Präklinische Versorgung in Schweden

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Leitthema
Deutsche Version von: „Prehospital care
in Sweden“,
Notfall Rettungsmed 2015 · 18:107–109
DOI 10.1007/DOI 10.1007/s10049-015-1989-1
Online publiziert: 31. März 2015
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
V. Lindström1, 2 · K. Bohm1, 3 · L. Kurland1, 4
1 Department of Clinical Science and Education, Karolinska Institutet, Södersjukhuset, Stockolm
2 Academic EMS, Stockholm
3 SOS Alarm AB, Stockholm
4 Department of Emergency Medicine, Södersjukhuset, Stockholm
Präklinische Versorgung in Schweden
Von einer Transportorganisation zur
fortschrittlichen Gesundheitsversorgung
Die Notfallmedizin hat in Schweden
seit 2008 den Status eines Fachgebiets und ist als Kontinuum vom ersten Kontakt des Patienten mit der
Notrufzentrale über den Rettungsdienst bis zur klinischen Versorgung
definiert. Die Entwicklung der Notfallmedizin als Fachgebiet ist noch
im Fluss, und es bleibt noch viel zu
tun, sowohl bezüglich der Organisation der Versorgung als auch der Weiterentwicklung der akademischen
Notfallmedizin. Der vorliegende Artikel beschreibt die präklinische Versorgung in Schweden sowie ihre Entwicklung von einer primär logistischen Organisation zu einem System
der fortschrittlichen Gesundheitsversorgung und den Aufgaben der Ärzte
in diesen Systemen.
Notrufzentralen in Schweden –
112-Anrufe
In Schweden gilt bei Notfällen oder akutem Versorgungsbedarf die Telefonnummer 112. SOS-Alarm AB Schweden, eine
staatliche Organisation, ist landesweit für
die Notrufe zuständig. Der SOS-Alarm
spielt auch beim Katastrophenschutz und
der Resourcenverteilung sowie bei der Kooperation mit der See, Luft- und Bergrettung eine zentrale Rolle, kann aber auch
Polizeieinsätze befehlen. Die Kommunen
sind für die Feuerwehr zuständig, während die Krankenwagen der Kreisverwaltung unterstehen. Beide Notrufsysteme
werden jedoch über SOS-Alarm abgewickelt. Insgesamt gehen in der Notrufzentrale pro Jahr etwa 3 Mio. Notrufe ein, von
denen ein Drittel medizinisch bedingt ist.
»
Die Reaktionszeit auf
einen 112-Anruf darf nicht
mehr als 8 s betragen
Gemäß den nationalen Standards [2] darf
die durchschnittliche Reaktionszeit auf
einen 112-Anruf nicht mehr als 8 s betragen. Die Priorisierung von Krankenwageneinsätzen beruht auf den Symptomen, die der Anrufer meldet und ist in
4 Stufen eingeteilt (von akuter Lebensbedrohung bis zu einem Einsatz, bei der
die Aufsicht oder Versorgung durch medizinisches Personal während des Transports nicht nötig ist). Bei 80% der Bevölkerung ist der Krankenwagen innerhalb
von 10 min vor Ort; 97% werden innerhalb von 20 min erreicht, wobei die Wartezeit in ländlichen Gebieten deutlich länger
sein kann [3]. Zur Erleichterung der Entscheidungsfindung und Priorisierung setzen die Disponenten in den Notrufzentralen den schwedischen medizinischen Notfallindex ein [4]. Diese Disponenten können Krankenschwestern oder -pfleger bzw.
Schwesternhelferinnen sein oder einen anderen Hintergrund haben. Alle Disponenten absolvieren vor ihrem ersten Einsatz
ein auf sie zugeschnittenes zweimonatiges
Ausbildungsprogramm. Die Rolle der Ärzte in den Notrufzentralen ist unterschiedlich; jeder Landkreis entscheidet selbst, inwieweit ein Arzt anwesend sein sollte. Zurzeit ist nur in einer Notrufzentrale rund um
die Uhr ein Arzt anwesend.
Die Herausforderung wird für die Notrufzentralen künftig darin bestehen, Systeme zu entwickeln, mit denen man Entscheidungen und Prioritäten mit höherer
Sensitivität und Spezifität festlegen kann,
um sowohl einen besseren Schutz des Lebens der Patienten als auch eine bessere
Resourcenverwendung zu gewährleisten.
Es gibt einen kontinuierlichen Trend zu
durchgreifenden organisatorischen Änderungen hin zu einer stärker zentralisierten
Organisation; die genaue künftige Struktur muss aber noch festgelegt werden.
