Im Blickpunkt Quantentheorie der Materiewellenbeugung Um neue Interferenzexperimente mit Atomen und Molekülen zu verstehen, reicht Optik allein nicht aus Robert E. Grisenti, Gerhard C. Hegerfeldt, Thorsten Köhler und Jan Peter Toennies Durch die Fortschritte der Mikrotechnologie ist es in den letzten Jahren gelungen, Lehrbuchexperimente der Optik auf Atom- und Molekülstrahlen zu übertragen. Die optisch-wellentheoretische Beschreibung von Beugungsexperimenten am Doppelspalt und am Gitter stimmt qualitativ gut mit den Erwartungen überein. Aber aus kleinen Abweichungen davon lassen sich durch präzise Messungen und raffinierte theoretische Methoden neue überraschende Erkenntnisse über Teilchengrößen und ihre Wechselwirkung mit Oberflächen gewinnen. D er Wellencharakter von Teilchen und damit verbundene Interferenzerscheinungen stehen am Anfang vieler Lehrbücher und Vorlesungen über Quantenmechanik. Dies wird häufig am Beispiel des Doppelspaltexperiments diskutiert. Bei einer klassischen Welle sieht man hinter dem Doppelspalt aufgrund von Interferenz eine Intensität mit charakteristischer Richtungsmodulation. In einer vereinfachten quantenmechanischen Beschreibung ordnet man einem Teilchen eine deBroglie-Wellenlänge l = h/p zu, wobei p der Teilchenimpuls ist. Wie in der klassischen Wellenoptik sind danach bei der Gitterbeugung die verschiedenen Beugungsordnungen durch eine Gitterfunktion mit schmalen Maxima bei den Winkeln sinun = nl/d (n = 0, 1, 2,...) gegeben. Eine einhüllende Spaltfunktion bestimmt die jeweilige Intensität durch die Beziehung In ∝ sin 2 ( nps0 d ) ( nps0 d )2 , (1) wobei s0 die Spaltbreite und d die Gitterperiode ist (Abb. 1). Interessanterweise ist für Atome das doch so einfache und grundlegende Doppelspaltexperiment lange Zeit graue Theorie geblieben, denn wegen ihrer kleinen de-Broglie-Wellenlängen von nur etwa 1 Å benötigt man sehr kleine Spaltbreiten und -abstände, um auflösbare Beugungswinkel zu erreichen. Erst die Fortschritte der Mikrotechnologie haben die ersten Beugungsexperimente ermöglicht, so mit den leicht nachzuweisenden Natriumatomen und angeregten metastabilen Heliumatomen an einem Gitter [1] bzw. Doppelspalt [2]. Danach wurde in Göttingen die Beugung von den schwierig nachzuweisenden Heliumatomen im Grundzustand und Helium-Clustern an Gittern beobachtet [3], bis hin zu 4 He26 in der Dissertation von Wieland Schöllkopf, der wesentlich an den hiesigen Untersuchungen beteiligt war. Vor kurzem gelangen in Wien Interferenzexperimente mit den noch massiveren Fullerenen C 60 und C70 [4]. In Experimenten mit Atom- und Molekülstrahlen baut sich das Beugungsbild langsam auf. Ein einzelnes Teilchen ergibt kein Beugungsoder Interferenzbild, sondern nur einen einzigen Punkt. Erst die Vielzahl solcher Punkte summiert sich zu einem Beugungsbild. Dies ist eine wunderbare direkte Bestätigung der statistischen Interpretation der Quantenmechanik von Max Born, für die er 1954 den Nobelpreis erhielt, und dies zeigt deutlich, dass die Welleneigenschaft nicht einem einzelnen Teilchen, sondern dem gesamten Teilchenstrahl zukommt. Die in Göttingen benutzte Apparatur ist in Abb. 2 schematisch dargestellt. Dabei werden die Teilchenstrahlen von einem hohen Druck (10 – 100 bar) durch eine winzige Düse (5 mm Durchmesser) in das Vakuum expandiert. Bei der adiabatischen Abkühlung bildet sich ein Teilchenstrahl sehr niedriger Temperatur, im Fall von Helium typischerweise 1 K bis 10 –3 K. Der Teilchenstrahl wird durch enge Spalte kollimiert und an einem SiliziumNitrit-Gitter mit einer Periode von d = 100 nm gebeugt. In einem vom Gitter um 50 cm entfernten Massenspektrometer-Detektor