Globalisierung im Prozeß der Geschichte.

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Globalisierung im Prozeß der Geschichte. Ziele – Probleme – Möglichkeiten von Hamid Reza Yousefi Einleitende Gedanken Die Globalisierung gehört zu den meist diskutierten Themen der Gegen‐
wart. Einige halten sie für eine epochale Wende, die ihren Anfang Mitte des 20. Jahrhunderts genommen hat. Für andere beginnt die Globalisierung wesentlich früher, mit der Entstehung des Islam, der ›Industriellen Revolu‐
tion‹ 1780‐1800 in England, der Auflösung der Sowjetunion, der Gastarbei‐
terbewegung bzw. Migrationswelle in Europa oder der rasanten Entwick‐
lung von Kommunikationssystemen seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Verfolgen wir den Diskurs um die Globalisierung und die inhaltliche Be‐
stimmung der einzelnen, weiter unten erwähnten, Ordnungsbereiche, so stellen wir fest, daß mit diesem Begriff unterschiedliche Bedeutungen, Konnotationen und Ziele, Probleme sowie Möglichkeiten verknüpft sind. Die bestehenden Diskurse lassen sich in zwei Richtungen unterteilen: Die Befürworter der Globalisierung sehen in ihr eine grundsätzliche Chance, alle Nationen des Erdballs an Reichtum und Wohlstand zu beteili‐
gen oder ihnen zu einer Entwicklung in diese Richtung, die durch den Ko‐
lonialismus unterbrochen war, zu verhelfen. Maßnahmen zur Verbesse‐
rung des globalen Umwelt‐ und des Klimaschutzes, zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, zur Demokratisierung, Sicherung von Frieden und des geregelten Handels sollen zur Umsetzung dieser Ziele dienen. Viele Institutionen unterstützen dieses neue Weltprogramm, um eine nachhaltige Entwicklung unvermindert fortzusetzen und Armut wir‐
kungsvoll zu bekämpfen. Hierzu gehören vor allem Währungsfonds, Welt‐
bank und Welthandelorganisation, die überwiegend von den USA und westeuropäischen Ländern, also hauptsächlich von den ehemaligen Kolo‐
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nialstaaten, geführt und kontrolliert werden. Zudem soll der Weltsicher‐
heitsrat für eine ausgewogene Gerechtigkeit und Frieden sorgen. Auch diese Institution ist hauptsächlich von den ehemaligen Kolonialstaaten besetzt und wird von den USA und Westeuropa dominiert. Zudem gibt es einen Weltgerichtshof, der ebenfalls von ihnen initiiert wurde und kontrol‐
liert wird. Kein einziger westlicher Politiker, bzw. Verbrecher ist bislang vor diesem Gericht zur Rechenschaft gezogen worden. Diese Interessen‐
gemeinschaft bezeichnet sich oft als ›Weltgemeinschaft‹ oder ›Internationa‐
le Gemeinschaft‹. Die Gegner der Globalisierung betrachten die Entwicklung seit Mitte des 20. Jahrhunderts als ›Neokolonialismus‹, eine Art Kolonialismus im neuen Gewand. Es werde vorgegeben, im Namen von Humanität, Entwicklungs‐
hilfe, Gerechtigkeit und Demokratisierung sowie Verteidigung und Durch‐
setzung der freien Marktwirtschaft und Menschenrechte Verbesserungen einzuführen, jedoch setzten die USA und westeuropäischen Industrielän‐
der diese Begriffe als ein Herrschaftsinstrumentarium ein, um jede gegneri‐
sche Position zu entwaffnen. Richard Melisch betrachtet die Globalisierung als Endziel Westeuropas und Nordamerikas und betrachtet sie als »Kriegs‐
erklärung [...] an alle Völker der Welt.«1 Die Gegner halten die angegebenen Ziele der Globalisten für einen Vor‐
wand, die nur den reichen Industrieländern Gewinn bringen und sie sind der Auffassung, daß Währungsfonds, Weltbank und Welthandelsorganisa‐
tion ausschließlich als Instrumente der Weltherrschaft dienen. Wer sich dieser Form von Globalisierung widersetzt, wird gezwungen, sich dem bereits entworfenen ›humanistischen Weltprogramm‹ dieser Mächte durch Sanktionen und kriegerische Maßnahmen zu unterwerfen. Daher weisen die Gegner die Globalisierung als eine Form der Amerikanisierung und Europäisierung der Welt zurück. Ich gehe von der Annahme aus, daß es, im Prozeß der Geschichte, lange vor dem Aufkommen des Begriffs ›Globalisierung‹ bereits kulturelle, reli‐
giöse, wissenschaftliche und wirtschaftliche Interdependenzen gab. Grenz‐
überschreitende Transformationen und wechselseitige Durchdringungen sind in allen Bereichen des menschlichen Lebens zu verzeichnen. Mir geht Melisch, Richard: Der letzte Akt. Die Kriegserklärung der Globalisierer an alle Völker der Welt, Tübingen 2007 S. 16. 1
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es darum, unterschiedliche Facetten dieser Begegnungen und ihrer Aus‐
wirkungen, ihrer Entwicklungen und Entfaltungsmöglichkeiten herauszu‐
arbeiten. Dabei umgreift und bestimmt Globalisierung nicht nur die realpo‐
litischen Diskurse im Weltkontext, sondern unsere gesamte Lebenswirk‐
lichkeit. Dazu gehören Ordnungsbereiche wie Kultur, Tradition, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft, Geschichtsverständnis, Selbst‐ und Fremd‐