Rettungsdienst in Schweden
Der Rettungsdienst steht unter Aufsicht
des schwedischen nationalen Amts für
Gesundheit und Wohlfahrt [5] und unterhält etwa 700 Rettungsdienstorte [6]. Die
Zahl der Krankenwageneinsätze auf nationaler Ebene ist unbekannt, aber allein in
der Hauptstadt Stockholm mit ihren etwa
2,2 Mio. Einwohnern und 62 Krankenwagen führt der Rettungsdienst pro Jahr etwa 187.000 Einsätze durch. Träger des Rettungsdienstes sind entweder der Landkreis
(d. h. die Gesundheitsbehörden) oder Privatfirmen im Auftrag des Landkreises.
Ursprünglich bestand die Besatzung
der Krankenwagen hauptsächlich aus Rettungssanitätern und Feuerwehrleuten mit
Zusatzausbildung [7]. In jüngerer Zeit hat
sich der schwedische Rettungsdienst von
einer Organisation, die im Wesentlichen
für den Transport Kranker oder Verletzter
ins Krankenhaus zuständig war, zu einer
Einrichtung entwickelt, die neben dem
Transport in Notaufnahmen [7] oder andere Versorgungseinrichtungen die fortschrittliche medizinische Versorgung und
Behandlung der Patienten leisten kann.
Zurzeit gelten in Schweden examinierte
Krankenschwestern oder -pfleger (EK) als
das für den Einsatz im Krankenwagen am
besten geeignete Personal. Die Arbeit von
Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 | 107
Zusammenfassung · Abstract
EK im Rettungsdienst begann im Jahr 2005
aufgrund einer Verordnung des schwedischen nationalen Amts für Gesundheit und
Wohlfahrt [7]. In ihr wurde festgelegt, dass
jeder Krankenwagen mit mindestens einer/
einem EK besetzt sein muss [8]. Gemäß
der Verordnung darf sie/er Medikamente verabreichen; ohne EK darf in Krankenwagen kein Medikament an akut erkrankte oder verletzte Patienten verabreicht werden [5, 7]. Dies war ein Wendepunkt in der
Entwicklung der fortgeschrittenen Versorgung im präklinischen Bereich. Der Trend
geht dahin, in Zukunft eine spezialisierte Krankenschwester bzw. einen spezialisierten Pfleger an Bord des Krankenwagens vorzuschreiben, die/der eine einjährige Zusatzausbildung in Notfallversorgung
absolviert hat (präklinische Notfallkrankenschwester/präklinischer Notfallkrankenpfleger). Die Zusatzausbildung findet
an der Universität statt und umfasst auch
die Anfertigung einer Masterarbeit [9].
Notfall Rettungsmed 2015 · 18:107–109 DOI 10.1007/DOI 10.1007/s10049-015-1989-1
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
Die EK haben innerhalb des
Rettungsdienstes die höchste
medizinische Kompetenz
Prehospital care in Sweden. From a transport organization
to advanced healthcare
»
Die EK oder spezialisierten EK verfügen
innerhalb des Rettungsdienstes über die
höchste medizinische Kompetenz. Trotzdem stehen sie nicht allein. In der Regel
arbeitet ein Rettungssanitäter im Krankenwagen mit der/dem EK zusammen. Auch
Ärzte sind im Rettungsdienst tätig, jedoch
zumeist als medizinische Berater oder in
Spezialeinheiten wie z. B. auf Rettungshubschraubern. In einigen Bezirken fahren Ärzte auch in Krankenwagen mit besonders schneller Reaktionszeit mit, z. B.
in Stockholm von 7 Uhr morgens bis 9 Uhr
abends. Diese Fahrzeuge kommen zum
Einsatz, wenn davon auszugehen ist, dass
die Anwesenheit eines Arztes im Krankenwagen zusätzlich zu EK oder spezialisierten
EK in der Notfallreaktion einen Mehrwert
bringt, z. B. bei Kindern, Patienten mit Beeinträchtigung der Atemwege oder großen
Traumata. Bisher handelt es sich meist um
Anästhesisten; aber dies kann sich im Zuge der Entwicklung der Notfallmedizin ändern, wenn Notfallmediziner ihre Ausbildung im präklinischen Rahmen absolvieren und die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die man für die Tätig-
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V. Lindström · K. Bohm · L. Kurland
Präklinische Versorgung in Schweden. Von einer Transportorganisation zur fortschrittlichen Gesundheitsversorgung
Zusammenfassung
Hintergrund. Die präklinische Versorgung, die
mit dem Erstkontakt des Patienten mit der Leitstelle des Rettungsdienstes beginnt und auch
die medizinische Versorgung im Krankenwagen umfasst, ist Teil des Kontinuums medizinischer Versorgung, das als Notfallmedizin bezeichnet wird. In Schweden besteht ein Netz
von Leitstellen, die alle über eine Telefonnummer erreichbar und – neben anderem Personal
– mit vielen Krankenpflegern besetzt sind.