werden die Teilchen schließlich nachgewiesen. Die verwendeten hochpräzisen Gitter wurden mit einem laserinterferometrischen Verfahren von Tim Savas in der Gruppe von Hank Smith am MIT hergestellt, die auch die elektronenmikroskopischen Auf- nahmen in Abb. 3 zur Verfügung gestellt haben. Man erkennt deutlich das trapezförmige Stegprofil. Die genaue Form konnte durch HeliumTransmissionmessungen bestimmt werden [5]. Bei Helium-Atomstrahlen sind aufgrund des großen Auflösungsvermögens du = 60 mrad, der hohen Monochromasie (Impulsschärfe) Abb. 1: Optische GitterBeugungsbilder für zwei verschiedene Verhältnisse von Spaltbreite s 0 zu Gitterperiode d, berechnet nach der Kirchhoffschen Theorie. Man sieht, dass die relativen Intensitäten empfindlich vom Verhältnis von s 0 zu d abhängen. Abb. 2: Aus der Düse links tritt ein Atomstrahl, der durch enge Spalte kollimiert und am Gitter rechts gebeugt wird. Mit dem drehbaren Massenspektrometer werden die unter dem Winkel u gebeugten Teilchen nachgewiesen. von 1% [6] und der hohen Uniformität des Gitters Messungen über vier Größenordnungen in der Intensität und bis zur 22. Ordnung möglich (Abb. 4). In Abb. 5 sieht man links von der ersten He-Beugungsordnung weitere Beugungsmaxima. Diese lieferten den ersten eindeutigen Nachweis des exotischen Helium-Moleküls 4He2 und höherer Cluster [3]. Im Atomstrahl können sich nämlich, je nach Düseneinstellung, Helium-Cluster bePhysikalische Blätter 56 (2000) Nr. 11 0031-9279/00/1111-53 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 2000 Dr. Robert E. Grisenti, Dr. Thorsten Köhler, Prof. Dr. Jan Peter Toennies, MaxPlanck-Institut für Strömungsforschung, Bunsenstraße 10, 37073 Göttingen; Prof. Dr. Gerhard C. Hegerfeldt, Institut für Theoretische Physik, Bunsenstraße 9, 37073 Göttingen 53 Im Blickpunkt Abb. 3: Elektronenmikroskopische Aufnahme von links: Gitter und rechts: Gitterstäben. Man beachte deren Trapezform, die für die Auswertung wichtig ist. Das Substrat unterhalb der Gitterstäbe wird anschließend weggeätzt. finden, die sich alle mit der gleichen Geschwindigkeit v bewegen. Deshalb sind ihre Beugungswinkel umgekehrt proportional zu ihrer Masse, und dadurch wird das Lehrbuchexperiment zu einem „Quanten-Massenspektrometer“. Alles nur Optik? Es könnte so aussehen, als benötige man zum Verständnis der Materiebeugung nur ein gutes Optiklehrbuch. Aber die gebeugten Teilchen besitzen neben ihrem Impuls auch eine innere Struktur und räumliche Ausdehnung. Dadurch sollten Abweichungen von der einfachen optischen Beugungstheorie zu erwarten sein [7]. Sind diese eventuellen Abweichungen nur unerwünschte „Dreckeffekte“, oder enthalten sie vielleicht Überraschungen mit wertvollen Informationen? Eine solche Überraschung ergab sich, als Beugungsmuster für 54 andere Edelgasatome aufgenommen wurden. Nach der einfachen Wellentheorie sollten diese die gleiche Struktur wie die von Helium aufweisen. Es zeigten sich aber Unterschiede in den relativen Intensitäten verschiedener Beugungsordnungen. Ein ähnliches Verhalten wurde auch für Moleküle wie D 2, CH3F und CF 3H beobachtet. Es trat sofort der Verdacht auf, dass dies mit einer van-der-Waals-Wechselwirkung der Teilchen mit der Gitteroberfläche zusammenhängen könnte. Sollte es dann nicht möglich sein, aus diesen Abweichungen von der klassischen Wellenoptik Informationen über das Teilchen-Oberflächen-Potential zu gewinnen? Quantentheorie der Materiebeugung Dazu muss man sich zunächst klarmachen, dass Materiebeugung am Gitter kein rein klassisches Wel- lenphänomen, sondern ein quantenmechanisches Streuproblem ist. Denn die Beugung passiert nicht im Spalt, sondern durch