wahrnehmungen sowie internationale Politik. Dies läßt sich wie folgt vi‐
sualisieren: Kultur
Wissenschaft
Tradition
Religion
Globalisierung
Geschichte
Umwelt
Politik
Wirtschaft
Wir sehen acht offene Ordnungsbereiche, die unterschiedlich gerastert sind. Sie waren und sind nie hermetisch voneinander abgeriegelt, wie im Weltalter des Kolonialismus behauptet wurde. In vielerlei Hinsicht über‐
lappen, widersprechen, ergänzen oder bekämpfen sich die einzelnen Berei‐
che. Im Zentrum steht die Globalisierung als Brennpunkt der einzelnen Begriffe. Struktur der Interkulturalität in Geschichte und Gegenwart Um die Fortsetzungsideologie des Kolonialismus in der Struktur der Glo‐
balisierung zu analysieren, gehe ich von drei Globalisierungsformen im Prozeß der Geschichte aus: 28
1. ›Vor‐koloniales‹ Weltalter der Globalisierung2, 2. ›Koloniales‹ Weltalter der Globalisierung3, 3. ›Post‐koloniales‹ oder ›neo‐koloniales‹ Weltalter der Globalisierung. Mein Beitrag versteht sich als ein Versuch die Entwicklung der Interkultu‐
ralität, die wir heute als Globalisierung bezeichnen, in Geschichte und Ge‐
genwart aufzuzeigen. In der Geschichte fand erstens eine offene Entwick‐
lung kultureller Interdependenzen statt; es folgte zweitens eine radikale Unifizierung der Welt im Kontext des Kolonialismus, drittens das Ende der Einheitlichkeitsbestrebung in Form einer Europäisierung der Welt und viertens folgte der Beginn einer Neubeherrschung der Welt durch die alten Kolonialherren mit Konkurrenten wie Rußland und China, die zunehmend an Macht und Einfluß gewinnen. Das vor‐koloniale Weltalter der Globalisierung Globalisierung im Sinne des vor‐kolonialen Weltalters aufgefaßt, gibt es seit Menschengedenken. Hierzu sind alle Begegnungen zwischen und in‐
nerhalb der unterschiedlichen Kulturregionen im Weltkontext zu zählen, wie frühe Völkerwanderungen auf allen Kontinenten, Krieg und Frieden, Zusammenschlüsse sowie alle Formen von Interdependenzen auf materiel‐
ler und immaterieller Ebene. Die geistigen Wurzeln der Menschheit sind weitverzweigt und verästelt. Von den zahlreichen Kulturbegegnungen sollen folgende drei Typen kurz genannt werden: 1. Begegnungen, die nicht kriegerisch waren, wie etwa der Einzug des indischen Buddhismus in China. Der buddhistische Denk‐ und Le‐
bensweg erlebte mit Konfuzianismus und Taoismus ein relativ span‐
nungsfreies Neben‐ und Miteinander. 2. Begegnungen, die insbesondere zu Beginn nicht friedlich verliefen und in der Aufnahme von Elementen beider aufeinandertreffender Kultur‐
gebiete eine Mischkultur bildeten. Hier ist die Begegnung der zentral‐
Zur Zeit des vor‐kolonialen Weltalters der Globalisierung gab es auch Kolonien, die bei weitem nicht die hegemoniale Nachhaltigkeit des kolonialen Weltalters der Globalisierung erdulden mußten. 3 Kolonialismus umfaßt, grob umrissen, den Zeitraum von 1492 (seit der neuzeitli‐
chen Entdeckung Amerikas) bis nach 1945. 2
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asiatischen arischen mit der vor‐arischen Kultur auf dem indischen Subkontinent im zweiten Jahrtausend v.u.Z. einzuordnen. Zu erwäh‐
nen ist nicht nur der persische Mithraskult, der über Griechenland ins römische Reich wanderte, wo er im 3. Jahrhundert n.u.Z. sogar Staats‐
religion war und von dort aus in die keltisch‐germanischen Regionen getragen wurde, sondern auch das friedliche Zusammenleben und ‐
wirken von Moslems, Juden und Christen im maurischen Spanien zwi‐
schen dem 9. und dem 13. Jahrhundert. 3. Begegnungen, die weniger den Niedergang der einheimischen Kultur und Religion bedeuteten, dessen Volk aber in dem der Eroberer auf‐
ging, wie etwa beim Einzug der arabisch‐islamischen Kultur in die Kultur der Zarathustrier im alten Persien. Diese und ähnliche Kulturbegegnungen markieren die Entstehung wirt‐
schaftlicher und kultureller Umwälzungen. Die Einführung der indisch‐
arabischen Ziffern mit der Null und dem Dezimalsystem, die ihren Weg von Indien über Persien und Arabien nach Europa nahmen, ist ein ge‐
schichtlich wirksames Beispiel hierfür. Auch die chinesische Entdeckung des Schießpulvers, des Papiers, der Druckkunst oder des Kompasses sind zu erwähnen. Von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Menschheit sind Kul‐
turbegegnungen vor etwa 2.500 bis vor 2.000 Jahren, die das Menschheits‐
bewußtsein bis heute unterschiedlich geprägt haben. Sie sind von dem Weltphilosophen Karl Jaspers (1883‐1969) mit dem Wort der ›Achsenzeit‹ zusammengefaßt. Im Gegensatz zu früheren Kulturen ist in der Achsenzeit eine universalistische Mannigfaltigkeit angelegt, deren Gedankengut zum Wandel der Gesellschaften beiträgt. Diese Heterodoxie zeigt sich in den vielfältigen Formationen der sozialen Ordnung. Eine Garantie für die Dy‐