Ziel. Die vorliegende Übersichtsarbeit enthält eine zusammenfassende Darstellung des
derzeit in Schweden bestehenden präklinischen Versorgungssystems, der Rolle des Arztes und zukünftiger Herausforderungen in
diesem sich ständig weiterentwickelnden
und bedeutenden Bereich.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen. Seit
2005 ist die Anwesenheit von examinierten
Abstract
Background. Prehospital care, starting from
the patient’s first contact with the emergency medical call centre and including medical care provided in the ambulance, is part
of the continuum of care defined as emergency medicine (EM). Sweden has a network
of emergency medical call centres that are
all reached by one telephone number and
manned by nurses, among other personnel.
Objective. This review presents a summary of the prehospital care systems currently
in place in Sweden, the role of the physician
and the future challenges in this evolving and
important field.
Results and conclusions. Since 2005, the
presence of registered nurses in ambulance
teams has become a requirement due to their
ability to administer drugs. This proved to be a
keit in diesem Bereich braucht. Grund dafür, dass Ärzte in der Regel nicht in Krankenwagen tätig sind, ist vielleicht auch die
Tatsache, dass es für EK eine klare nationale Vorschrift bezüglich ihres Einsatzes im
Krankenwagen gibt, während dies für andere Berufe wie Ärzte oder Rettungssanitäter nicht der Fall ist [5].
Wie auch in anderen Teilen der Welt
sind die Notaufnahmen in Schweden derzeit überfüllt. Das führt dazu, dass die
schwedischen Rettungsdienste bestrebt
Krankenpflegern eine Voraussetzung bei der
Besetzung von Krankenwagen, weil sie Medikamente applizieren können. Das hat sich als
Wendepunkt in der Entstehung hochentwickelter präklinischer Versorgung in Schweden
herausgestellt. Wegen der Überfüllung der
Notaufnahmen versucht der Rettungsdienst
die Patienten vom Krankenwagen aus direkt
an die maßgebliche medizinische Versorgung
weiterzuleiten. Auch wenn es heute nur eine
begrenzte Zahl von Ärzten in der präklinischen Versorgung gibt, sollte sich dies mit zunehmender Bedeutung des Fachgebiets der
Notfallmedizin ändern.
Schlüsselwörter
Notfallmedizin · Präklinische Versorgung ·
Notrufzentrale · Krankenschwestern und
-pfleger · Notärzte
turning point in the development of advanced
care in the prehospital setting in Sweden. Due
to overcrowding in emergency departments,
the ambulance services work to steer patients
from the ambulance directly to definitive care.
Although there are limited numbers of physicians in the prehospital setting today, this
should change as the specialty of EM grows
stronger. The translated german full-text version of this article is available at SpringerLink
(under supplemental
dx.doi.org/10.1007/s10049-015-1989-1).
Keywords
Emergency medicine · Prehospital care ·
Nurse · Emergency medical call centre ·
Emergency physicians
sind, die Patienten unter Umgehung der
Notaufnahmen direkt in die entsprechende Fachabteilung zu bringen oder den
Durchgang durch die Notaufnahmen zu
beschleunigen. Aktuelle Beispiele sind gerontologische Patienten, die in alternative
Betreuungseinrichtungen gebracht werden
[8], Patienten mit ST-Hebungsinfarkt, die
direkt einer koronaren Intervention zugeführt werden [11] oder auch Patienten mit
Verdacht auf Hüftfraktur, die direkt in die
Radiologie transportiert werden [12].
Fazit für die Praxis
Medizinische
Forschung
x
Bildungseffizienz
x
Lokale
Organisation
=
Überleben
Abb. 1 8 Die Überlebenskette. (Nach der Utstein-Überlebensformel [17])
Eine zukünftige Herausforderung für
die präklinische Versorgung in Schweden ist der ständig steigende Bedarf an
Rettungsdiensten. Er ist z. T. dadurch bedingt, dass Patienten mit weniger ernsten
Beschwerden den Rettungsdienst in Anspruch nehmen. Diese Patientengruppe
muss jedoch noch weiter erforscht werden.
