Entwicklungspsychologie - kognitive Entwicklung

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Entwicklungspsychologie
- kognitive Entwicklung
Univ. Doz.in Dr.in Brigitte Sindelar
Inhaltsverzeichnis
„Entwicklungsforschung auf getrennten Wegen ....................................................................... 3
Die Spaltung des Forschungsobjekts Kind .................................................................................. 3
Historische Aspekte: ................................................................................................................... 7
Methoden der entwicklungspsychologischen Forschung ........................................................ 11
Das Netzwerk der kognitiven emotionalen und sozialen Entwicklung. ................................... 12
Die somatische Ebene: die Entwicklung des kindlichen Gehirns ......................................... 13
Die kognitive Ebene: Entwicklung der Wahrnehmung und des Denkens............................ 18
Die kognitive Entwicklung des Kindes nach Jean Piaget: ..................................................... 21
Jerome S.Bruner´s Theorie der kognitiven Entwicklung ...................................................... 24
Die Entwicklung der Sprache................................................................................................ 25
Die Entwicklung des phonologischen Systems .................................................................... 25
Sprachproduktion ................................................................................................................. 26
„Baby-talk“ der Erwachsenen: ............................................................................................. 27
Theorien zum Spracherwerb ................................................................................................ 29
Nativismus: ........................................................................................................................... 29
Behaviorismus ...................................................................................................................... 29
Kognitivismus und Konstruktivismus ................................................................................... 30
Interaktionismus und Pragmatik .......................................................................................... 30
Störungen der kognitiven Entwicklung .................................................................................... 31
Sprachstörungen .................................................................................................................. 31
Sprechstörungen .................................................................................................................. 31
Lernstörungen ...................................................................................................................... 32
Dyskalkulie ............................................................................................................................ 34
Literaturhinweise ................................................................................................................. 36
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit der Beschreibung und Erklärung von
Veränderungen und Stabilitäten menschlicher Entwicklung über die Lebensspanne.
Die Annahmen und Ideen, die wir über die Entwicklung des Menschen haben, beeinflussen,
wie Kinder aufgezogen und erzogen werden. Diese Annahmen über Entwicklung resultieren
aus den eigenen Erfahrungen des Aufwachsens, aus den Erfahrungen der Altersgenossen,
aus den Vorstellungen der Eltern, aus Inhalten, die über die Medien transportiert werden.
Und so entstehen innerhalb einer Generation Ideen darüber, wie Kinder erzogen werden
sollen, unterliegen zugleich Veränderungen über die Generationen.
Auszug aus:
Sindelar, B. (2013). Von den Teilen zum Ganzen. Theorie und Empirie einer integrativen
psychologischen und psychotherapeutischen Entwicklungsforschung. Münster: Waxmann.
„Entwicklungsforschung auf getrennten Wegen
Die Spaltung des Forschungsobjekts Kind
Die Entwicklungsforschung ging getrennte Wege: Während sich die akademischen
Entwicklungspsychologen Anfang des 20. Jahrhunderts, wie in Wien Karl und Charlot-te
Bühler und Hildegard Hetzer, als Kinderpsychologen verstanden, deren zentrales Interesse
der normativen Entwicklung des Kleinkindes galt, und sich dabei vor allem mit kognitiven
Entwicklungsprozessen beschäftigten und versuchten, Gesetzmäßigkeiten der Denk-,
Intelligenz- und Sprachentwicklung zu erforschen, war die Tiefenpsychologie ohne
„offizielle“ Verbindung zur Entwicklungspsychologie der Universitäten an der seelischen
Entwicklung und den seelischen Konflikten in der frühen Kindheit interessiert. Dass die
Entwicklung der kindlichen Seelenwelt in den tiefenpsychologischen Psychotherapien einen
dominanten Stellenwert einnahm, ist aus dem Verständnis des Gewordenseins der
Persönlichkeit durch die Weichenstellung der frühesten Kindheitserfahrungen naheliegend:
„Psychoanalytische Modelle stützen sich immer auf entwicklungspsychologische Konstrukte,
um die psychischen Anomalien zu erklären, die sich unserem alltäglichen Verständnis des
psychischen Funktionierens entziehen“ (Fonagy & Target, 2007, S. 13).
Die psychoanalytische Forschung schloss dabei auf die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung
des kindlichen Trieblebens vor allem retrospektiv aus der psychoanalytischen Arbeit mit
erwachsenen Patienten. Dass die Wurzeln des menschlichen Charakters in der Kindheit
liegen, war dabei ein bereits gedachter Gedanke: „Das Kind ist der Vater des Mannes“ („The
Child is Father of the Man“ – Zeile aus dem Gedicht: „My Heart Leaps Up“ von William
Wordsworth, 1770–1850). Die individualpsychologische Sichtweise, seelische Gesundheit
aus dem Maß an Gemeinschaftsgefühl zu definieren, dieses wiederum durch den
frühkindlich geprägten Lebensstil determiniert zu verstehen, verweist ebenso wie die
psychoanalytischen Modellvorstellungen der psychosexuellen Phasen auf frühest- und
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frühkindliche Entwicklungen und deren Störungen. Dies legt nahe, den Faktoren, die auf die
frühkindliche emotionale Entwicklung den bedeutsamsten Einfluss nehmen, Aufmerksamkeit
zu widmen: Daher fokussierte die von ihrem Beginn an mit Fragen der Erziehung und
Pädagogik befasste Individualpsychologie Alfred Adlers ebenfalls auf die emotionale
Entwicklung des Kindes und dessen Bestreben, die „Mängellage“, also das dem Menschen
innewohnende Minderwertigkeitsgefühl, resultierend aus der naturgegebenen Realität der
Unterlegenheit des Kindes gegenüber dem Erwachsenen, zu überwinden.
Der Beginn der Psychotherapie ist ohne Entwicklungspsychologie der Emotion und
Sozialisation undenkbar: „Zum anderen war in der Psychoanalyse resp. in der
Tiefenpsychologie ebenso von Anfang an der epigenetische Aspekt von prominenter
Bedeutung. Symptome als etwas zu verstehen, was eine (individuelle und
unverwechselbare) Geschichte hat (sowohl im Sinne der „Entstehungsgeschichte“ und ihrer
Kausalitäten als auch im Sinne dessen, was „erzählt“ werden kann, was also verstanden und
nicht nur erklärt werden muss, um es einer Veränderung zuführen zu können, und einen
bestimmten Zeitraum (zumeist die ersten sechs Lebensjahre) als besonders entscheidend für
die Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie für bestimmte Pathologien zu bestimmen, weist
prinzipiell den Entwicklungstheorien im Theoriengebäude der Tiefenpsychologie, also auch
der Individualpsychologie, einen besonderen Stellenwert zu.“ (Stephenson, 2011, S. 101).
Trotz der räumlichen und zeitlichen Nähe zwischen dem Beginn der Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse blieb die Entwicklungsforschung über weite Strecken
gespalten: „Für die Entwicklungspsychologie waren die Arbeiten von Freuds Schülern, die
sich mit kleinen Kindern beschäftigten, nicht von Bedeutung“ (Seiffge-Krenke, 2009, S. 3).
In der Zwischenkriegszeit wurde der Forschungsgegenstand der akademischen Entwicklungspsychologie „älter“: Das Schulkind rückte in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, in der Folge die Psychologie des Jugendalters, bis die Entwicklungspsychologie schließlich auf den gesamten menschlichen Lebenszyklus bezogen wurde. Ab
etwa den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wandte sich die akademische
Entwicklungspsychologie auch dem schwierigen, auffälligen Kind bzw. Jugendlichen
vermehrt zu. Zu eben dieser Zeit begann die Entwicklungspsychologie psychoanalyti-sches
Gedankengut zu rezipieren, also mit einer ziemlichen zeitlichen Verzögerung, beschränkte
sich aber dabei weitgehend auf die Arbeiten Freuds (Seiffge-Krenke, 2009). In der
Psychoanalyse und Individualpsychologie, die ja primär auf die Behandlung psychischer
Störungen ausgerichtet sind, findet sich der Zugang zum „schwer erziehba-ren“ Kind schon
wesentlich früher (Adler, 1930e; Seelmann, 1926).
Die entwicklungspsychologische Forschung zeichnet sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts
somit durch eine Trennung zwischen kognitiver Entwicklung, die die aka-demische
Psychologie beschäftigt, und der den Emotionen und der Sozialisation zugewendeten
Entwicklungspsychologie innerhalb der Psychotherapie aus, die Ganzheitlichkeit von Geist,
Seele und Körper vernachlässigend, und hat sich von dieser Spaltung des Forschungsobjekts
Kind bis heute nur ansatzweise verabschiedet: „Fühlen und Denken, Emotion und Kognition,
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Affekte und Logik sind in der wissenschaftlichen Psychologie und Soziologie bisher
vorwiegend isoliert, kaum aber in ihrem regelhaften Zusammenwirken untersucht worden.
In der psychischen Wirklichkeit dagegen sind sie immer untrennbar miteinander verknüpft.
Diese Tatsache an sich ist zwar schon lange bekannt, aber in ihrer Bedeutung noch nicht
hinreichend erfaßt. [sic!]“ (Ciompi, 1993, S. 76).
Die Trennung zwischen Denken und Fühlen ist in der Forschungsdimension zur kindlichen
Entwicklung weitgehend erhalten geblieben, die Integration der Disziplinen verharrt
innerhalb der Grenzen der Kognition versus der Affekte und Emotionen, wie zum Beispiel in
der Entwicklungsneuropsychologie, selbst wenn sie ein anderes Credo voranstellt: „Die
Entwicklungsneuropsychologie ist somit eine interdisziplinäre Wissenschaft, welche
Fachwissen aus der Entwicklungspsychologie, Neuropädiatrie, klinischen Psychologie,
pädagogischen Psychologie und biologischen Grundlagenforschung vereint“ (Kaufmann,
Mrakotsky, & Proksch, 2006, S. 373/374).