namik der Achsenzeit sind Kulturkontakte politischer, wirtschaftlicher und militärischer Art. Dies führt zu veränderten Beziehungen zwischen und innerhalb der einzelnen Kulturregionen, wodurch die Weltgeschichte der Begegnung von Völkern ihren Anfang nimmt. Ein weiteres Charakteristikum dieses vor‐kolonialen Weltalters ist die Entstehung von Zentren, in denen das Zusammenleben der Menschen zu reflektiertem Denken und kultureller Kreativität führt. Trotz dieser Ge‐
meinsamkeiten weisen die Gesellschaften dieser Zeit untereinander Diffe‐
renzen auf. So entzündet sich eine neue Weltorientierung, die zur Entwick‐
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lung verschiedener Bewußtseinshaltungen führt, die Vorgänge nicht nur durch überlieferte Geschichten erklären wollten, sondern diese durch die Vernunft begreifbar zu machen versuchen. Das koloniale Weltalter der Globalisierung Mit der Entdeckung der beiden amerikanischen Kontinente vollzieht sich ein Kampf um die Aufteilung der Welt unter rivalisierenden europäisch‐
westlichen Mächten, die von unterschiedlichen kolonialen Ideologien aus‐
gehen. Dem britischen Historiker John Morris Roberts (1928‐2003) zufolge sind »Entdeckungsreisen [...] der Beginn einer neuen Ära, einer Ära welt‐
weiter Expansion der Europäer, die zu gegebenen Zeit zu einer totalen [...] Beherrschung des Globus führte.«4 In der Wissenschaft wird darüber spekuliert, welche Gründe hierfür ur‐
sächlich waren. Die Entdeckung zweier Kontinente, auf denen die Konqui‐
stadoren entweder auf völlig unbekannte Hochkulturen oder auf noch nomadisch lebende Stammesverbünde stoßen, läßt in ihnen offenbar ein Gefühl der Überlegenheit entstehen, das durch ein christlich geprägtes Sendungsbewußtsein noch verstärkt wird. Europa betrachtet sich als Zentrum der Welt und ist bestrebt, die Erde nach eigenem Maßstab zu prägen. Die Kolonialherren erzwingen in den Kolonien die Übernahme ihrer eigenen Lebensart theoretisch durch die Etablierung eines ›internen Eurozentrismus‹ und praktisch mit Hilfe von Gewalt. Historische Dokumente zeigen, daß Widerstands‐ und Befreiungs‐
versuche als Rebellion verfolgt und blutig niedergeschlagen werden.5 Diese weltpolitische Realität bedeutet für die eroberten Nationen das En‐
de der autochthonen Gesellschaften, Beginn der Bevormundung, kulturelle Lethargie und nachhaltige Stagnation. Letztere geht mit unterschiedlichen Eurozentrismen einher: Roberts, John Morris: The Triumph of the West. The Origin, Rise and the Legacy of Western, London 1985 S. 175. 5 Eine der letzten Vereitelungen von Parlamentarismus und Demokratie fand Mitte des 19. Jahrhunderts im Iran durch die Briten und das zaristische Rußland statt. Auch Demokratisierungsversuche Mohammad Mossadeghs (1880‐1967) im Iran wurden Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Briten und die USA durch ei‐
nen Putsch niedergeschlagen. Vgl. hierzu Fooladvand, Aziz: Mohammad Mossa‐
degh interkulturell gelesen, Nordhausen 2005. 4
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1. einem kulturellen, der von der Superiorität der eigenen kulturellen Ver‐
faßtheit ausgeht, 2. einem zivilisatorischen, der die eigene Zivilisation als überlegen an‐
sieht, 3. einem religiösen, der durch Missionierung die Welt christianisieren wollte, 4. einem politischen, der die einheimische Politik durch die eigene zu er‐
setzen versucht, 5. einem ökonomischen, der ausschließlich auf die eigene Gewinnmaxi‐
mierung bedacht ist, 6. einem philosophischen, der Europa in das Zentrum der Geistesge‐
schichte stellt, 7. einem wissenschaftlichen, der das Denken als ein ausschließlich euro‐
päisches Attribut institutionalisieren will. In diesem Weltalter ist Essentialisierung und Ontologisierung von Kultu‐
ren, besonders in Hinblick auf die außereuropäischen, eine Selbstverständ‐
lichkeit. Es herrscht eine ›wechselseitige‹ Durchdringung zwischen und innerhalb der ›Kulturen‹ in der Art, daß die kolonisierten Kulturregionen sich zunehmend mit den Augen ihrer Beherrscher betrachten müssen. Ak‐
zeptiert und propagiert sind in diesem Zeitraum nur die eigene Sprache, Kulturauffassung und Religion, was zu einer völligen Abwertung einhei‐
mischer Kulturen und Religionen führt. Das Zusammentreffen zwischen der christlich‐europäischen Kultur und den indianischen Kulturen, insbe‐
sondere auf dem nordamerikanischen Kontinent, führt beinahe zur Ausrot‐
tung der Indianer. Die Betrachtungsweise des Kolumbus‐Chronisten Jakob Wassermann (1873‐1934) legt die Sichtweise der damaligen Zeit offen: »In hochmütiger Selbstbezüglichkeit maßen sie die fremde Welt, das tieffremde Leben an ihren engen Begriffen von Nutzziel und gewohntem Brauch. Konnten sie es dem nicht einfügen, so sahen sie Frechheit und Entartung darin. [...] Ohne Sinn und Interesse für die innere Legitimität einer anders gearteten Da‐