Auch werden verbesserte Entscheidungshilfen für die EK benötigt, um mehr Patienten einer optimalen Versorgung zuzuführen, was unter anderem bedeuten kann,
ihnen eine Weiterbehandlung zu Hause zu
empfehlen. Um dies zu erreichen, ist im
Bereich der präklinischen Versorgung ein
höheres Niveau an akademischer und medizinischer Kompetenz erforderlich.
Notaufnahme als
natürliche Fortsetzung der
präklinischen Versorgung
Die Entwicklung des Fachgebiets Notfallmedizin konzentrierte sich bisher auf die
Entwicklung der Notaufnahmestationen sowohl organisatorisch als auch insbesondere
in Bezug auf die Erarbeitung von Ausbildungsprogrammen für Notärzte. Speziell
ausgebildete Krankenschwestern oder -pfleger sind ebenso wichtig, und auch hierfür
werden Ausbildungsprogramme entwickelt.
Wie bereits oben beschrieben stellt die Notfallmedizin ein Kontinuum vom ersten Patientenkontakt zu den Rettungsdiensten bis
zur Versorgung im Krankenhaus dar. Es ist
wichtig, dass Notärzte die präklinische Situation, die Möglichkeiten vor Ort und deren
inhärente Grenzen kennen, obwohl ihr
Hauptarbeitsplatz die Notaufnahme eines
Krankenhauses ist. Zurzeit gibt es zwar nur
eine begrenzte Anzahl von Ärzten im präklinischen Bereich, aber das dürfte sich in
dem Maße ändern, in dem die Notfallmedizin als Fachgebiet an Bedeutung gewinnt.
Es gibt ein großes Potenzial für die Weiterentwicklung der Notfallversorgung. Gemeinsame Systeme der Patientenverwaltung, die auch als Entscheidungshilfe fungieren und entlang der gesamten Versorgungskette von der Notrufzentrale bis zum
Krankenhaus gemeinsam genutzt werden,
sind nötig und machbar. Die Verlagerung
der klinischen Versorgung von der Notaufnahme in den Krankenwagen, z.B. zur
Behandlung von schweren Infektionen,
steht ebenso unmittelbar bevor. Wenn in
Leitlinien von einer Frühintervention bei
schwerwiegender Sepsis die Rede ist [13],
sollten wir dadurch reagieren, dass wir den
„Zeitpunkt Null“ bis zur Behandlung von
der Ankunftszeit in der Notaufnahme zur
Ankunftszeit im Krankenwagen vorverlegen. Zwar haben zeitkritische Beschwerden
die Entwicklung der Notfallmedizin vorangetrieben, aber beim Verständnis symptombasierter Krankheitsbilder bleibt noch
viel zu tun. So wissen wir z. B., dass unspezifische Krankheitsbilder eine verkannte
Risikogruppe darstellen [14, 15] und dass
Vitalzeichen, die aktuell die Grundlage der
Priorisierung sind [16], als Risikokriterien
unzureichend sind. Daher müssen wir Systeme entwickeln, die die Ärzte dabei unterstützen, die Patienten, bei denen das Risiko
eines negativen Verlaufs besteht, zu identifizieren und zu behandeln. Die fundamentale Triebfeder in der Entwicklung der Notfallmedizin einschließlich der präklinischen
Versorgung ist die Notwendigkeit einer Synergie aus hochwertiger medizinischer Forschung, effizienter Ausbildung und lokaler
Implementierung wissenschaftlicher Ergebnisse, um das Behandlungsergebnis zu
verbessern (. Abb. 1). Dies muss über die
gesamte Versorgungskette hinweg durchgesetzt werden.
FDie Notfallmedizin stellt ein Kontinuum vom ersten Patientenkontakt zu
den Rettungsdiensten bis zur Versorgung im Krankenhaus dar.
FEs ist wichtig, dass Notärzte die präklinische Situation, die Möglichkeiten
vor Ort und deren inhärente Grenzen
kennen, obwohl ihr Hauptarbeitsplatz
die Notaufnahme eines Krankenhauses ist.
Korrespondenzadresse
L. Kurland MD PhD
Department of Clinical Science and Education,
Karolinska Institutet, Södersjukhuset
Sjukhusbacken 10, 118 83 Stockolm
Schweden
[email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. K. Bohm erhält eine nicht zweckgebundene Zuwendung von der SOS AB. V. Linström
und L. Kurland haben keinen Interessenskonflikt.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen
oder Tieren.
Literatur
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Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015 | 109
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110 | Notfall + Rettungsmedizin 2 · 2015
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