Denn im Weiteren konkretisieren die Autorinnen die Anwendungsbereiche der Entwicklungsneuropsychologie ausschließlich in kognitiven und der Informationsverarbeitung
zugehörigen Aspekten der Entwicklung. Auch wenn folgend im Terminus „Brain-BehaviorRelationship“ konzidiert wird, dass dieser „nicht nur kognitive, sondern auch alle
behavioralen (inkl. emotionalen, sensorischen, motorischen] Funktionen“ (ebd., S. 374)
umfasse, wird – unausgesprochen – die außerhalb des beobachtbaren Verhaltens liegende
emotionale und soziale Entwicklung exkludiert, wenn die Autorinnen festhalten: „Das
Hauptziel der (kognitiven) Entwicklungsneuropsychologie ist der Erwerb detaillierten
Wissens über die neuronalen Grundlagen kognitiver Prozesse“ (ebd. S. 374). Diese
Beschränkung der Entwicklungsneuropsychologie auf kognitive Funktionen ist umso
erstaunlicher, als ja gerade die Neurowissenschaften, also die Wissenschaftsdisziplin, auf die
sich die Entwicklungsneuropsychologie bezieht, nicht nur die neuronale Plastizität, sondern
vor allem die dichte Vernetzung zwischen kortikalen und limbischen Hirnstrukturen klar
gestellt haben und somit die wechselseitige Einflussnahme von Gefühl und Denken
neurobiologisch belegt haben (vgl. zum Beispiel Roth, G., 2001; Hüther, 2005 [2001]; Le
Doux, 2006 [Orig. 1996]; Hüther, 2009; Roth, Grün, & Friedman, 2010).
Dennoch vermitteln auch aktuelle Lehrbücher der Entwicklungspsychologie weiter-hin den
Wissensschatz über die menschliche Entwicklung in gespaltener Form: Elaborierte, aber
jeweils getrennte Kapitel zur Entwicklung von Denken und Sprache, von Gefühl und
Persönlichkeit, von sozialer Kompetenz werden nicht zusammengeführt. Auf die Darstellung
der wechselseitigen Einflussnahme der Entwicklungsbereiche in einer Bezugsachse des
Lebens- bzw. Entwicklungsalters wird verzichtet. Genau diese aber macht die jeweils aktuelle
Individualität sowohl der normativen als auch der pathologischen Entwicklung aus.
Diese Abspaltung der Emotionen und Affekte von der Kognition in der Entwicklungsforschung entspricht nun aber keineswegs der menschlichen Lebens- und Erlebensrealität, denn dieser ist eigen, dass Affekte und Emotionen nicht nur untrennbar mit
dem Denken verbunden sind, sondern dieses auch organisieren und integrieren, Affekte
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„Operatorwirkungen […] auf das Denken“ (Ciompi, 2005 [1997], S. 50), haben, was erst in
den letzten Jahren auf mehreren Gebieten der Wissenschaft zur Erkenntnis wurde.
Verzögernd für diese Erkenntnis, dass emotionale Einflüsse auf Denken und Verhalten nicht
„Störfaktoren“, sondern integraler und integrativer Bestandteil sind, war: „… der Umstand,
dass Fühlen und Denken – oder Emotion und Kognition, Affekt und Logik – von der
spezialisierten psychologischen und biologischen Forschung in der Vergangenheit ganz
vorwiegend gesondert, nicht aber in ihren gesetzmäßigen Wechselwirkungen untersucht
worden sind. Überhaupt wurden von der Wissenschaft emotionale Phänomene, nicht zuletzt
aus methodologischen und definitorischen Gründen, lange Zeit vergleichsweise stark
vernachlässigt. Die Folge war ein einseitig intellektzentriertes Welt- und
Menschenverständnis, das, obwohl mit der beobachteten Wirklichkeit offensichtlich nicht
übereinstimmend, das wissenschaftliche Denken doch lange Zeit fast ausschließlich
beherrscht hat“ (Ciompi, 2005 [1997], S. 11).
Andrerseits hat die Tiefenpsychologie bereits in ihren Anfängen den Einfluss der Em-tionen
auf die Kognition modellhaft dargestellt, dabei immer aus dem Blickwinkel der Emotionen,
ohne allerdings dem kognitiven Aspekt dabei besondere Aufmerksamkeit zukommen zu
lassen: Wenn die Psychoanalyse die Verdrängung als Abwehrmechanismus beschreibt, so
meint sie damit die Einflussnahme von Gefühlen bzw. von emotionalen Konflikten auf das
Gedächtnis (Freud, A., 1964 [1936]). Wenn die Individualpsychologie die „tendenziöse
Apperzeption“ als individuelle Gestaltung von Wahrnehmungsinhalten versteht, deren Ziel
es ist, diese den bereits erworbenen Denk- und Fühl-strukturen im Dienste des
lebensstiltypischen Sicherheitsstrebens anzupassen, so erklärt auch sie damit die
Einflussnahme von Gefühlen auf die Wahrnehmung (Adler, 1904-1912).
Während die Entwicklungsforschung des Kindes- und Jugendalters die Integration von
Kognition und Emotionalität vernachlässigt, ist diese in den Psychotherapiewissenschaften
und in der Neurobiologie sehr wohl bereits im Gange, bezogen auf den erwachsenen
Menschen von Ciompi 1982 erstmals im Zusammenhang mit dem Problem der
Schizophrenie im Konzept der „Affektlogik“ formuliert (Ciompi, 1982) und von ihm seither
kontinuierlich weiterentwickelt und verallgemeinert. Danach „…besteht die Psyche aus zwei
untrennbar verbundenen komplementären Funktionseinheiten: einem qualifizierenden
Emotions- und einem quantifizierenden Kognitionssystem. Bewußte [sic!] oder unbewußte
[sic!] affektive Faktoren beeinflussen das Denken selbst noch in der wissenschaftlichen
Logik.“ (Ciompi, 1993, S. 76).
Dass die Entwicklung der kognitiven Strukturen beim Kind auch mit affektiven Re-aktionen,
wie zum Beispiel an lustvollen Äußerungen beim „Aha-Erlebnis“ zu erkennen, das den
Zugang zu einer nächsthöheren Abstraktionsstufe begleitet, wurde zwar bereits von Piaget in
seinen minutiösen Beobachtungsprotokollen dokumentiert, blieb aber ansonsten von ihm
weitgehend unbeachtet, allerdings zu Unrecht: „Aus der Sicht der Affektlogik gehören
gerade sie aber zentral zum Vorgang der Abstraktion“ (Ciompi, 2005 [1997], S. 116). Fast
mutet diese geringe Beachtung der Rolle der Emotionen und Affekte in der kognitiven
Entwicklung als ein Beleg für diese Erkenntnis an: „Die Wirkungen der Affekte auf die
kognitiven Prozesse laufen ‚außerhalb des Bewußtseins [sic!] ‘“ (Ciompi, 2005 [1997], S.
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123). Vielleicht laufen sie auch außerhalb des Forschungsbewusstseins und der
Beobachtungsaufmerksamkeit der Entwicklungspsychologie, sobald sie sich auf die Kognition
fokussiert: „In der Folge wurde „[…] die Bedeutung von solchen obligaten Koppelungen
zwischen affektiven und kognitiven Komponenten, obwohl an sich von niemandem
grundsätzlich geleugnet, von der spezialistisch meist entweder auf kognitive oder emotive
Aspekte zentrierten psychologischen wie biologischen Forschung lange Zeit gewaltig
unterschätzt […].“ (Ciompi, 2005 [1997], S. 51).
Auch umfassende Studien zur Entwicklung, wie zum Beispiel die über 20 Jahre durchgeführte Münchner Langzeitstudie „LOGIK“ (Schneider & Bullock, 2009), deren An-liegen es
war, die Veränderungen der Entwicklung einerseits, die individuelle Stabilität andrerseits
über die Lebensspanne der frühen Kindheit bis zum jungen Erwachsenenal-ter zu
untersuchen, bleiben in den Untersuchungsebenen der Trennung zwischen den
Entwicklungsbereichen treu.
Erstaunlicherweise kommt „[…] das Postulat eines ständigen komplementären Zusammenwirkens eines umfassenden Affektsystems mit einem davon wesensverschiedenen
Kognitionssystem“ (Ciompi, 2005 [1997], S. 121) in der psychologischen und
psychotherapeutischen Entwicklungsforschung also kaum zur Darstellung“ (Sindelar, 2013, S.