quantenmechanische Streuung der Teilchen an den Spalträndern, d. h. an der Oberfläche der einzelnen Gitterstege. Dabei ist neben der abstoßenden, reflektierenden Teilchen-Oberflächen-Wechselwirkung auch ein anziehender Anteil zu berücksichtigen [7]. Um aus den experimentellen Daten quantitative Aussagen zu gewinnen, muss man deshalb zuerst eine quantenmechanische Theorie der Gitterbeugung entwickeln. Ausgehend von der Schrödinger-Gleichung kann man für die Streuung eines Atoms oder ausgedehnten Moleküls an den Gitterstegen mit zusätzlicher anziehender Wechselwirkung statt Gl. (1) den allgemeinen Ausdruck I n ∝ e −( 2pns / d ) 2 LM sin a + sinh b OP (2) MN a + b PQ 2 2 2 2 mit a = npseff/d und b = npd/d herleiten, wobei seff eine „effektive“ Spaltbreite bezeichnet, die kleiner als s0 ist und die ebenso wie der kontrastmindernde Term d von der Teilchen-Gitter-Wechselwirkung, der räumlichen Ausdehnung der Teilchen und deren Geschwindigkeit v abhängt. Der Exponentialterm berücksichtigt u. a., dass die Zahl der Moleküle in den einzelnen Beugungsordnungen durch Zerbrechen an den Stegrändern abnehmen kann und dass kleine Schwankungen in den Stegbreiten auftreten können. Er hat eine ähnliche Form wie der Debye-Waller- Abb. 4: Abb. 5: Gemessenes Beugungsbild eines Helium-Atomstrahls an einem Gitter mit Periode d = 100 nm. Die Messung erstreckt sich über vier Größenordnungen in der Intensität und bis zur 22. Ordnung. Gemessenes Beugungsbild eines Helium-Atomstrahls, der auch Helium-Dimere ( 4He 2), Trimere ( 4He 3) und Tetramere ( 4He 4) enthält. Die Maxima bei 0, 4,5, 9,0 und 13,5 mrad gehören zu Helium-Atomen. Die Dimer-Maxima sind bis zur Ordnung n = 7 gekennzeichnet. Die anderen kleineren Maxima gehören zu verschiedenen Beugungsordnungen der Trimere, und das kleinere Maximum bei 1 mrad ist die 1. Ordnung der Tetramere. Physikalische Blätter 56 (2000) Nr. 11 Im Blickpunkt Faktor bei der Streuung von Neutronen- bzw. Röntgenstrahlen an Kristallen. Randeffekte Die schwache atomare elektrische Dipol-Dipol-Wechselwirkung führt dazu, dass ein Atom beim Flug durch einen Spalt zusätzlich durch ein anziehendes Potential V = –C3/l3 abgelenkt wird, wobei l der Abstand von der Oberfläche eines Gittersteges ist und der C3-Parameter von der Teilchensorte abhängt. Wenn seff für verschiedene Teilchengeschwindigkeiten bekannt ist, so kann man mit Hilfe aufwändiger quantenmechanischer Überlegungen nicht nur C3 bestimmen, sondern auch das l–3-Verhalten verifizieren. Deshalb wurde aus experimentell gewonnenen Beugungsbildern mit variabler Strahlgeschwindigkeit seff(v) bestimmt und mit theoretischen Kurven für seff(v) verglichen (Abb. 6). Daraus ergab sich C3, das mit anderen Methoden nur schwer bestimmbar ist [8]. Die Methode ist so empfindlich, dass auch die geometrische Trapezform der Gitterstege berücksichtigt werden muss. Teilchengröße Auch durch die räumliche Ausdehnung der Teilchen sollte das Beugungsbild beeinflusst werden, und umgekehrt sollte es möglich sein, aus den Beugungsbildern Rückschlüsse auf die Größe zu ziehen [7]. Diese Frage ist besonders interessant für das Helium-Dimer 4 He2, weil es nach theoretischen Vorhersagen eine extrem geringe Bindungsenergie besitzt, die mit 1 mK (10 –7 eV) hundert Millionen Mal kleiner ist als die des Elektrons im Wasserstoffatom. Dies lässt einen mittleren Kernabstand ≤r≥ (Bindungslänge) von etwa 50 Å erwarten, über fünfzig mal mehr als beim Wasserstoffmolekül, sodass das Helium-Dimer das größte aller natürlich vorkommenden zweiatomigen Grundzustandsmoleküle wäre. Wegen seiner geringen Bindungsenergie ist es außerordentlich zerbrechlich und deshalb schwer zu