DER WEITE WEG ZU INTEGRATION ALS CHANCENGLEICHER TEILHABE der Staat in Bezug darauf nicht neutral sein (Langenfeld 2013b). Das BVerfG hat in einer Entscheidung über den Wunsch bibeltreuer Christen, ihre Kinder von der Schule fernzuhalten, die Schulpflicht durchgesetzt und zu ihrer Begründung deutliche Worte gefunden: „Denn soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichsten Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind“ (BVerfG, Beschluss v. 29.04.2003 – BvR 436/03, Rn. 7).186 Auch das BVerwG hat mit mehreren richtungweisenden Urteilen dazu beigetragen, Normenkollisionen im Schulbereich zu klären: Es entschied z. B., dass einem Schüler, der der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört, zugemutet werden könne, an einer Vorführung des Films „Krabat“ (nach einem Roman von Otfried Preußler) teilzunehmen (BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 – 6 C 12.12).187 Einem unzumutbaren Gewissenskonflikt würden Schüler wie Eltern dadurch nicht ausgesetzt. In Fällen, die medial und öffentlich stärker diskutiert werden, geht es meist darum, dass muslimische Eltern ihre Töchter aus religiösen Gründen vom gemischtgeschlechtlichen Sport- bzw. Schwimmunterricht befreien lassen wollen und sich dabei auf die Bekleidungsvorschriften des Korans, die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern berufen.188 In dieser Frage hat sich die Rechtsprechung insofern verändert, als die Anforderungen dafür, dass ein Gewissenskonflikt vorliegt, strenger geworden sind.189 1993 hatte das BVerwG noch entschieden, dass eine 12-jährige Muslima Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht hat, wenn sie die Bekleidungsvorschriften des Korans als verbindlich ansieht und dies zu einem „Gewissenskonflikt“ führt (BVerwG, Urteil v. 25.08.1993 – 6 C 08.91; BVerwGE 94, 82). Zwei Jahrzehnte später bewertete das Gericht die Sache zumindest teilweise neu: Im September 2013 entschied es, dass einer 11-jährigen muslimischen Schülerin zuzumuten sei, im Burkini – einem Ganzkörperschwimmanzug – am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen (BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 – 6 C 25.12). Es begründete diese Entscheidung u. a. damit, dass das „Grundrecht der Glaubensfreiheit […] grundsätzlich keinen Anspruch darauf [vermittelt], im Rahmen der Schule nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter […] konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet sind“.190 In der o. g. Entscheidung zum koedukativen Sportunterricht aus dem Jahr 1993 hatte sich das Gericht, als es dem Befreiungsanspruch stattgab, u. a. noch auf dieses Argument berufen, das die Klägerinnen zur Begründung ihres Gewissenskonflikts vorgetragen hatten. Das Urteil vom September 2013 ist nicht eindeutig positiv oder negativ zu bewerten: Grundsätzlich ist es richtig, dass das Gericht sich dagegen entschieden hat, die Schule als eine Art ‚Biotop‘ zu definieren, in dem Kinder von den ‚Zumutungen des Alltags‘ (und hier konkret: vom Anblick gleichaltriger Schüler in Badebekleidung) verschont bleiben sollen. Davon unberührt bleibt aber die Frage, mit welchen pädagogischen Mitteln und Begründungen Schulen in dieser Frage vorgehen können.191 Religionsfreiheit vs. staatlicher Erziehungsauftrag (Schulfrieden) Ebenfalls als Normenkonflikt zu sehen ist die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen einem muslimischen Schüler und dem Land Berlin. Anders als in den Medien vielfach behauptet, ging es dabei nicht primär um die Frage, ob der Kläger das Recht hat, in der Schule (während der Unterrichtspausen) das rituelle islamische Gebet zu vollziehen, sondern darum, ob die Schule einzelnen Schülern für den Vollzug ihrer religiösen Gebote eine Infrastruktur bereitstellen muss. Das zuerst angerufene Verwaltungsgericht hatte der Klage des Schülers zunächst stattgegeben und 186 In einem anderen Fall lehnte das BVerfG 2009 die Verfassungsbeschwerde von Eltern baptistisch-protestantischen Glaubens ab, die ihre Kinder an diversen Schulveranstaltungen (Theaterveranstaltung gegen sexuellen Missbrauch, Karnevalsveranstaltung) nicht hatten teilnehmen lassen, weil diese ihrer Meinung nach mit ihrem Glauben nicht vereinbar waren. Auch der EGMR, den die Eltern später anriefen, erklärte die Beschwerde 2011 für unzulässig (EGMR, Entscheidung v. 13.09.2011, Dojan and others vs. Germany). 187 Der Sohn der Kläger besuchte damals die 7. Klasse des Gymnasiums. Das Gericht hielt fest: „Das von den Klägern geltend gemachte religiöse Tabuisierungsgebot läuft der schulischen Aufgabe, die nachwachsende Generation vorbehaltlos und möglichst umfassend mit Wissensständen der Gemeinschaft und ihrem geistig-kulturellen Erbe vertraut zu machen, in ihrem Kern zuwider.“ 188 Dies ist allerdings kein Massenphänomen, wie man angesichts der wiederkehrenden und prominenten medialen Berichterstattung vermuten könnte. Haug, Müssig und Stichs (2009: 181–189) zeigen anhand der Daten der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ für den Schwimmunterricht und für Klassenfahrten, dass „ein Anteil von 7 Prozent bzw. 10 Prozent muslimischer Mädchen diesen Angeboten fernbleibt“. 189 Das Gericht liegt damit auf einer Linie mit dem Schweizerischen Bundesgericht. 190 Diese Neubewertung könnte Rohe (2011: 343f.) zufolge damit zusammenhängen, dass sich heute „die Erkenntnis durchgesetzt [hat], dass Menschen mit Migrationshintergrund – zunehmend auch als Deutsche – auf Dauer hier leben werden. Ihre Lebensverhältnisse sind deshalb elementarer Bestandteil der Gesamtgesellschaft, sodass die Abwägung zwischen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben wie dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und der Religionsfreiheit neu ausfallen kann.“ 191 Im Rahmen der zweiten Deutschen Islam Konferenz wurden dazu Handreichungen für die Praxis für Schulen entwickelt. Darin wird befürwortet, dass Kinder sich ab Eintritt der Pubertät vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht befreien lassen können, sofern ein Gewissenskonflikt objektiv nachvollziehbar ist; für jüngere Kinder wird ein Befreiungsanspruch dagegen abgelehnt. 130 Jahresgutachten 2014