24 - 28)
Historische Aspekte:
1601 schrieb König Heinrich IV von Frankreich an die Erzieherin seines Sohnes Louis, der im
Alter von neun Jahren zu König Ludwig dem XIII. gekrönt wurde: „Ich befehle Ihnen, ihn
immer zu peitschen, unabhängig davon, ob er willig oder ungezogen ist. Denn ich weiß aus
meiner eigenen Erfahrung, dass mir selbst nichts besser getan hat.“ (Wallace, Franklin,
Keegan, 1994, S 4 nach Slater u. Bremner, 2006, S )
Der Begründer der Methodistenkirche John Wesley, selbst das 15. von 19 Kindern, erhielt
von seiner Mutter folgenden Erziehungsratschlag: „Gib ihm nichts, worum er weint, absolut
nichts, egal ob groß oder klein, sonst zerstörst du deine eigene Arbeit…. Bringe ihn dazu, das
zu tun, was von ihm verlangt wird, auch wenn du ihn zehnmal auspeitschen musst, um das
zu erreichen. Lass dir von niemandem einreden, dass dies grausam sei. Es ist grausam, es
nicht zu tun. Brich seinen Willen jetzt, und seine Seele wird leben, und er wird dich
wahrscheinlich für alle Ewigkeit segnen.“
Zu der Zeit war man überzeugt, dass Kinder sündig geboren werden und es daher notwendig
ist, jedes Mittel zu nutzen, um ihre Seele zu retten, von Geburt an. Theodore Dwight schrieb
dazu 1834 in: „The Father´s Book: „Kein Kind wurde jemals geboren ohne böse Anlagen - wie
süß auch immer es erscheint.“
Konträr dazu besann man sich im geistigen Aufbruch des beginnenden 18. Jahrhundert
erstmalig der kindgemäßen Lebensform als eines Daseins ganz eigenen Gepräges: 1762
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stellte Jean Jacques Rousseau in seinem „Emile“ ein völlig neues Konzept der Erziehung zur
Diskussion, das Erziehung als Erfahrungsangebot und Ermunterung zur Kreativität und als
Abkehr von den strengen Regeln und Lehrplänen verstand. Sein Erziehungsideal bestand
darin, das Kind von den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft fernzuhalten. Rousseau
machte die Gesellschaft dafür verantwortlich, dass dem Menschen im Laufe seiner
Entwicklung seine natürlichen Stärken verloren gingen. Gegliedert in fünf Bücher begleitet
Rousseau in einer fiktiven Erzählung das Waisenkind Emile von seiner Geburt bis zu seiner
Heirat. Erziehung sollte sich nach Rousseau darauf beschränken, schädliche Einflüsse
fernzuhalten, damit sich das Kind zu einem guten Menschen entwickeln kann. Rousseau geht
hier von einem Prinzip des Wachsen Lassens aus, indem er die Erziehung des Menschen mit
der Pflege einer Pflanze vergleicht. Rousseaus Werk wurde in Frankreich sofort nach
Erscheinen konfisziert, durch das Pariser Parlament verdammt und exemplarisch im Hof des
Justizgebäudes verbrannt
Johann Amos Comenius, böhmischer Pädagoge (1592-1670), war Mitglied der Gemeinde der
Böhmischen Brüder, einer evangelischen freikirchlichen Gemeinschaft. Comenius trat für
eine allgemeine Reform des Schulwesens mit einer Schulpflicht für Jungen und Mädchen
aller Stände mit einer einheitlichen Schulausbildung bis zum 12. Lebensjahr ein. Danach
sollten die praktisch Begabten eine Lehre, die anderen weitere Schulbildung auf der
„Lateinschule“, danach ab 18 bis 24 an der Universität absolvieren. Revolutionär waren
seine Forderungen nach Bildung sowohl für Jungen als auch für Mädchen, Anschaulichkeit
und Strukturiertheit des Unterrichts, Bezug des Unterrichts zum Alltag
Johann Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827) war ein Schweizer Pädagoge, der die Ideen
Rousseaus aufgriff, sich aber auch teilweise davon distanzierte, indem er sich vor allem auf
die Methode der Pädagogik, des Schulunterrichts
bezieht. Er fordert
entwicklungspsychologisches Wissen von Pädagogen: Der Erzieher muss
- die psychologischen Gesetze erforschen, nach denen sich die Kräfte des Kindes schrittweise
entfalten
- den jeweiligen Entwicklungsgrad der kindlichen Kräfte kennen
- die komplexen Erscheinungen der Natur und der Kultur von den Elementen her
durchschauen
- entscheiden, welcher Grad von Komplexität eines Sachverhalts dem jeweiligen
Entwicklungsstand des Kindes angemessen ist.
Unterricht beginnt seiner Ansicht nach mit der Stunde der Geburt und nicht erst in der
Schule.
Wilhelm Preyer beschrieb in seinem 1882 erschienenen Buch: „Die Seele des Kindes.
Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren“
seine Beobachtungen kindlichen Verhaltens, die er an seinem Sohn in dessen ersten drei
Lebensjahren durch detaillierte und in Tagebüchern festgehaltene Beobachtungen
gewonnen hatte.
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Anfang des 20. Jahrhunderts stand das Kleinkind im Zentrum des entwicklungspsychologischen Interesses, Entwicklungspsychologie wurde als Kinderpsychologie
verstanden. An den psychologischen Instituten der Universitäten in Wien und Paris wurden
die
ersten
Entwicklungstests
ausgearbeitet:
die
„Wiener
Schule“
der
Entwicklungspsychologie wurde von Karl und Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer
etabliert, jahrzehntelang fand der „Bühler-Hetzer-Kleinkindertest“
Anwendung zur
Feststellung der normalen und aberrannten kognitiven kindlichen Entwicklung. Etwa
zeitgleich entwickelten Binet und Simon den ersten Intelligenztests für Kinder, mit dem sich
ein Entwicklungsalter eines Kindes berechnen ließ. In der Weiterentwicklung, angeregt von
William Stern und umgesetzt von Lewis Terman im „Stanford-Binet-Test“, wurden
Entwicklungsalter und Lebensalter miteinander in Beziehung gesetzt und daraus der
Intelligenzquotient berechnet:
IQ = Intelligenzalter mal 100
Lebensalter
Zwischen der akademischen Wiener Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse
bestand kein Kontakt. (Freud, 1905: Entwicklung = „Bedürfniswandel des Sexualtriebes“)
Charlotte Bühler (1893 – 1974), Karl Bühler (1879 – 1963, gestorben in Los Angeles)
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Alfred Binet (1857 – 1911)
In der Zwischenkriegszeit trat das Schulkind in den Mittelpunkt des psychologischen
Interesses, im Weiteren die Psychologie des Jugendalters.
Eduard Spranger (1882, Berlin, - 1963, Tübingen) beschreibt in seinem Buch: „Psychologie
des Jugendalters“ (1926) drei große Themen der Entwicklung im Jugendalter: die Entdeckung
des Ichs, die allmähliche Entstehung des Lebensplanes, das Hineinwachsen in die einzelnen
Lebensgebiete. Dabei entwickelt er eine Typenpsychologie und differenziert sechs
Schwerpunkte der Lebensorientierung innerhalb der überindividuellen Kulturgemeinschaft:
theoretisch – sozial – ökonomisch – politisch – religiös – künstlerisch.
Eduard Spranger
Arnold Gesell (1880 – 1961, USA): Entwicklung ist vornehmlich von biologischen Prozessen
der Reifung bestimmt. Der Entwicklungsplan ist in Differenziertheit und zeitlichem Ablauf
biologisch determiniert und durch Umwelteinflüsse nicht veränderbar, durch Erziehung nicht
zu beschleunigen. Trotz des Widerspruchs zu den Ergebnissen der Forschungen der letzten
Jahrzehnte sind die Konsequenzen, die er aus der biologischen Bedingtheit der Entwicklung
für den Umgang mit Kindern zieht, heute durchaus noch gültig: er verlangt, dass sich der
Erzieher (die Bezugsperson) des Kindes nach dessen Entwicklungsstand richtet (also zB, dass
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ein Baby gefüttert werden soll, wenn es Hunger hat und nicht, wenn die Betreuungsperson
dies für richtig hält).
Arnold Gesell
In der französischen Schweiz lebt und arbeitet Jean Piaget, gemeinsam mit seiner Assistentin
Bärbel Inhelder – mit seinen Theorien der kognitiven Entwicklung des Kindes werden wir uns
noch ausführlich beschäftigen.
Ab etwa den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts rückt das schwierige, das auffällige
Kind ins Zentrum der entwicklungspsychologischen Forschung. Entwicklungspsychologie,
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädagogik und Psychotherapie bilden ab nun ein enges
Netzwerk.
In den tiefenpsychologischen psychotherapeutischen Schulen ist das Interesse an Störungen
der kindlichen Entwicklung bereits wesentlich früher etabliert, natürlich getragen davon,
dass die Psychotherapie grundsätzlich mit Störungen des Seelenlebens beschäftigt ist (zum
Beispiel: Alfred Adler: „Die Seele des schwererziehbaren Kindes“, 1930)
Methoden der entwicklungspsychologischen Forschung
Forschungsdesigns:
Querschnittsuntersuchung:
Personengruppen unterschiedlichen Alters werden einmal untersucht. Diese
Untersuchungen liefern Ergebnisse darüber, wie sich Menschen in verschiedenen
Lebensaltern voneinander unterscheiden, aber keine Information darüber, ob diese
Veränderungen kontinuierlich oder diskontinuierlich sind.
Längsschnittuntersuchung:
Diesselben Personen werden in unterschiedlichem Lebensalter untersucht. Damit sind
Informationen über intraindividualle und interindividuelle Veränderungen mit dem
Lebensalter zu gewinnen.
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- schwierig in der Durchführung! (Drop-out-Rate der Versuchspersonen, lange Dauer der
Studien etc – zB: Veränderungen des IQ vom Alter von 20 Jahren bis 80 Jahren: diese
Untersuchung würde 60 Jahre dauern und wäre dann auch nur für die Gruppe von
Versuchspersonen, die zur selben Zeit geboren werden, gültig)
Forschungsmethoden:
- Beobachtung
- Experimentelle Untersuchung
- Psychologische Testung
- Korrelationsstudien.
(welche Merkmale treten gleichzeitig auf? = Zusammenhangsstudien)
(welche Merkmale bleiben gleich oder verändern sich in der Zeit? = Prädiktive Studien)
Ergebnisse sind immer auch dahingehend zu überprüfen, inwiefern die Auswahl der
untersuchten Menschen einen Einfluss auf die Resultate haben!
Das Netzwerk der kognitiven emotionalen und sozialen
Entwicklung.
Kindliche Entwicklung ist immer aus dem Zusammenspiel von Reifungsfaktoren, Anlage und
Ausstattung, und den Einflüssen des sozialen Umfelds zu verstehen. Jede Entwicklungsphase
hat spezielle Entwicklungsaufgaben, die für die bestimmten Lebensperioden typisch sind. Die
erfolgreiche Bewältigung solcher Entwicklungsaufgaben führt zur harmonischen
Weiterentwicklung, das Versagen im Rahmen einer Entwicklungsaufgabe macht das
Individuum unglücklich, stößt auf Ablehnung durch die gesellschaftliche Umgebung oder
führt zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben.
