgerschaft • Anfang: Ungeborene Kinder, Embryonen? • Ende: Tod – Minderjährige • Grundrechtsträger sind auch noch nicht urteilsfähige Kinder und Jugendliche • Selbständiges Geltendmachen von Grundrechten (Grundrechtsmündigkeit) im Rahmen der Urteilsfähigkeit (Art. 11 Abs. 2 BV) Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 29 Institut für Völkerrecht Persönlicher Schutzbereich: Träger der Grundrechte (2/2) ¾ Juristische Personen des Privatrechts – Nur Grundrechte, die sich für juristische Personen eignen – Beispiele: Wirtschaftsfreiheit, Eigentumsgarantie, Rechtsgleichheit ¾ Juristische Personen des öffentlichen Rechts – Grundsätzlich keine Grundrechtsträger – Ausnahme, wenn sie sich auf dem Boden des Privatrechts bewegen und durch den staatlichen Akt wie eine Privatperson betroffen sind Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 30 Institut für Völkerrecht Übersicht: Grundrechte nach Trägern Menschenrechte i.w.S.: unabhängig von der Nationalität Menschenrechte i.e.S. (nur natürliche Personen) z.B.: • BV 10 I • BV 10 III • BV 25 III • BV 31 Grundrechte, die an die Nationalität anknüpfen (Bürgerrechte) z.B.: • BV 24 • BV 25 I • BV 34 Personenrechte (auch jur. Personen) z.B.: • BV 8 I • BV 29 I und II Folie teilweise übernommen von Prof. Giovanni Biaggini Sonderfälle: Beschränkter Personenkreis z.B.: BV 11, 25 II, 27, 34 Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 31 Institut für Völkerrecht Sachlicher Schutzbereich der Grundrechte ¾ Regelt, welche Lebensbereiche vor welcher Art von staatlichen Eingriffen geschützt sind – Eingriff durch formelle Anordnung oder durch Realakt möglich – Auch Unterlassungen können Schutzbereich eines Grundrechts tangieren ¾ Kerngehalt – Teil des Schutzbereichs, der absoluten Schutz geniesst – Kerngehalt ist nicht einschränkbar ¾ Ermittlung des Schutzbereichs durch Auslegung Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 32 Institut für Völkerrecht Einschränkungen von Grundrechten: Einschränkbarkeit ¾ Anwendungsbereich von Art. 36 BV – Freiheitsrechte – „Differenzierend“ auch für andere Grundrechte ¾ Soziale Grundrechte – Bundesgericht: „Sinngemässe“ Anwendung von Art. 36 BV – Keine Einschränkbarkeit, wenn Schutzbereich = Kerngehalt ¾ Grundrechtliche Verfahrensgarantien – Lehre: Minimalstandards nicht einschränkbar, andere Teilgehalte einschränkbar – Bundesgericht: Anwendung von Art. 36 ¾ Gleichstellungsmassnahmen Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 33 Institut für Völkerrecht Einschränkung von Freiheitsrechten (1/4) ¾ Welche Grundrechte sind berührt? – Sachlicher Schutzbereich der Grundrechte – Persönlicher Schutzbereich der Grundrechte (Trägerschaft) – Sofern ein Sachverhalt in den persönlichen und den sachlichen Schutzbereich fällt, ist das Freiheitsrecht berührt (tangiert) ¾ Wird das berührte Grundrecht verletzt? – Prüfen der Voraussetzungen gemäss Art. 36 BV – Wird eine Voraussetzung von Art. 36 BV nicht erfüllt, ist das Freiheitsrecht verletzt Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 34 Institut für Völkerrecht Einschränkung von Freiheitsrechten (2/4) ¾ Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV) – Erfordernis des Rechtssatzes • Generell-abstrakte Norm • Genügende Bestimmtheit • (Zuständigkeit des erlassenden Organs bzw. Gemeinwesens) – Erfordernis der Gesetzesform • Bei schweren Eingriffen: Formelles Gesetz • Bei leichteren Eingriffen: Auch Verordnung, sofern vom zuständigen Organ erlassen – Ausnahme: Polizeiliche Generalklausel – Besondere Voraussetzungen bei Eingriffen in die Rechte von