seinsverfassung war ihr einziges Bestreben deren [...] Christianisierung.«6 Die Christianisierung der Völker bei gleichzeitiger Eliminierung ihrer eige‐
Wassermann, Jakob: Christoph Columbus. Der Don Quichote des Ozeans. Ein Porträt, Berlin 1929 S. 132 f. 6
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nen Religionen und eine Verwestlichung der Lebensverhältnisse ist ein weiteres Ziel der Kolonialideologie.7 Mitteleuropa arbeitet nach Jochen Hörisch »ab 1800 verstärkt in allen Be‐
reichen an der Austreibung von Pluralitäten [...]. Wird doch aus den vielen Sinnen der eine Sinn, aus den vielen Geschichten die eine (Welt‐)Ge‐
schichte, aus den vielen Wahrheiten die eine Wahrheit, aus den vielen Gei‐
stern (und Buchstaben) der eine Geist.«8 Der jamaikanische Philosoph Stu‐
art Hall sieht viele gegenwärtige Probleme zwischen den europäischen und außereuropäischen Gesellschaften über die kolonialen Auswirkungen hin‐
aus in der Aufklärung liegen: »Im Diskurs der Aufklärung war der Westen das Modell, der Prototyp und der Maßstab sozialen Fortschritts. Es war westlicher Fortschritt, westliche Zivilisation, Rationalität und Entwicklung, die gefeiert wurden. Und doch war dies alles von den diskursiven Figuren des ›edlen gegenüber dem unedlen Wilden‹ [...] abhängig, die im Diskurs des ›Westens und des Rests‹ formuliert worden waren. So war der Rest entscheidend für die Formierung der westlichen Aufklärung – und demzu‐
folge für die moderne Sozialwissenschaft. Ohne den Rest (oder seine eige‐
nen internen ›Anderen‹) wäre der Westen nicht fähig gewesen, sich selbst als den Höhepunkt der Menschheitsgeschichte zu erkennen und darzustel‐
len. Die Figur des ›Anderen‹ [...] tauchte mitten im Zentrum des Diskurses über die Zivilisation [...] wieder auf. ›Der Andere‹ war die ›dunkle‹, die vergessene, unterdrückte und verleugnete Seite, das Gegenbild der Aufklä‐
rung und der Modernität.«9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770‐1831) formuliert das zentrale An‐
liegen der kolonialen Ideologie: »Mit dem Eintritt des christlichen Prinzips Gustav Mensching (1901‐1978) schreibt hierzu in 1950er Jahren: »Der Kolonia‐
lismus geht in unseren Tagen zu Ende. Die frei gewordenen Völker, denen das Christentum zumeist durch die Kolonialmächte bekannt gemacht wurde, setzen sich jetzt erstmalig in Freiheit mit dem Christentum auseinander.« Mensching, Gustav: Weltreligion, Weltkultur und Weltzivilisation (1967), in: Aufsätze und Vor‐
träge zur Toleranz‐ und Wahrheitskonzeption (Bausteine zur Mensching‐
Forschung, Bd. 2), 2. Aufl., 22002 (325‐347) S. 325. 8 Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frank‐
furt/Main 1988 S. 67. 9 Hall, Stuart: Der Westen und der Rest, in: Rassismus und kulturelle Identität (Ausgewählte Schriften), Bd. 2, hrsg. v. Ulrich Mehlem, Hamburg 1994 S. 173 f. 7
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ist die Erde für den Geist geworden. Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist ent‐
weder nicht der Mühe wert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu wer‐
den.«10 Die Einheimischen haben ihr eigenes Land mit den Augen der Beherr‐
scher zu sehen. In diesem Weltalter ziehen die Kolonialherren willkürliche Grenzen, geben den Ländern ihre eigenen Namen, fertigen Landkarten gemäß eigener Anschauung und führen diese in die Literatur ein. Dieser theoretische und praktische Gewaltakt fußt auf der Annahme eines archi‐
medischen Punktes, der den Namen Europas trägt. Europa, die USA einge‐
schlossen heißt gleich ›Weltgemeinschaft‹, ›Weltgesellschaft‹ und ›Interna‐
tionale Gemeinschaft‹. Elmar Holenstein kritisiert eine Zwangseuropäisierung durch die will‐
kürliche Benennung von Regionen, Religionen, Philosophien, Staaten und Ländern. Er hält es historisch für angemessener, Ausdrücke zu wählen, die bei den Angehörigen der jeweiligen Kultur seit jeher verwendet werden oder aus sonstigen Gründen adäquat sind. Einige Beispiele von Holenstein für falsche oder ideologisch beladene Bezeichnungen und Vorschläge zur treffenderen Benennung11: Ideologische Bezeichnung Buddhismus Hinduismus Konfuzianismus Eurozentrische Bezeichnung Griechenland, griechisch Kleinasien Ägypten Palästina Ceylon China Höfliche Bezeichnung Buddhadharma Hindudharma Ru Jia Eigenbezeichnung der Länder Hellas/Ellas, hellenisch Anatole/Anatolia/Anadolu Kemet/Misr Filastin Sri Lanka Zhongguo/Land der Mitte Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschich‐
te, Hamburg 1955 S. 763. 11 Vgl. Holenstein, Elmar: Philosophie‐Atlas: Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004 S. 27‐31. Ein weiteres bekanntes Beispiel einer eurozentrisch geprägten geo‐
graphischen Bezeichnung ist der Name des höchsten Berges der Erde ›Chomo‐
lungma‹ als ›Mount Everest‹, nach dem britischen Ingenieuroffizier Sir George Everest (1790‐1866) benannt. 10