Dabei ist die Position, die bereits die Individualpsychologie Alfred Adlers kennzeichnet,
nämlich dass jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit in der
unteilbaren Einheit von Körper, Geist und Seele zu erkennen ist, als Ausgangspunkt und
Prämisse jedes entwicklungspsychologisches Zuganges zu verstehen.
Max Friedrich (2004) beschreibt kindliche Entwicklung in der Vernetzung von körperlicher
Entwicklung, emotionaler Entwicklung, sozialer Entwicklung und kognitiver Entwicklung,
eingebunden in die Geschlechtszugehörigkeit, die genderspezifische Ausformungen
bestimmt. Die Säulen der kindlichen Entwicklung von Körper, Emotion, Sozialisation und
Kognition stehen in permanentem Austausch und beeinflussen einander wechselseitig.
Diese dichte Vernetzung und gegenseitige Beeinflussung birgt gleichermaßen Risiko und
Chance: Irritationen, Störungen, Traumatisierung in einem Entwicklungsbereich
beeinträchtigen die Entwicklung in den anderen Bereichen, dagegen unterstützen
Hilfestellungen und Heilungen in einem Bereich die Entwicklung der anderen Bereiche.
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So z.B. bezweifelt heute niemand mehr, das erfolgreiche psychotherapeutische Intervention
auch die kognitive und körperliche Befindlichkeit positiv beeinflusst, ja sogar dank der
neuronalen Plastizität unseres Gehirns neurobiologische Auswirkungen hat. Umfangreich
belegt ist dies durch die neurobiologische Forschung der letzten Jahre (Hüther 2006, Spitzer,
2007), was einerseits zu einer optimistischen Sichtweise der Einflussmöglichkeiten mittels
unterschiedlicher therapeutischer Interventionen führt, andererseits auch die
Verantwortlichkeit der Umwelteinflüsse für das Gelingen der kindlichen Entwicklung
beziehungsweise deren Risikocharakter herausstreichen.
Ergebnisse der neurobiologischen Forschung lassen die Bedeutung der genetischen Einflüsse
für die kindliche Entwicklung und somit Überlegungen zur Vererbung in neuem Lichte
erscheinen. So beschreibt z.B. Gerald Hüther früheste intrauterine Prägungen, die die
Ergebnisse der Zwillingsforschungen im letzten Jahrhundert als Beweisführung für
genetische Bedingtheiten kritisch betrachten lassen.
Die somatische Ebene: die Entwicklung des kindlichen Gehirns
Die Entschlüsselung der menschlichen DNA mit Ende des vorigen Jahrhunderts beweist, dass
wir zwar mit einer genetischen Grundausstattung zur Welt kommen, die Gen-Expression
jedoch in weitaus größerem Maße als angenommen von Umweltfaktoren abhängt. Da der
Mensch nicht wesentlich mehr Gene als der Wurm besitzt, sich unsere DNA in den letzten
100.000 Jahren auch nicht wesentlich verändert hat, ist das Konzept der vor allem
genetischen Determiniertheit obsolet. Wäre dem nicht so, müsste unsere Lebensform
sowohl der der Würmer als auch der der menschlichen Existenzen vor 100.000 Jahren
bedeutend ähnlicher sein als sie es ist.
Ein Kind kommt mit dem Bauplan seiner Hirnstrukturen zur Welt. Im ständigen Austausch
mit der Umwelt beginnt nun eine reiche Tätigkeit, Verbindungen zwischen Nervenzellen
aufzubauen, ein komplexes und vielfältiges Netzwerk entsteht, synaptische Verbindungen
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zwischen Nervenzellen sprossen aus. Werden diese Verbindungen genützt, werden
Umweltreize zu Erfahrungen, zu Prägungen, die die Funktionsweise unseres Gehirns
bestimmen.
Die Hirnforschung der letzten Jahre hat uns viel an biologischen Beweisen für Postulate,
Theorien und Hypothesen, die andere Fachdisziplinen aufgestellt haben, geliefert. Es sind
niemals wirklich neue Erkenntnisse, die dann umgesetzt werden und sich in einzelnen
Fachdisziplinen ausbreiten, sondern es ist häufig so, dass man an das anknüpft, was schon
einmal gedacht worden war. Die Neurobiologie ist heute zu einer Art Leitdisziplin geworden,
vielleicht auch, weil wir in einer wissenschaftsgläubigen Zeit leben, in der objektive Befunde
eingefordert werden (Hüther, 2006).
Ergebnisse der neurobiologischen Forschung der letzten Jahre haben auch frühere
wissenschaftstheoretische Erkenntnisse in Frage gestellt. Die Anstrengung, das menschliche
Gen zu entschlüsseln, um dadurch die genetischen Anlagen jeder isolierten menschlichen
Eigenschaft und Verhaltensweise sequenziell isolieren zu können, hatte zum Ziel, damit in
der Lage zu sein, den Menschen zu verstehen und vielleicht auch in diese Anlagen
korrigierend einzugreifen.
Das Ziel der molekularbiologischen Forschung war, damit alle möglichen Übel vom
Menschen abzuwenden. Dieses große Versprechen hat sich allerdings nicht bewahrheitet.
Die Genforschung setzte auf das menschliche Genom, von dem man erwartet hatte, dass es
mehrere 100.000 Sequenzen hat, von der Hypothese ausgehend, dass jedes menschliche
Merkmal genetisch veranlagt sei. Dies hat sich als falsche Hoffnung erwiesen: das
menschliche Genom verfügt nicht nur über nicht viel mehr als 30.000 Gene und damit um
nicht viel mehr als das Genom der Würmer, sondern hat sich auch als weitgehend identisch
erwiesen mit dem der Menschenaffen: der Unterschied liegt im Bereich von etwa 1%
(Hüther, 2006). Auch seit den Anfängen des Homo sapiens hat sich an der genetischen
Ausstattung nichts mehr geändert. Wenn man die biologische Evolution auf die Genetische
reduziert, so ist diese seit 100.000 Jahren zu Ende. Alle Veränderungen, die seither passiert
sind, sind daher nicht aus genetischen Programmen zu erklären.
Hiermit zeichnet sich eine große Wende ab: wir müssen die Verantwortung unseres So-Seins
und unseres So-Geworden-Seins selbst übernehmen: die Elterngeneration liefert nicht nur
die genetischen Bausteine, sondern auch die Bedingungen, dass diese genetischen Anlagen
sich entwickeln können. Daher sind die Rahmenbedingungen, die familiären
Beziehungssysteme,
die
zwischenmenschlichen
Bindungen
als
hochkomplexe
Beziehungssysteme für die Entwicklung des Kindes verantwortlich. Störungen in den
Rahmenbedingungen führen zu Veränderungen, zu Störungen der Genexpression. Die
genetischen Bedingungen zu verändern ist auch heute noch nahezu unmöglich. Was zu
verändern ist und worin auch unsere Chance und Hoffnung liegt, ist unsere Möglichkeit, die
Rahmenbedingungen zu optimieren.
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Das Hirn entwickelt sich in Schichten: zuerst werden die älteren Bereiche des späteren
Gehirns angelegt, beginnt also im Stammhirn, und schreitet dann progressiv fort, bis zum
Schluss die höchst organisierte Hirnstruktur, die so genannte präfrontale Rinde, erreicht ist.
Diese sequenzielle Reifung machte deutlich: im Stammhirn sind einfache Regelkreise in Form
von neuronalen Netzwerken angelegt, deren Funktion die Steuerung einzelner
Körperfunktionen, wie z.B. der Atmung, der Herz-Kreislauffunktionen, motorischer
Handlungen, Reflexe, ist. Diese Netzwerke formen sich sehr früh und relativ unabhängig
voneinander in der vorgeburtlichen Entwicklung aus. Allerdings: diese verschiedenen
Regelkreise können nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Verbindung
geschieht in der nächst höheren Ebene, dem limbischen System, das die Fähigkeit hat, die im
Stammhirn angelegten einzelnen Regelkreise zu konzertierten Reaktionen zu veranlassen.
Dies wird nachvollziehbar, wenn wir an einen Zustand denken, der mit dem limbischen
System in Verbindung gebracht wird: Angst. Hier wird die Vernetzung mit den
Stammhirnzentren deutlich: die Knie werden weich, das Herz schlägt schneller, die
Körpertemperatur steigt oder fällt. Dies gilt für angstmachende Reize, aber auch für positive
Bedingungen. Das limbischen System ist also ein Koordinationssystem für die darunter
liegenden Hirnstrukturen. Dem limbischen System übergeordnet ist die Großhirnrinde, die
das steuert, was im limbischen System vorgeht. In der Großhirnrinde können nun auch
Erfahrungen verankert werden, die im Laufe des Lebens gemacht werden. Diese Erfahrungen
werden genutzt, um das limbischen System zu steuern. Ein Beispiel dazu beschreibt Gerald
Hüther (2006): wenn Sie im Wald spazieren gehen und etwas vorbei huscht, nehmen Sie
über das Auge war, dass etwas vorbei huscht. Dieser Reiz geht auch in den Thalamus. Dort
werden nun Programme aufgerufen, die Alarm bedeuten: das limbischen System gibt Alarm,
es kommt zu Schreck- und Fluchtreaktionen. So würde es ablaufen, hätte man keine
Großhirnrinde, mit der man lernen kann. Haben Sie nun gelernt, dass es nicht nur giftige
Schlangen gibt, sondern auch, wie eine ungefährliche Blindschleiche aussieht, dann haben
Sie die Chance zu erkennen, dass es sich bei dem vorbei huschenden Etwas um eine
Blindschleiche handelt. Und so meldet das Großhirn an das limbischen System: du kannst
dich beruhigen, es ist nicht gefährlich - und die Angstreaktion hört auf. Die Großhirnrinde
kann also aufgrund gemachter Erfahrungen Bewertungen des Wahrgenommenen
vornehmen, die automatische Programme stoppen.