untersuchen. Hier bietet die Gitterbeugung mit kleinen Beugungswinkeln von wenigen mrad einen großen Vorteil. Die schwache Ablenkung der Streuteilchen am Gitter ermöglicht die nahezu zerstörungsfreie Untersuchung äußerst zerbrechlicher Systeme wie des Helium-Dimers, dessen kinetische Ener- gie im Strahl mehr als zehntausend mal höher als die Bindungsenergie ist. Eine solche Größenbestimmung wurde kürzlich in Göttingen durchgeführt [9]. Um genügend viele Dimere im Strahl zu bekommen, wurde die Strahlquelle auf tiefe Temperaturen von 6 – 12 K abgesenkt. Durch Anpassung der experimentel- Abb. 6: Effektive Spaltbreiten für Helium- und Neon-Atome sowie Helium-Dimere (Daten kombiniert aus [8] und [9] ), aufgetragen gegen die Strahlgeschwindigkeit. Ohne seine Ausdehnung würde man für das Dimer die gleiche Wechselwirkung mit der Gitteroberfläche wie für zwei Helium-Atome erwarten. Die geringere effektive Spaltbreite des Dimers ist daher auf seine Größe zurückzuführen. Der Abstand zwischen den Kurven für He und 4 He 2 ist, anschaulich ausgedrückt, wegen der verschiedenen Orientierungsmöglichkeiten in erster Näherung nicht der mittlere Kernabstand im Dimer, sondern nur ungefähr der halbe. len Dimer-Beugungsintensitäten bis zur 7. Ordnung an Gl. (2) wurde seff(v) bestimmt. Quantenmechanische Mehrkanalstreutheorie lieferte dann einen Zusammenhang zwischen seff(v) und dem mittleren Kernabstand ≤r≥. Aus einer vereinfachten Theorie folgt über den Cluster bis hin zur Charakterisierung der Streueigenschaften des Paarpotentials bei niedrigen Energien. Diese Ergebnisse könnten für die Erklärung bemerkenswerter Vielteilchen-Eigenschaften des Heliums wie etwa Suprafluidität von grundsätzlicher Bedeutung sein. Die Größenbestimmung kann auch auf andere Moleküle übertragen werden. In naher Zukunft soll dies für das interessante HeliumTrimer geschehen. Die Methode der Gitterbeugung eignet sich auch für größere Cluster, und die Kinetik der Clusterbildung soll damit ebenfalls untersucht werden. Wie an den obigen Beispielen gezeigt, enthalten die Beugungsbilder von Atomen und Molekülen an Nanostrukturen vielfältige Informationen, die über reine Lehrbuchexperimente weit hinaus gehen. Eine Kombination von innovativen experimentellen Techniken und subtilen quantenmechanischen Überlegungen können zu neuartigen Messverfahren führen und unerwartete physikalische Einsichten liefern. Literatur [1] D. W. Keith, M. L. Schattenburg, H. I. Smith, D. E. Pritchard, Phys. Rev. Lett. 61, 1580 (1988) [2] O. Carnal, J. Mlynek, Phys. Bl., Mai 1991, S. 379 [3] W. Schöllkopf, J. P. Toennies, Science 266, 1345 (1994) [4] M. Arndt, A. Zeilinger, Phys. Bl., März 2000, S. 71 [5] R. E. Grisenti, W. Schöllkopf, J. P. Toennies, J. R. Manson, T. A. Savas, H. I. Smith, Phys. Rev. A 61, 033608 (2000) [6] J. P. Toennies, K. Winkelmann, J. Chem. Phys. 66, 3965 (1977) [7] G. C. Hegerfeldt, T. Köhler, Phys. Rev. A 57, 2021 (1998); Phys. Rev. A 61, 023606 (2000) [8] R. E. Grisenti, W. Schöllkopf, J. P. Toennies, G. C. Hegerfeldt, T. Köhler, Phys. Rev. Lett. 83, 1755 (1999) [9] R. E. Grisenti, W. Schöllkopf, J. P. Toennies, G. C. Hegerfeldt, T. Köhler, M. Stoll, Phys. Rev. Lett. 85, 2284 (2000) 4 He 〈 r 〉 / 2 = seff ( v) − seffHe 2 ( v) [7], und mit den Werten aus Abb. 6 ergibt sich ≤r≥/2 ≈ 25 Å. Die genauere Theorie liefert ≤r≥ = 52 ± 4 Å. Die Bindungslänge des Dimers bestimmt auch die Bindungsenergie und s-Wellen-Streulänge des Helium-Paarpotentials, die sich aus dem gefundenen Wert von ≤r≥ zu 1,1 +– 0,3 0,2 mK bzw. 104 –+ 188 Å berechnen. Die Gitterbeugung gestattet demnach auch spektroskopische Aussagen Physikalische Blätter 56 (2000) Nr. 11 55