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Eurozentrische Bezeichnung Vorderasien Naher Osten Ferner Osten Subsahara‐Afrika Orient/Mashreq/ Morgenland/Osten Okzident/Maqreb/ Abendland/Westen Richtige Bezeichnung Südwest‐Asien Nil‐Amu Darya‐Region Ost‐Asien Afrika südlich der Sahara Südost‐Europa, Südwest‐Asien und Nordost‐Afrika Nil‐Amu Darya‐Region Asien (und Nordost‐frika) West‐Europa und Nordwest‐
Afrika Westlicher Teil der Alten Welt Europa (und Amerika) Die Einführung solcher geographischer Bezeichnungen in die Weltliteratur wäre nach Holenstein sachlich richtig und für einen polyphonen Dialog zwischen und innerhalb der Kulturen, Philosophien und Religionen förder‐
lich. Der Begriff ›Koloniales Weltalter der Globalisierung‹ beschreibt insofern die aufkommende Monokulturalität, einseitige Einflußnahme und Über‐
nahme der Kulturgüter und damit Diskontinuität von Begegnungen zwi‐
schen den Kulturregionen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden in den verbliebenen Kolonien verstärkt Unabhängigkeitsbewegungen. Indien verlangte bedin‐
gungslose Unabhängigkeit, Territorien in Asien und Afrika folgten. Nach gescheiterten Versuchen, diese Regungen zu unterdrücken, akzeptierte man diese Unabhängigkeitsbestrebungen. Das koloniale Zeitalter nimmt sein Ende mit der allmählichen Entlassung der Kolonien in die Freiheit, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts soweit abgeschlossen ist. Das post‐ oder neo‐koloniale Weltalter der Globalisierung Im Allgemeinen bedeutet ›post‐koloniales Weltalter‹ das epochale Ende des Kolonialismus Mitte des 20. Jahrhunderts. Dies ist insofern mit einem neokolonialen Weltalter verbunden, als die Globalisten diese Umbruchssi‐
tuation, die in der Tat ein neuer Anfang sein könnte, dazu ausnutzen, um ihre Ziele weiterhin umzusetzen. Max Scheler (1874‐1928) hat das Ende des faktischen Kolonialismus und den Beginn einer neuen Epoche vorausgesehen, die als das post‐koloniale 35
Weltalter der Globalisierung bezeichnet werden kann. Scheler spricht von dem Ausgangspunkt der Geschichte, die sich nicht nach einer bestimmten Rasse oder Kultur klassifiziert, sondern nach dem Ziel der einen Mensch‐
heit. Ein weltweiter Umbruch wird ihm zufolge bestehende Verhältnisse umstoßen. Um diese neue Situation umfassend zu beschreiben, gebraucht er den Begriff »Weltalter des Ausgleichs«. Dabei geht es um die »Entwick‐
lung der Selbständigkeit« der farbigen Völker, welche die Ausbildung »selbständiger Industrien« in ihren Ländern steigend »unabhängig von Europa« vorantreiben werden. Scheler spricht von einer »Politik des neuen Weltalters«, die insbesondere den bereits in Gang befindlichen Ausgleich »zwischen Europa und den drei großen asiatischen Zentren Indien, China und Japan« umfaßt. Dieser Ausgleich wird »durch die Welt des Islam« vermittelt, »ein Ausgleich, der in Zukunft noch erheblich fortschreiten wird.«12 Globalisierung im Sinne des post‐kolonialen Weltalters verstanden, ver‐
bindet den Beginn der erneuten Begegnung der Kulturen mit dem Ende der Kolonialzeit. Sie umfaßt die erneute Begegnung der Kolonisierten, die ihre Stellung in der Welt suchen, ihre Begegnungen zueinander und zwi‐
schen sowie innerhalb der einzelnen Kulturgebiete. Dieser Wendepunkt bringt weltumfassende Umwälzungen mit sich, die als die Geburtsstunde einer neuen Ära von Beziehungen gesehen werden können. Die befreiten Kulturregionen erheben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verstärkt den Anspruch, als gleichberechtigt betrachtet und behandelt zu werden. Viele afrikanische Länder zeigen einen vehementen Widerstand gegen Amerikanisierungs‐ und Europäisierungsbestrebungen, die im Namen von Globalisierung, Entwicklungshilfe und Humanismus in diese Länder ge‐
tragen werden sollen. Von den Vertretern des Kolonialismus war die These aufgestellt worden, die außereuropäisch‐westliche Welt könne sich nur durch die radikale Mo‐
dernisierung aller ihrer Bereiche nach westlichem Vorbild aus ihrer trostlo‐
sen Lage befreien. In der post‐kolonialen Zeit bzw. im gegenwärtigen post‐
kolonialen Weltalter der Globalisierung sind Parallelen festzustellen. Pa‐
12
Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Gesammelte Werke: Späte Schriften, Bd. 9, Bern 1976 S. 159. 36
ternalismus und Demokratisierung gehören zweifelsohne dazu.13 Diese Fortsetzung der alten Systemstruktur sieht ihre Aufgabe darin, anderen Völkern ›weise Gesetze, eine gute und gerechte Regierung zu ermöglichen, in der politische, religiöse und moralische Erleuchtung bis in die dunkel‐
sten Hüllen dringen kann.‹ Peter Gerdsen ist der Auffassung, die erwähn‐
ten Menschenrechte, Demokratie, freie Wirtschaft und Freiheit seien zu einem Herrschaftsinstrumentarium geworden, mit dem jeder vermeintliche Gegner zu entwaffnen ist.14 Diese neo‐koloniale Weltrealität, die sich mit dem Begriff ›Vernetzung der Völkergemeinschaft‹ ein neues Gewand angelegt hat, besitzt eine wirt‐