Wie entstehen diese Schaltungsmuster, wie werden diese Erfahrungen verankert? Die
Vorstellung, dass die Hirnentwicklung durch genetische Programme gesteuert wird, ist
mittlerweile als falsch nachgewiesen. Die genetischen Programme sind dafür verantwortlich,
dass Nervenzellen produziert werden; welche davon aber benützt werden und wie sie
untereinander vernetzt werden, wird nicht genetisch gesteuert: Zuerst einmal werden
wesentlich mehr Nervenzellen produziert, als nötig sind. Etwa ein Drittel unserer
Nervenzellen, die von den genetischen Programmen erzeugt werden, gehen bereits vor der
Geburt verloren. Die genetischen Programme erzeugen also einen Überschuss an
Nervenzellen, die, die nicht gebraucht werden, gehen wieder verloren. Die spätere Nutzung
entscheidet, welche Zellen erhalten bleiben. Dasselbe gilt für die Verschaltungsmuster im
Hirn. In jeder Hirnregion wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein Angebot hergestellt,
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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indem jede Zelle eine Vielzahl von Fortsätzen entwickelt, so dass ein dichtes Netz an
Verschaltungsoptionen entsteht. Wird immer wieder das gleiche Erregungsmuster
aufgebaut, werden diese spezifischen Verbindungen gestärkt und gefestigt. Dies beginnt
schon im embryonalen Zustand: Bereits das Ungeborene lernt zu atmen (interessanterweise
lernte es dabei zuerst das Ausatmen, weil sich die Lungen immer wieder mit Flüssigkeiten
füllen und der Embryo diese Flüssigkeit auspresst). Dies erinnert auch erklärend daran, dass
man über die Konzentration auf das Ausatmen an ganz frühe, tiefe Erfahrungen
herankommt. Somit ist ein Atemzentrum entstanden. Dasselbe Prinzip gilt auch für die
Entwicklung aller anderen neuronalen Netzwerke.
Unser Hirn besitzt also zu Beginn unseres Lebens eine wesentlich höhere Synapsendichte als
erhalten bleibt. Besonders nach der Geburt entwickelt sich speziell im Kortex eine Vielzahl
von Synapsen, die in der Zeit bis zur Pubertät wieder verloren gehen.
Und daher muss uns klar sein: Hirnentwicklung findet im lebendigen Leben statt. Deshalb
brauchen Kinder in diesen Phasen, in denen diese Vernetzungen etabliert und ausgebaut
werden, vielfältige Anregungen und vor allem die Bedingungen, unter denen sie dieses
Angebot nützen können.
Wir lernen bereits vor der Geburt eine Vielzahl von Inhalten, zum Beispiel auch Sprache.
Nach der Geburt hat jedes Kind die Präferenz, die Sprache zu erlernen, die es schon kennt.
Dies bleibt auch weiterhin so, wir lernen am liebsten das, was wir an schon Bekanntes
anbinden können. Während der Phasen der frühkindlichen Entwicklung reifen Zentren aus,
ein riesiges Überangebot an Schaltungen, das gemacht wird, so dass in der Zeit von der
Geburt bis zu drei Jahren das größte Angebot im Hirn gegeben ist, zum Beispiel auch
unterschiedliche Sprachen zu verankern. Lernt ein Kind in dieser Lebenszeit zum Beispiel
mehrere Sprachen gleichzeitig, so werden diese Sprachen dann auch an derselben Stelle im
Hirn miteinander vernetzt. Lernen wir Sprachen später, so fällt uns dieses Erlernen
wesentlich schwerer, weil die Sprachen in unterschiedlichen Bereichen des Hirns vernetzt
werden. Diese Aktivitäten der Hirnzellen sind mittlerweile in den bildgebenden Verfahren
darstellbar.
Unser Hirn wird also so, wie wir es bedienen, beziehungsweise, aus der Perspektive des
Kindes gesehen, wie es bedient wurde. Daher ist entscheidend, herauszufinden, wie diese
Vernetzungen, die neuronalen Netzwerke unter welchen Umweltbedingungen entstehen.
Und hier vernetzt sich auch die Neurobiologie mit den Sozialwissenschaften. Bis vor kurzem
haben wir noch nicht verstanden, wie sehr ein Kind durch seine vorgeburtlichen Erfahrungen
bereits geprägt wurde. Erst in den letzten Jahren ist erforscht worden (Hüther, 2007), wie
viel bereits vorgeburtlich gelernt werden konnte. So zum Beispiel ist die Einstellung des
Blutzuckerspiels vorgeburtlich gelernt. Wenn die Mutter zum Beispiel während der
Schwangerschaft einen latenten Diabetes entwickelt und der Blutzuckerspiegel der Mutter
schwankt, kann im Hirn des Kindes kein Sollwert für den Blutzuckerspiegel entwickelt
werden, der einstellen kann, wann Hunger und wann Sättigung gegeben ist. Ist das Kind
dann geboren, weiß es nicht, wann es satt ist, und ist in seiner Nahrungsaufnahme durch
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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das, was ihm die Mutter gibt, gesteuert, aber nicht durch die tatsächliche eigene
Bedürfnislage. Diese Kinder sind dann vollkommen davon abhängig, was ihnen die Mutter an
Nahrung anbietet und damit Risikokinder zur Entwicklung einer Adipositas.
Durch dieses Wissen über die allerfrühesten interuterinen Lernerfahrungen ist auch die
Weitergabe erworbener Eigenschaften geklärt Vieles wird also schon vorgeburtlich gelernt,
viel mehr vorgeburtlich angelegt als bis vor kurzem bekannt war. Wir haben bisher
vollkommen übersehen, dass die Monate vor der Geburt Weichenstellungen darstellen, die
in ihrer Komplexität kaum zu überbieten sind. Entscheidende Lern- und Prägungsprozesse
finden statt, Fundamente werden gelegt. Dies gilt natürlich nicht nur für die Steuerung
vitaler Funktionen, sondern auch für frühe Bindungsbeziehungen: implizit wird vorgeburtlich
die Erfahrung der Verbindung gemacht. Dies erzeugt die Erwartung, dass diese
Verbundenheit Fortsetzung findet: das Kind möchte in dieser Verbundenheit bleiben und
sucht daher alles, was an diese Verbundenheit erinnert. Findet es Zeichen der
Verbundenheit, gibt dies dem Kind Sicherheit und Geborgenheit. Das Oxytocin, ein Hormon,
das beim Geburtsvorgang eine wesentliche Rolle spielt, da es die Wehen auslöst und die
Muttermilchejektion stimuliert, wird vom Kind aus der Muttermilch aufgenommen und
erzeugt im Hirn des Kindes Oxytocin-spezifische Erregungsmuster. Dabei schaut das Kind
beim Stillen, also zeitgleich, die Mutter an. Daraus entsteht das Erregungsmuster des
Anschauens und des Oxytocin-spezifischen Erregungsmusters in Vernetzung, und in der
Folge löst das Anschauen der Mutter dieses Erregungsnetzwerk aus, das Kind fühlt sich „im
Blick“ der Mutter geborgen (siehe: „der Glanz in den Augen der Mutter“, Kohut, 2001).
Daher wird Oxytocin als Bindungshormon bezeichnet: Versuche mit Erwachsenen zeigten,
dass Oxytocin, in die Nase gespritzt, das Vertrauen dieser Personen, in Tests gemessen,
deutlich erhöht (Hüther, 2006). Die beiden Muster: Vertrauen und Oxytocin, sind also
miteinander verknüpft worden. So entsteht eine Sicherheit bietende Bindungsbeziehung mit
Unterstützung unserer hormonellen Systeme. Dabei wird auf vorgeburtliche Erfahrungen
zurückgegriffen.
Die zweite Erfahrung, die jedes Kind macht, ist die Erfahrung, jeden Tag ein Stück zu
wachsen, so dass das Kind in die Welt mit dem Bedürfnis hineingeht, jeden Tag weiterhin ein
Stück über sich hinaus zu wachsen. Bezeichnen wir diese beiden Bedürfnisse als
Grundbedürfnisse des Kindes, so ahnen wir, was hier schief gehen kann. Gehalten in
klebrigen Bindungen kann man nicht über sich hinauswachsen; zu lockere Bindungen führen
dazu, dass das Kind zwar über sich hinaus wächst, aber den Realitätsbezug verliert (siehe
Individualpsychologie). Erweitern sich die Bindungen auf andere Bezugspersonen, werden
auch von diesen anderen Bezugspersonen Fähigkeiten und Fertigkeiten, Handlungs- und
Bewegungsmuster, übernommen, unabhängig davon, ob das Kind diese jetzt braucht oder
nicht. Dass die Spiegelneuronen dabei eine besondere Rolle spielen, ist bekannt
Das bedeutet: synchron aktivierte Erregungsmuster werden vernetzt, so dass später ein
Stimulus aus diesem Netzwerk ausgereicht, um das gesamte Netzwerk zu aktivieren. Das gilt
auch für emotionale Reaktionen. Diese Koppelungsphänomene führen dazu, dass zum
Beispiel bestimmte Gerüche bestimmte Kindheitserinnerungen als komplexe
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Erfahrungssituationen wieder wachrufen. Dies können schöne Erinnerungen sein, es gilt aber
natürlich genauso auch für aggressive Koppelungsprozesse, wie zum Beispiel für eine
einschneidende Stimme, die mit Angst assoziiert wird, für bestimmte Körperhaltungen, so
dass später ein bestimmter Sinneseindruck entweder Angst oder auch Geborgenheit auslöst,
je nachdem, wie diese Koppelungen gestaltet sind.