Personen in einem besonderen Rechtsverhältnis zum Staat („Sonderstatusverhältnis“) Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 35 Institut für Völkerrecht Einschränkung von Freiheitsrechten (3/4) ¾ Öffentliches Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV) – Grundsätzlich alle öffentlichen Interessen • Beispiele: Polizeiliche Interessen, Umweltschutz, Sozialpolitik • Ableitung insbesondere auch aus Staatszielbestimmungen • Ausnahmen? – Schutz von Grundrechten Dritter Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 36 Institut für Völkerrecht Einschränkung von Freiheitsrechten (4/4) ¾ Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV) – Eignung: Kann die Massnahme zum Ziel führen? – Erforderlichkeit: Gäbe es eine gleich wirksame, aber für den Betroffenen mildere Massnahme? – Verhältnismässigkeit i.e.S.: Verhältnismässigkeit von Eingriffszweck und Eingriffswirkung, „Zumutbarkeit“ ¾ Wahrung des Kerngehalts (Art. 36 Abs. 4 BV) – Auslegung – Hinweise gibt die Notstandsfestigkeit i.S.v. Art. 15 Ziff. 2 EMRK Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 37 Institut für Völkerrecht Hinweis: Sonderstatusverhältnisse ¾ Grundsatz – Die Grundrechte von Menschen in einem Sonderstatusverhältnis können unter den üblichen Voraussetzungen eingeschränkt werden ¾ Relativierungen – Die zwangsweise Begründung des Sonderstatusverhältnisses muss sich auf ein formelles Gesetz stützen können – Besondere Grundrechtseinschränkungen müssen sich aus der Natur des Sonderstatusverhältnisses ergeben – Der (Un-)Freiwilligkeit eines Sonderstatusverhältnisses ist im Rahmen der Zumutbarkeit Rechnung zu tragen – Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm sind in der Praxis eher tief Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 38 Institut für Völkerrecht Grundrechtskonkurrenz und -kollisionen ¾ Grundrechtskonkurrenz – Staatliche Handlung kann mehrer Grundrechte betreffen – Zulässigkeit des Eingriffs ist eigentlich für jedes Grundrecht separat zu prüfen – Wenn ein Grundrecht zu anderen lex specialis ist, muss bei den anderen jedoch nur geprüft werden, ob sie in einer bestimmten Hinsicht einen weiter gehenden Schutz bieten ¾ Grundrechtskollisionen – Begriff: Verschiedene Grundrechte stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen – Ausdrückliche Erwähnung dieser Situation in Art. 36 Abs. 2 BV – Interessenabwägung erforderlich Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 39 Institut für Völkerrecht Grundrechtsverzicht und Grundrechtsverwirkung ¾ Grundrechtsverzicht – Grundsätzlich kann nicht im Voraus auf Grundrechte verzichtet werden – Jedoch ist niemand verpflichtet, seine Grundrechte geltend zu machen ¾ Grundrechtsverwirkung – Rechtsverlust durch missbräuchliches Verhalten – Im deutschen Recht sowie der EMRK bekannt – Vom Bundesgericht in BGE 122 II 193 angenommen – Von der herrschenden Lehre nicht anerkannt Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 40 Institut für Völkerrecht Rechtsfolgen von Grundrechtsverletzungen ¾ Restitution – Wiederherstellung des grundrechtskonformen Zustandes – Beispiel: Erteilung einer Baubewilligung für ein Minarett ¾ Kompensation – Bei irreversiblen Folgen durch staatliche Handlung – Beispiele: Entschädigung, Nichtberücksichtigung von rechtswidrig erlangten Beweisen ¾ Prävention – Präjudizwirkung einer festgestellten Grundrechtsverletzung – Massnahmen des Staates zur Verhinderung weiterer Grundrechtsverletzungen Staatsrecht I - Grundrechte Allgemeiner Teil, Prof. Dr. iur. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 41