schaftliche Dimension, welche durch die Dominanz der militärischen und politischen Macht der alten Kolonialherren gestützt und durch Währungs‐
fonds, Weltbank und Welthandelsorganisation kontrolliert wird. Die Bezeichnung ›Dritte Welt‹, welche in unterschiedlichen Diskursen als rückständig und mittelalterlich betrachtet wird, steht nun in diesem Welt‐
alter der sogenannten ›Ersten‹ und ›Zweiten‹ Welt, die sich als ›frei‹, ›zivi‐
lisiert‹ und ›humanistisch‹ bezeichnen, gegenüber. In dieser Epoche tritt die Heterogenität von unterschiedlichen Zivilisationen und Traditionen verstärkt zutage.15 Die freigewordenen Nationen, die heute noch unter der Alleinherrschaft der Neokolonialisten leiden, sind bemüht, historisch be‐
dingte Rückstände aufzuholen, Werte zu schaffen, die der eigenen Traditi‐
on entsprechen, Methoden und Lebensformen zu etablieren, die für sie spezifisch sind. Die Prosperität Indiens seit der Unabhängigkeitserklärung oder die tech‐
nologischen Entwicklungen im Iran sind gelungene Beispiele dafür, ohne die Hilfe Europas zu Demokratien oder zu industrialisierten Ländern zu Vgl. Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt/Main 1998. 14 Vgl. Gerdsen, Peter: Die Menschenrechte – Dekonstruktion und Rekonstruktion eines umstrittenen Begriffs, in: Wege zu Menschenrechten. Geschichten und Gehalte ei‐
nes umstrittenen Begriffs, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi u.a., Nordhausen 2008. 15 Der Politologe Hedley Bull spricht in diesem Zusammenhang agitatorisch von einer »Revolte gegen den Westen«, die sich nach dem Motto ›Die Söhne rächen die Demütigungen der Väter‹ gegen europäisch‐westliche Norm‐ und Wertsy‐
steme richtet. Vgl. Bull, Hedley: The Revolt against the West, in: The Expansion of International Society, hrsg. v. Hedley Bull u.a., Oxford 1984 (217‐228). 13
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werden. Aufgrund der kolonialen Philosophie werden jedoch derartige Strukturen häufig gebremst. Noch heute gibt es massive Druckmechanis‐
men, um solche Entwicklungen zu stoppen. Folgen der kolonialen Globalisierung Frantz Fanon (1925‐1961), der als ein Vordenker der ›Entkolonialisierung‹ bezeichnet wird, bringt etwas polemisch zum Ausdruck, daß Europa »gan‐
ze Jahrhunderte lang [...] den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht« hat. Dieser Kontinent habe »mit Energie, Zynismus und Gewalt [...] die Führung der Welt übernommen.«16 Fanon fordert eine post‐koloniale ›Dekolonisation der Welt‹, welche die Überwindung des Zentrismus auf allen Ebenen der internationalen Beziehungen bewirkt, die er als »ein Programm absoluter Umwälzung«17 bezeichnet. Ihm zufolge müssen wir »für Europa, für uns selbst und für die Menschheit [...] eine neue Haut schaffen, ein neues Den‐
ken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.«18 Ein Ziel dieser erneuten Begegnung besteht darin, die Probleme zu lösen, die Euro‐
pa bislang nicht hat lösen können. Die kolonialpolitischen Verhältnisse hatten eine zweifache Entwicklung zur Folge: eine aufsteigende und eine stagnierende. Die aufsteigende Ent‐
wicklung der kolonisierenden Völker erstreckte sich auf die wirtschaftliche und industrielle Ebene. In den kolonialisierten Völkern hingegen herrschte jedoch eine stagnierende Entwicklung. Der Friedensforscher Johan Galtung bezeichnet diesen Zustand als ein Vermächtnis der strukturellen Gewalt.19 Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, daß manche Kulturregion fünfhun‐
dert Jahre lang hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückbleiben mußte.20 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, mit einem Vorwort von Jean‐Paul Sartre, Frankfurt/Main 1967 S. 239. 17 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, 1967 S. 27. 18 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, 1967 S. 242. 19 Vgl. Galtung, Johan: Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Kritische Friedens‐
forschung, hrsg. v. Dieter Senghaas, Frankfurt/Main 1971 (55‐104), S. 56. 20 Vgl. Niess, Frank: Am Anfang war Kolumbus, Geschichte einer Unterentwicklung‐ Lateinamerika 1492 bis heute, Köln 1984 und Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Lateinamerikas, Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur Gegenwart, Wuppertal 1980 S. 11: »Von der Entdeckung bis in unsere Tage 16
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Eine solche gelenkte Unterentwicklung auf deren angebliche ›Passivität‹ zu reduzieren oder abgekoppelt von kolonialer Ideologie zu betrachten, ist empirisch nicht haltbar. Das Ende des Kolonialismus brachte in den nun befreiten Ländern, neue‐
ren Studien zufolge, Nationalismen mit kriegerischen Auseinandersetzun‐