Immer wieder fällt bei psychiatrischen Störungsbildern auf, dass die präfrontale Hirnrinde
hypoaktiviert ist. Dieser Bereich scheint also die Hirnstruktur zu sein, die die anderen
Bereiche des Kortex koordiniert. Dieses Hirnareal entwickelt sich sehr langsam, hört
wahrscheinlich nie auf, neue Fortsätze zu bilden, neue Verknüpfungsangebote zu machen.
Durch genetische Programme ist dieser Bereich nicht mehr erklärbar. Das, was das Selbstbild
eines Menschen ausmacht, die Ich-Funktionen, wird in Form entsprechender
Repräsentanzen im präfrontalen Kortex angelegt. Wenn die Entwicklung des Kindes durch
Angstreize irritiert wird, entstehen im Hirn sich unspezifisch ausbreitende Erregungen,
wodurch in der Folge keine präfrontalen Netzwerke etabliert werden können. Fallen die
hochkomplexen handlungsleitenden Schaltungsmuster aus, weil ein zu hoher
Erregungsanteil besteht, dann funktionieren die komplexen Strukturen, wie zum Beispiel
zwischenmenschliche Beziehungen, nicht mehr, sondern wir fallen zurück auf kindliche
Strukturen, wie etwa Zornausbrüche. Daher sind Sicherheit bietende Bindungsbeziehungen
für die Entwicklung des präfrontalen Kortex und damit der Selbststeuerung und
Selbstkontrolle unabdingbar.
Den Entwicklungsverlauf des Ausbaus der synaptischen Vernetzungen können wir auch
altersmäßig beobachten: Nach der Geburt wird ein Überangebot an synaptischen
Verbindungen zur Verfügung gestellt, das sich ab dem Alter von etwa sechs Jahren
umstrukturiert: nicht in „Betrieb“ genommene Vernetzungen werden bis zur Pubertät
laufend abgebaut.
Die kognitive Ebene: Entwicklung der Wahrnehmung und des Denkens
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Das Modell zur Entwicklung der Wahrnehmung von Felicie Affolter:
Modell zur Entwicklung der
Wahrnehmung nach F. Affolter
serial
intermodal
visuell
auditiv
taktil-kinästhetisch
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
modalitätsspezifisch
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Das „Sindelar-Modell“
serial
intermodal
modalitätsspezifisch
auditiv
visuell
WAHRNEHMUNG
taktil-kinästhetisch
GEDÄCHTNIS
AUFMERKSAMKEIT
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Die kognitive Entwicklung des Kindes nach Jean Piaget:
Die Entwicklung des Denkens
geboren am 9. August 1896 in Neuenburg, gestorben am 16. September 1980 in Genf
Vor Piaget war die Psychologie von zwei diametral entgegengesetzten theoretischen
Zugängen dominiert: dem Behaviorismus und der Psychoanalyse. Trotz der Gegensätzlichkeit
hatten beide Richtungen eines gemeinsam: das Kind wird als passiver Empfänger seiner
Erziehung gesehen, nicht als aktiver Teilnehmer an seiner Entwicklung.
Piaget dagegen betrachtet das Kind als interaktiv mit seiner Umwelt sich entwickelnd und so
als Konstrukteur der eigenen Welt im ständigen Austausch mit der Umgebung. Daher wird
Piagets Theorie der Entwicklung als konstruktivistisch bezeichnet.
Grundlegende Konzepte von Piagets Theorie:
Das Denken von Kindern und Erwachsenen unterscheidet sich qualitativ.
Menschliche Intelligenz = am höchsten entwickelte Form der Anpassung (Adaptation)
Intelligenz = organisierte Gesamtheit von kognitiven Strukturen des Organismus:
„kognitive Schemata“
Denken schreitet von Geburt an von der sinnlichen Wahrnehmung zu immer
differenzierteren Lösungsformen auf abstrakt-begrifflicher Grundlage fort.
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Entwicklung strebt mit Hilfe von zwei komplementären Mechanismen ein Gleichgewicht mit
seiner Umwelt an:
Assimilation: Die Umwelt wird so behandelt, dass sie in die eigenen Strukturen passt.
Objekte und Ereignisse werden aufgenommen = Anpassung DER Umwelt
Akkomodation: Die eigenen Strukturen werden an die Umwelt angepasst. Kognitive
Strukturen werden abgeändert = Anpassung AN die Umwelt.
Jedes intelligente Verhalten auf jeder Stufe der kognitiven Entwicklung: Akkomodation und
Assimilation im momentanen Zustand des Gleichgewichts = Äquilibration.
Dadurch verändern sich die kognitiven Strukturen, d.h. die geistigen Instrumente, mit denen
die Welt begriffen wird. Sie differenziert sich aus (die Realität kann immer genauer
verstanden werden), immer mehr Welt kann integriert werden, und es kann immer mehr
Distanz vom eigenen Standpunkt genommen werden (Dezentrierung). Die kognitive
Entwicklung wird von inneren Gesetzmäßigkeiten gesteuert, ist aber auf eine vielfältige
Umwelt angewiesen, die die kognitiven Prozesse anregt.
Sie verläuft in aufeinander aufbauenden Stufen, die sich durch einen qualitativ anderen
Zugang zur Realität unterscheiden:
Umweltanpassung ist KEIN passiver Vorgang:
Prozesse der Anpassung: Assimilation Akkomodation
Kognitive Entwicklung = Abfolge von Gleichgewichtszuständen , fließendes Gleichgewicht,
= Permanenter Äquilibrationsprozess
VIER qualitativ unterschiedliche Stufen oder Stadien der Entwicklung des Denkens:
1. Sensomotorische Intelligenz:
etwa 0 bis 2 Jahre:
- Üben angeborener Reflexe
- primäre Kreisreaktionen (1.-4. Monat): Säugling entwickelt erste sensumotorische
„Gewohnheiten“ und entdeckt dabei neue Aktivitäten
- sekundäre Kreisreaktionen (4.-12. Monat) entdeckt das Kind, dass seine eigenen
Handlungen Folgen / Ergebnisse in seiner Umgebung nach sich ziehen. Sind diese für das
Kind interessant und angenehm, wird es diese Aktivitäten wiederholen.
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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- tertiären Kreisreaktionen (12.-18. Monat) beginnt das Kind seine bereits erworbenen
Schemata auf unterschiedlichste Situationen anzuwenden und entwickelt auch neue
Handlungsschemata, indem es immer Neues ausprobiert.
2. präoperatives Denken:
etwa bis Schuleintritt
-
-
Symbolisches und vorbegriffliches Denken (2.-4. Lbj.): die Wirklichkeit wird durch
Zeichen (z.B. Wörter) ausgedrückt. Typisch für dieses Stadium sind die symbolische
Vorstellung, in der das Kind auch die Fähigkeit zur Nachahmung entwickelt und das
symbolische Spiel, bei dem das Kind Scheinhandlungen durchführt (z.B. eine Puppe
füttern).
Anschauliches Denken (4.-7.Lbj.): Denken ist von Anschauung geleitet, das Kind bleibt
in diesem Stadium noch phänomengebunden und egozentrisch, weil sich sein
Denken und Handeln nur auf die augenblickliche Situation und den eigenen
Standpunkt bezieht.
3. konkret-operatorisches Denken:
-
etwa 6 bis 12 Jahre
Die gedanklichen Operationen (=innerlich ablaufende Handlungssequenzen) werden
nun reversibel (=umkehrbar), sind aber noch stark von der Manipulation an
konkreten Objekten abhängig. Das Kind kann Aufgaben mit konkreten
Anschauungshilfen und bildhaften Darstellungen lösen.
4. formal-logische Operationen:
-
etwa ab 12 bis ins Erwachsenenalter
Theorien und Hypothesen können entwickelt werden, die in keiner direkten
Beziehung zur Realität stehen müssen und die auch über aktuelle Situationen
hinausgehen können. Schlussfolgerndes und abstraktes Denken wird möglich.
Piagets Theorie wurde oft als genetische Reifungstheorie missverstanden:
Die Entwicklung der Intelligenz vollzieht sich nicht in streng hierarchisch
aufeinanderfolgenden Stufen, sondern durch eine kontinuierliche Ausweitung und
Vernetzung mit anderen Fähigkeiten. In den meisten Situationen sind sensomotorische,
kognitive und soziale Intelligenz, Gefühle, Werte und Ziele gleichzeitig gefordert. Piaget hat
immer wieder deutlich gemacht, dass die kognitive Entwicklung ohne den Einfluss der
sozialen Interaktion nicht verständlich ist. Ohne soziale Beziehungen würde das Individuum
die verschiedenen Formen seines Egozentrismus nicht überwinden können.
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Jerome S.Bruner´s Theorie der kognitiven Entwicklung
Geboren 1915 in New York
Voraussetzung der kognitiven Entwicklung ist ein inneres Speicherungs- und
Informationsverarbeitungssystem; die Welt wird in einem Symbolsystem repräsentiert, das
über unmittelbare Sinneseindrücke und Erfahrungen hinausgeht.
Bruner unterscheidet drei Stufen der Entwicklung, wobei mit zunehmendem Alter und mit
zunehmender Erfahrung das symbolische System die Vorherrschaft gewinnt, die anderen
Systeme aber weiterhin verwendet werden.
 Enaktive Stufe: Das Kind begreift seine Umwelt über den handelnden Umgang mit
ihr;
 Ikonische Stufe: Bildhafte Vorstellungen sind der Informationsträger; das Kind ist
„Gefangener“ seiner Wahrnehmungen
 Symbolische Stufe: Symbolsysteme ersetzen das Handeln ohne Denken und das an
die Wahrnehmung gebundene Verständnis; Sprache, Logik und Mathematik spielen
nun eine Rolle.
Verhalten des Kindes wird im Zuge der Entwicklung immer weniger von Außenreizen
abhängig. Im Zusammenhang mit dem Spracherwerb stellt ein innerer Vermittlungsprozess
die Beziehung zwischen Reiz und Reizantwortverhalten her. Die sich entwickelnde Fähigkeit
zur Selbstbewusstheit beruht auf der Fähigkeit, vergangene und zukünftige Aktionen zu
beschreiben. Systematische Interaktionen zwischen einem Betreuer und dem Lernenden
sind notwendig
Sprache ist der Schlüssel zur kognitiven Entwicklung, sie kann eine Vermittlung zwischen den
verschiedenen Ereignissen der Welt herstellen. Mit zunehmender kognitiver Entwicklung
kann man mit mehreren Alternativen simultan umgehen, gleichzeitig mehrere Handlungen
durchführen und die Aufmerksamkeit nacheinander verschiedenen Situationen widmen.
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Die Entwicklung der Sprache
(Slater u Bemner, 2006, S 213)
Menschliche Sprache ist ein Kommunikationssystem, ein Werkzeug, mit dem Sprechende
miteinander kommunizieren. Die Fähigkeit zur Kommunikation ist nicht ausschließlich dem
Menschen vorbehalten. Kommunikationssysteme konnten auch bei anderen Lebewesen, wie
Bienen, Löwen und Delphinen gefunden werden. Allerdings haben deren
Kommunikationssysteme nicht alle Charakteristika, die in der menschlichen Kommunikation
gefunden werden. Die menschliche Sprache ist die komplexeste und differenzierte. Die
menschliche Sprache ist ein symbolisches, von Regel in geleitetes System.
Konversation ist durch Wechselseitigkeit gekennzeichnet. Wechselseitiges Verhalten ist
bereits in den frühesten Interaktionen zwischen Mutter und Kind zu beobachten.
Die Entwicklung des phonologischen Systems
Jede Sprache hat ihr eigenes phonologisches System. Um kommunizieren zu können, um
Sprache erlernen zu können, müssen Kinder zuerst aus dem „Sprechstrom“ einzelne
Phoneme isolieren und segmentieren. Dies erlernen Kinder - spezifisch für die Sprache, von
der sie umgeben sind, - bereits in den ersten Lebensmonaten: Kinder sind also zuerst
„muttersprachliche Zuhörer“. Bis zum Alter von etwa sechs Monaten können Kinder eine
Vielzahl von Phonemen unterscheiden, auch die, die in der Muttersprache nicht
vorkommen. Diese Fähigkeit geht durch die sprachspezifische Erfahrung, die das Kind macht,
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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bis zum Alter von etwa 12 Monaten verloren. (Zum Beispiel: Kinder, die Phoneme der
deutschen Sprache hören, lernen das Repertoire der deutschen Phoneme, Kinder, die in
einem Umfeld aufwachsen, in dem chinesisch gesprochen wird, lernen, chinesische
Phoneme wahrzunehmen.)
Sprachproduktion
Die ersten Geräusche, die Babys produzieren, sind reflexgebunden, wie zB: husten, niesen,
rülpsen. Bereits in den ersten beiden Lebensmonaten produzieren Babys unterschiedliche
Arten von Weinen, wenngleich Eltern diese häufig nicht entsprechend zuordnen können.
Im Lebensalter von etwa zwei bis etwa vier Monaten beginnen Babys zu lachen und
Geräusche miteinander zu kombinieren – zu „gurren“. Üblicherweise findet in diesem
Lebensalter bereits eine interaktive Vokalisation zwischen Eltern und Kind statt: Eltern
gurren zurück, das Baby beantwortet dies wieder gurrend.
Im Alter von etwa vier bis etwa sechs Monaten spielen Babys mit ihrer eigenen
Lautproduktion, beginnen also zu lallen, und produzieren dabei eine Vielfalt von Geräuschen
und Lautkombinationen.
Im Alter von etwa sechs bis etwa zehn Monaten produzierenden Babys Lautkombinationen,
die wortähnlich klingen. Dabei reduplizieren sie Silben – „kanonisches Lallen“
Zusammenfassung
- Präverbale Phase
Lautwahrnehmung
Differenzierung von Phonemen (Unterscheidung von Sprachlauten) in Wahrnehmung und
Produktion (z.B. /r/, /l/; wir können diese beiden Laute voneinander unterscheiden,
Chinesen hingegen nicht).
Erste Laute — voraussagbare Reihenfolge
Gurren - silbenähnlich (z.B. „gu“, „ba“)
Lallen
- redupliziert (z.B. „mama“,“gege“)
- nicht dupliziert (z.B. „maga“,“dagu“), d.h. verschiedene Silben
Stadien der präverbalen Phase
Erste Laute: 0.- 1. Monat
Befindet sich der Säugling in einer entspannten Situation, produziert er Laute mit offenem
Mund ohne Lippenbewegungen
Gurren: 2.- 3. Monat
Erste silbenähnliche Verbindungen, die mit Verschlusslauten beginnen, werden produziert
(Gurrlaute) und vorgesprochene Vokale nachgeahmt.
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Expansion: 4.- 5. Monat
Die produzierten Laute werden realen Sprachlauten immer ähnlicher.
Kanonisches Lallen: 6.- 9. Monat
Das kanonische Lallstadium wird erreicht, wenn der Säugling durch das Reduplizieren von
Silben (dada-dada) wort- oder satzähnliche Intonationen erzeugt. Zeitgleich oder später
kommt die Verbindung unterschiedlicher Silben (daba) hinzu.
Erste Wörter:10.- 14. Monat
Die phonologische Entwicklung mündet in die Produktion der ersten Wörter ein:
Objektwörter – Aktionswörter – Zustandswörter
Der Wortschatz des Kleinkindes entwickelt sich explosionsartig, dabei ist die interindividuelle
Variation enorm: Im Alter von 16 Monaten: 50% sprechen ca. 50 Wörter, Streuung von 8 bis
160 Wörtern!
Holophrasen: = Einwortsätze. Bedeutung des Wortes hängt vom Zusammenhang ab (zum
Beispiel: „Schuhe“ kann heißen: Schuhe ausziehen oder Schuhe anziehen)
Zweiwortsätze: etwa 18 bis 24 Monate
Drei- und Mehrwortsätze: im 3. Lebensjahr: Konjugieren und Deklinieren tritt erst bei Dreioder Mehrwortsätzen auf.
„Baby-talk“ der Erwachsenen:











Ersetzung schwieriger Laute durch einfachere,
Hervorhebung neuer Information durch Betonung,
Übertreibung der Intonationskontur von Äußerungen,
Tonhöhe beim Sprechen ist insgesamt höher,
Ersetzung von Pronomen der ersten und zweiten Person durch Eigennamen,
Verwendung von Diminuitiven,
längere Pausen an Phrasen- und Satzgrenzen,
kurze und grammatisch korrekte Sätze,
Wiederholung von Wörtern und Satzteilen,
begrenzter kindgemäßer Wortschatz,
Durchführung ritualisierter Sprachspiele.
Im dritten Lebensjahr nimmt die Fähigkeit des Kindes, syntaktisch komplexere Sätze zu
gestalten, rapide zu. Übergeneralisierungen syntaktischer Regeln führen zu kreativen
Wortneuschöpfungen:
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(aus Slater u Bremner, 2003, S 228)
Die Vergrößerung des Wortschatzes geschieht in Form eines semantischen Systems, nicht in
Form von Wortlisten. Semantische Systeme zu bilden ist jedoch nicht nur ein Aspekt der
Wortschatzerweiterung, sondern insgesamt der kognitiven Entwicklung. Daher kann
Sprachentwicklung natürlich niemals unabhängig von der gesamten kognitiven Entwicklung
des Kindes, ja auch nicht unabhängig von seiner emotionalen und sozialen Entwicklung
verstanden werden, sondern immer damit vernetzt. Genauso wenig kann Sprachentwicklung
unabhängig von der Entwicklung der Informationsverarbeitung (siehe Affolter) verstanden
werden, sondern darauf basierend.
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Theorien zum Spracherwerb
Nativismus:
wichtigster Vertreter: Noam CHOMSKY, geb. 1928 (Philadelphia, USA)
Sprache entwickelt sich aus angeborenen, universellen sprachlichen Kategorien, d.h. jeder
Mensch bringt eine genetische Ausstattung zum Spracherwerb mit. Diese sogenannte
„Universalgrammatik“ beinhaltet Prinzipien, die dann beim Erwerb einer Einzelsprache
durch das kleine Kind parametrisch festgelegt werden (z.B. ob in der zu erwerbenden
Sprache ein pronominales Subjekt realisiert werden muss (Deutsch) oder nicht (Italienisch)).
Behaviorismus
wichtigster Vertreter: Burrhus Frederic SKINNER, geb 1904 in New York, gestorben 1990
Nach Skinner unterliegt der Erwerb der Sprache denselben Gesetzmäßigkeiten wie der
Erwerb jeden anderen Verhaltens. Sprache ist zunächst durch Bedingungen in der Umwelt
des Kindes geformt. Der Erwerb der Sprache ermöglicht in der Folge das regelgeleitete
Verhalten, durch das das Individuum z.T. von der unmittelbaren Kontrolle durch die Umwelt
unabhängig wird.
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Kognitivismus und Konstruktivismus
wichtigster Vertreter: Jean Piaget
Spracherwerb wird verstanden als eine besondere Art des geistigen Lernens auf der
Grundlage der Symbolfunktion. Piaget ist der Meinung, dass Sprache ein Moment der
Gesamtentwicklung beim Kind ist (wie Denken, Handeln, Urteilen, etc.), das sich nicht isoliert
für sich betrachten lasse, sondern immer in Auseinandersetzung mit der Welt und mit dem
Weltbild des Kindes gesehen werden müsse. Dabei gehe das Denken der Sprache voraus. Die
Kognition kann im symbolischen Gefüge der Sprache Ausdruck finden.