gen hervor. Diese können gewertet werden als die Suche nach der eigenen Stellung in der Welt, nach Identität und kultureller sowie religiöser Selbst‐
behauptung.21 Insbesondere zwei Tendenzen führten zu tiefen Spaltungen in den Gesellschaften, die nach der Beendigung des Druckes von außen zur Entladung kommen: Die Gruppe der Traditionalisten in den kolonisierten Regionen sehen sich, nach Seyyed Mohammad Khatami, ausschließlich in ihrer eigenen Relation und lehnen eine Übernahme westlicher Werte grundsätzlich ab, weil sie der Auffassung sind, diese widersprächen oder verderben die der eigenen Tradition. Sie versuchen, der Stagnation im Land durch die Besin‐
nung auf eigene Traditionen und eigene Werte zu entkommen. Die anderen Vertreter, die Verwestlicher, sind nach Khatami bemüht, Probleme mit einer radikalen Zuwendung zum Westen durch die Über‐
nahme europäisch‐westlicher Gepflogenheiten und Denkweisen zu über‐
winden. Sie pflegen die Auffassung, zu seinem eigenen Denken könne und müsse man nur durch die Auseinandersetzung mit dem europäisch‐
westlichen Denken finden. Sie erheben das europäische Denken gewisser‐
maßen zum archimedischen Mittelpunkt, von dem aus alles bewerkstelligt werden soll. Dies artikuliert sich in einem ›internen Eurozentrismus‹ auf allen institutionellen Ebenen.22 hat sich alles zuerst in europäisches, nachher in nordamerikanisches Kapital verwandelt, und als solches hat es sich in fernen Machtzentren angehäuft. [...] Die Geschichte der Unterentwicklung Lateinamerikas ist ein Kapitel der Ent‐
wicklung des Weltkapitalismus.« 21 Wie kommt es, daß Tutsis und Hutus in Ruanda plötzlich meinen, verschieden zu sein, obwohl beide Ruander sind. Das Ergebnis war die Ermordung einer Mil‐
lionen Menschen. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren ähn‐
liche Kämpfe und ethnische Säuberungen in der Mitte Europas zu beobachten. 22 Vgl. hierzu Khatami, Seyyed Mohammad: Moqaddamei bar andisheje falsafeje qarb (Eine Einführung in die politischen Gedanken des Westens), Teheran 1996 und 39
Beide Tendenzen sind problematisch, weil sie von ausschließlicher Ab‐
lehnung zum Westen bzw. Anlehnung an den Westen ausgehen.23 Ein Ausweg aus diesem Paradoxon wäre, von den eigenen Relationen auszu‐
gehen, die kritische Übernahme anderer Werte jedoch nicht kategorisch auszuschließen. Ein gern gepflegtes Spiel neo‐kolonialer Politik ist es, solche innerstaatli‐
chen Konflikte zu schüren und die Traditionalisten gegen die verwestli‐
chenden Kräfte auszuspielen. Hierbei werden sie häufig von den freige‐
wordenen Regierungen bzw. Oligarchen unterstützt. Diese pflegen häufig aus Gründen des Machterhalts ein Zentrum‐Peripherie‐Verhältnis zum eigenen Volk und belegen Innovationen mit Sanktionen. Eine Demokrati‐
sierung wird durch Kollaboration mit den ehemaligen Kolonialmächten auf unterschiedlichen Ebenen verhindert. Die Innen‐ und Außenperspekti‐
ve im Nahen Osten und in afrikanischen Ländern macht dies deutlich. Viele Regierungen kollaborieren mit den post‐kolonialen Mächten; an die‐
ser Stelle können die Verhältnisse in Ägypten, Jordanien oder in Saudi‐
Arabien und einiger Länder innerhalb der afrikanischen Union genannt werden, die stets als ›Brückenkopf‹ der europäisch‐amerikanischen Bünd‐
nispartner fungieren. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft: Ein Ausblick Vergangenheit und Gegenwart sind zwei Begriffe, die oft mit der Idee des Zukünftigen im Verhältnis stehen. Im Jetzt begegnen sich also die Wirk‐
lichkeit des Gewordenen mit der Möglichkeit des Zukünftigen. Die Ver‐
gangenheit ist nicht reproduzier‐ oder einholbar. Nur aus unterschiedli‐
chen Perspektiven kann sie zum Bewußtsein der Nachwelt werden. Daher gibt es nicht nur eine Pluralität in der Sichtweise des Vergangenen, son‐
dern auch im Kontext des Gegenwärtigen und Zukünftigen. Az shahre Donja ta Donjaje shahr (Von der Stadt in der Welt zur Weltstadt), Tehe‐
ran 1997. 23 Der iranische Philosoph Abdolkarim Sorush hat diese Problematik in einer Stu‐
die im Bezug auf Iran untersucht und als eine ›satanische Ideologie‹ bezeichnet, die aufgrund ihres strukturellen Dogmatismus keinen Dialog nach innen und außen zuläßt. Vgl. Sorush, Abdolkarim: Ideologije shejtani (Satanische Ideologie), Teheran 1980. 40
Scheler hat, wie bereits ausgeführt, mit großer Hellsichtigkeit erkannt, daß wir zur Realisierung der Idee der »einen Menschheit« und einer Überwindung des Kolonialismus einen Ausgleich der »Rassenspannun‐
gen« benötigen, einen Ausgleich der »Mentalitäten, der Selbst‐, Welt‐ und Gottesauffassungen« der großen Kulturregionen, der »männlichen und weiblichen« Geistesart, der politischen Machtanteile von »Kultur‐, Halb‐
kultur‐ und Naturvölkern«, der »nationalen ökonomischen Interessensphä‐