Lew Wygotski, geb. 1896 in Weißrussland, gestorben 1934 in Moskau,
hat den Sprach- und Begriffserwerb als sozial konstruiertes Wissen
verstanden – Wissenserwerb allgemein ist Resultat der sozialen
Interaktion.
Interaktionismus und Pragmatik
Wichtige Vertreter sind Jerome Bruner, Catherine Snow und Michael Tomasello,
Spracherwerb wird in dieser Theorie auf die Interaktion zwischen Eltern und Kind begründet.
Bezugspersonen entwickeln ein Supportsystem, mit dem sie den Spracherwerb in relevanten
Situationen stützen (z.B. beim Versteckspiel den Zugang zu Dingen und sie bezeichnenden
Ausdrücken). Wesentlicher Aspekt ist dabei, dass menschliche Partner ein Handlungssystem
und ihre Intentionen teilen können: „shared intentions“ sind eine Grundlage für das spezifisch
menschliche Sprachverhalten.
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Störungen der kognitiven Entwicklung
Sprachstörungen:
Aphasien:
Formen der Aphasie:
- totale Aphasie: Sprache wird weder vestanden noch gesprochen
- amnestische Aphasie: Wortfindungsstörungen stocken den an sich gut erhaltenen
Sprachfluss
- motorische Aphasie (Broca): erheblich verlangsamter Sprachfluss, schlechte
Artikulation, Paraphasien, Dysgrammatismus, Sprachverständnis ungestört (zu
unterscheiden von der Dysarthrie: verlangsamter Sprechfluss, verwaschene
Aussprache, kein Dysgrammatismus)
- sensorische Aphasie (Wernicke): Spontansprache wird nicht verstanden,
phonematische und semantische Paraphasien, Sprachfluss erhalten,
Nachsprechen problemlos, aber phonematische Entstellung der Wörter
phonematische Paraphasien: Veränderung der Lautstruktur der Wörter
Semantische Paraphasien: ein Wort wird durch ein anderes der Standardsprache ersetzt
Wortfindungsstörungen
Neologismen: = Wortneuschöpfungen
Agrammatismus, Dysgrammatismus, Paragrammatismus: Grammatik ist falsch, einfache
Wortreihen ohne grammatikalische Strukutr (zB „Ball haben“)
Logorrhoe = montononer, ausgeprägter Redefluss
Mutismus: ist keine kognitive Störung! = Verweigerung der sprachlichen Kommunikation,
Sprachkompetenz aber vorhanden
Sprechstörungen:
Dysarthrie (s.o): Artkulationsstörung im Vordergrund, aber auch Stimme und
Atmung kann betroffen sein. Eigentlich Bewegungsstörung (stärkste Ausprägung:
Anarthtrie)
- Poltern und Stottern: Störungen des zusammenhängenden Redeflusses. Poltern:
überhasteter Sprechimpuls, Versprecher, gesteigertes Sprechtempo
Stottern: Hemmung und Unterbrechung des Sprechablaufes, manchmal bestimmte Worte
oder Silben ( psychodynamischer Faktor), Mit- und Ausgleichsbewegungen, klonisch =
Wiederholungen, tonisch = Pressen
- Näseln: Störung der Aussprache durch dysfunktionales Zusammenspiel der
Vorgange in Kehlkopf und Rachenraum
Stammeln: Unfähigkeit, einzelne Phoneme regelrecht auszusprechen (Rhotazismus,
Sigmatismus, Lambdazismus, Schetismus..)
-
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Lernstörungen:
Legasthenie
Legasthenie ist:
laut internationalem Klassifikationssystem der WHO: ICD 10
F 81.0 Lese- und Rechtschreibstörung
Diagnostische Kriterien:
A. Entweder 1. oder 2:
1. Ein Wert der Lesegenauigkeit und/oder im Leseverständnis, der
mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Niveaus liegt, das
aufgrund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu
erwarten wäre. Die Lesefertigkeiten und der IQ wurden in einem individuell
angewandten entsprechend der Kultur und dem Erziehungssystem des
Kindes standardisierten Test erfasst.
2. In der Vorgeschichte bestanden ernste Leseschwierigkeiten oder es liegen
Testwerte vor, die früher die Kriterien A.1. erfüllten, und ein Wert in einem
Rechtschreibtest, der mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb
des Niveaus liegt, das aufgrund des chronologischen Alters und des IQ
des Kindes zu erwarten wäre.
Brigitte Sindelar
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B. Die unter A beschriebene Störung behindert die Schulausbildung
oder alltägliche Tätigkeiten, die Lesefertigkeiten erfordern.
C. Nicht bedingt durch Seh- oder Hörstörungen oder eine neurologische
Krankheit.
E. Ausschlussklausel: Non-verbaler IQ unter 70 in einem
standardisierten Test.

Legasthenie
=
das Kind kann nicht so gut lesen und
schreiben wie aufgrund seiner
anderen Fähigkeiten zu erwarten
Brigitte Sindelar
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wäre.
Brigitte Sindelar
B. Sindelar: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung
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Legastheniker sind Kinder,
die Laute und Buchstaben
di e i ntensi vere Schulungderen Gehirnhälften
nicht miteinander verbinden
i m Schrei ben und Lesenicht
n
können in der auditiven
die Schwächen
zusammenarbeiten
brauchen al s i m
Wahrnehmung haben
Unterrícht stattfi ndet.
die b und d verwechseln und
derenverdrehen
rechte Gehirnhälfte
Buchstaben
und/oder Zahlen
die Schwächen
in der
?
die Sprachlaute
richtig
dienicht
sich
räumlich nicht
dominiert
visuellen Wahrnehmung
wahrnehmen
= eine
orientieren
können =
die anders,
aber können
haben
phonematische
Schwächen in der
besondersDifferenzierungsschwäche,
intelligent
Raumorientierung
die sich Wortbilder
keine phonologische
haben
ist
die Reizesind=Legasthenie
nicht richtig
nicht merken
Bewusstheit haben
können=
unterscheiden
können =
ein Talentsignal
MerkfähigkeitsDifferenzierungsschwächen haben
schwächen haben
am Symptom:
Lesen und
Rechtschreiben
orientiert:
an einzelnen oder
mehreren
Basisfunktionen
orientiert
Methoden der
Legastheniebehandlung:
an der Technik des
Erlernens orientiert
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Dyskalkulie
Begriffsklärung
Andere Begriffe für ‚Rechenschwäche’ sind ‚Rechenstörung’, ‚Dyskalkulie’, Akalkulie’ oder
auch ‚Arithmasthenie’.
In der wissenschaftlichen Forschung gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze und
Definitionen, wobei in einigen wesentlichen Punkten Einigkeit herrscht:
 Es gibt keine monokausalen Erklärungen für Rechenschwäche.
 Nicht das Kind hat eine Schwäche, sondern das Kind ist schwach im Rechnen.
 Es gibt zwar immer wieder ähnliche Grundmuster, aber die Erscheinungsformen
sind letztlich genauso unterschiedlich wie die Gründe für Rechenschwäche.
Laut unterschiedlichen Studien gelten zwischen 2% und 15% der Volksschüler als
rechenschwach, wobei nach neueren Studien 6% der Volksschüler eine massive
Rechenstörung aufweisen.
1993 hat die WHO (Weltgesundheitsorganisation) die Rechenstörung in den ICD-10
(International Classification of Deseases, 10. Ausgabe) aufgenommen:
Im Kapitel ‚umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten’ definiert die WHO
im Unterkapitel F81.2 Rechenstörung als „umschriebene Beeinträchtigung von
Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenz-minderung oder eine
unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung
grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.
...“.
Grundsätzlich positiv ist, dass Rechenschwäche durch die Aufnahme in den ICD-10 -auch im
schulischen Umfeld- ernster genommen wird. Allerdings entspricht diese Definition einer
sog. Diskrepanz-Definition, die jedoch in der neueren sonderpädagogischen Forschung als
überholt gilt. Bei dieser Betrachtungsweise wird auf die Diskrepanz zwischen den
allgemeinen kognitiven Leistungen des Kindes und seiner Rechenschwäche abgestellt. Ein
rechenschwaches Kind mit unterdurchschnittlicher Lese- und Rechtschreibleistung gilt somit
nicht als rechenschwach und erhält dann möglicherweise keinen Zugang zu entsprechenden
Fördermöglichkeiten.
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Teilleistungsschwächen:
Symptom:
Lernund/oder
Verhaltensstörung
Teilleistungsschwäche
Teilleistungsschwächen sind Entwicklungsdefizite in den Basisfunktionen höherer
Denkprozesse, die sich sowohl in der Leistung als auch im Verhalten des Kindes abbilden
Kognitive Entwicklung ist nie unabhängig von emotionaler und sozialer Entwicklung zu
sehen, sondern immer im Netzwerk mit der somatischen, sozialen und emotionalen
Entwicklung.
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Literaturhinweise:
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Perception, interaction and language: Interaction of daily living: The root of development.
New York: Springer (10 Ausg.). (K. Schulte, & W. Katein, Hrsg.) Villingen-Schwenningen:
Neckar.
Hüther, G. (2005 [2001]). Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn (5. Ausg.).
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Piaget, J. (2003 [1981]). Meine Theorie der geistigen Entwicklung. (R. Fatke, Hrsg., & H.
Kober, Übers.) Weinheim-Basel-Berlin: Beltz.
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am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Sindelar, B. (2011). Partielle Entwicklungsdefizite der Informationsverarbeitung:
Teilleistungsschwächen als Ursache kindlicher Lern- und Verhaltensstörungen (2. Ausg.).
Wien: Austria Press.
Sindelar, B. (2006). Die neue Kinderkrankheit Legasthenie. Zeitschrift für Pädiatrie und
Pädologie, I, S. 16 - 22.
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psychologischen und psychotherapeutischen Entwicklungsforschung. Münster: Waxmann.
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Psychology (4. Ausg.). Malden-Oxford-Carlton: Blackwell Publishing.
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