ren« und des Beitrags, den die »Nationen geistig und zivilisatorisch« für die menschliche Gesamtkultur und ‐zivilisation bieten. Scheler bezeichnet dies als eine »Aufgabe des Geistes und Willens«, die zum Ausgleich unter‐
schiedlicher Kräfte in menschlichen Beziehungen führt.24 Die dominanten Mächte der westlichen Kulturregionen haben sich, wie Wolf Lepenies formuliert, »gegen außerwestliche Kritik weitgehend im‐
munisiert« und sind »Belehrungskulturen«25 geblieben. Paul Ricœur (1913‐
2005) argumentiert ähnlich. Er verweist auf die künftige Problematik eines echten interkulturellen Dialogs, da niemand vorhersagen kann, »was aus unserer Zivilisation werden wird, wenn sie anderen Zivilisationen wirklich begegnet ist, und zwar auf andere Weise als im Zusammenprall von Erobe‐
rung und Beherrschung. Solche Begegnung haben bislang noch kaum auf der Ebene eines wirklichen Dialogs stattgefunden.«26 Der Begriff der ›Globalisierung‹ ist schillernd, weil darin eine still‐
schweigende Fortsetzung des kolonialen Denkens in Theorie und Praxis verankert ist. Eine Unifizierung nach kolonialem Muster ist nicht er‐
wünscht. Dies zeigt sich, wenn es um Diskursfelder wie Menschenrechte, Religions‐ und Meinungsfreiheit, Volksherrschaft oder Toleranz geht. Wir bedürfen einer neuen Kultur des Denkens und Handelns, die eine Einheit angesichts der Vielfalt durch eine Politik der Gewaltlosigkeit und des Dialogs anstrebt. Der Ansatz der Interkulturalität kann hier eine fun‐
dierte Grundlage bieten, die unterschiedliche Positionen als gleichberech‐
tigte Stimmen und Lösungsansätze miteinander ins Gespräch bringen kann. Das Prinzip der Unverfügbarkeit des Individuums und die Unan‐
Vgl. Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, 1976 S. 151 ff. Lepenies, Wolf: Das Ende der Überheblichkeit, in: DIE ZEIT, Nr. 48 vom 24. No‐
vember 1995. 26 Ricœur, Paul: Wahrheit und Geschichte, München 1974 S. 293. 24
25
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tastbarkeit seiner Würde bilden die tragenden Säulen einer solchen reflek‐
tierten Theorie der Interkulturalität. Sie ist ein kommunikativer Begriff, der mit unterschiedlichen geschichtlichen Wandlungen und Prozessen seit Menschengedenken allgegenwärtig ist. Eine offene Kommunikation zeigt, daß Menschenrechte, Religions‐ und Meinungsfreiheit, Volksherrschaft, Toleranz auch innerhalb außereuropäi‐
schen Traditionen mannigfaltig diskutiert wird. Deshalb können die neue‐
ren Entwicklungen in islamischen Regionen nicht problemlos als ihre ›Selbst‐Europäisierung‹ deklariert werden. Der iranische Wissenschaftler Jalal Alahmad (1923‐1969) hat die Problematik des Kolonialismus, der eu‐
ropäischen Selbstüberschätzung und ihre Folgen in einer Studie in den 1960er Jahren in einer Reihe von Untersuchungen analysiert und eine Ver‐
westlichung der nichtwestlichen Kulturregionen grundsätzlich zurückge‐
wiesen und spricht von einem Dialog mit unterschiedlichen Denkformen: Dialog statt Beherrschung.27 Adäquat wäre es, diese Entwicklungen auf außereuropäischem Boden als ›entgegenkommende Entwicklungen‹ zu betrachten. Es handelt sich um die Entwicklung eigenkultureller Konzep‐
tionen, die im Gefolge des Kolonialismus nicht ausgebildet werden konn‐
ten. Heute erhalten sie neue Impulse, die zur Ausbildung neuer Gedanken und Entfaltung von zivilgesellschaftlicher Orientierung auf der Grundlage des eigenen geschichtlichen Bewußtseins führen sollen. Der Ausdruck ›entgegenkommende Entwicklungen‹ beschreibt die ge‐
genwärtige westlich anmutenden Entwicklungen in alten Kolonien, die aufgrund der kolonialen Ideologie nicht vollzogen werden konnten. Es handelt sich teilweise um die Wiederholung unterschiedlicher Formen von Auseinandersetzungen innerhalb Europas in den letzten Jahrhunderten. Die Geburt neuer An‐ und Einsichten hängt entschieden mit den internen Konflikten innerhalb dieser Regionen zusammen. In Ländern wie dem Iran läßt sich dies in wissenschaftlichen und politischen Diskursen verfolgen. Seit den 1970er Jahren gibt es eine anhaltende Debatte um Themen wie bidarije melli, dem ›nationalen Erwachen‹ und chodbavarije melli, dem ›na‐
tionalen Selbstbewußtsein‹. Im Iran vollzieht sich gerade ein Wandel in Form einer Kontroverse zwischen unterschiedlichen Denkrichtungen, die sich widersprechen, ergänzen oder bekämpfen. Hier offenbart sich die Ab‐
27
Vgl. Alahmad, Jalal: Garbzadegi (Verwestlichung), Teheran 191979. 42
kehr von dem verinnerlichten kolonialen Duktus, außereuropäische Völker seien eo ipso nicht dazu imstande, ihre Angelegenheiten eigenständig zu regeln. Literaturangabe: Yousefi, Hamid Reza: Globalisierung im Prozeß der Geschichte: Ziele – Probleme – Möglichkeiten, in: Wege zur Globalisierung: Theorien – Chancen – Aporien – Praktische Dimensionen, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi (mit Klaus Fischer u.a.), Nordhausen 2010 (25‐42). 
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