Für wen hätte Jesus gestimmt Ein neuer Evangelikalismus Autor: Frank Unger Datum: 29. März 2008 Etwa ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung versteht sich selbst als »evangelicals«, was im Deutschen meist mit »Evangelikale« übersetzt wird. Das gibt keinen richtigen Sinn, denn niemand kann sich etwas Konkretes darunter vorstellen. Die eigentlich der deutschen Begriffswelt angemessene Übersetzung müsste »Pietisten« lauten, denn denen entsprechen sie am ehesten. Denn es handelt sich um aktive protestantische Christen, die angeben, ihren besonders starken Glauben entweder einer ganz persönlichen Begegnung mit Jesus oder einem starken Bekehrungserlebnis (z.B. bei einer Missionskampagne) zu verdanken. In Amerika gibt es Massenbekehrungs-Kampagnen charismatischer (bzw. rhetorisch-werbepsychologisch versierter) Wander-Prediger (heute TV-Prediger) seit undenklichen Zeiten, weit vor der Unabhängigkeit. Aktiver Pietismus ist mindestens so typisch amerikanisch wie Apfelstrudel und die Begeisterung für von ausgewachsenen, uniformierten Männern gespielte Schlagballmatches.Aber auch in Deutschland und anderswo gab und gibt es pietistische Bewegungen und Glaubensgemeinschaften, die meisten von ihnen allerdings unbemerkt und abgeschottet von der normalen – säkularisierten oder nominell gewohnheitschristlichen – Bevölkerung. Ihr Reich ist gewöhnlich nicht von dieser Welt, und sie fühlen sich wohl in ihrer weitgehend politisch inaktiven Existenz. Auch in den USA war das lange Zeit so. Das änderte sich dort etwa um die Zeit der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Einige fromme Christen ärgerten sich über neuere Entwicklungen im sich rapide modernisierenden Amerika: Zum Beispiel, dass Frauen die Abtreibung erlaubt wurde, dass in den Schulen kultur-relativistische Ansichten vorgestellt wurden, dass die Nachkommen der ehemaligen schwarzen Sklaven nicht mehr wie gewohnt »an ihrem Platz« bleiben wollten und, last but not least, dass große Teile der Jugend des Landes es wagten, gegen einen von ihrer eigenen Regierung geführten (unerklärten!) Krieg öffentlich zu protestieren bzw. sich ihrer Teilnahme zu verweigern. . Damals entschloss sich 1|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/fuer-wen-haette-jesus-gestimmt.html Heruntergeladen am 07.04.2017 der im letzten Jahr verstorbene Baptisten-Pfarrer Jerry Falwell, die potentielle fromme Energie der erweckten Christen zum ersten Mal in gezielte politische Bahnen zu lenken. Er gründete eine Bewegung mit dem Namen »Moral Majority«. Ansprechpartner war die »schweigende Mehrheit« der schlicht-weißen Bevölkerung und ihre Ziele waren die landesweite Rehabilitierung einer »konservativen« Weltsicht sowie die Mobilisierung des Massenressentiments gegen liberale Modernität, gegen die gefühlte Aufmüpfigkeit von Frauen und Schwarzen, gegen abweichende sexuelle Lebensweisen, gegen Skepsis an der unbedingten moralischen Einzigartigkeit ihres Landes und gegen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der internationalen Privilegierung der Vereinigten Staaten von Amerika. F ü r etwas Konkretes waren sie eigentlich nicht, ausgenommen vielleicht für die Ansicht, dass es zutiefst unamerikanisch sei, sich in irgendeiner Weise der unter Reagan gestarteten neoliberalen Umwälzagenda zugunsten der internationalen renditeabhängigen Klassen entgegen zu stellen. Mit anderen Worten: pietistisch inspirierte protestantische Christen organisierten sich auf der Basis eines unbefriedigten Hasspotentials auf Neger, lateinamerikanische Immigranten, Feministinnen, Hippies, Schwule, Umweltschützer und schlechthin Gebildete, die sie für eine eingebildete »Elite« hielten, und stellten sich bedingungslos als Stimmvieh für die Republikanische Partei zur Verfügung. Die Moral Majority ging bald auf in die Christian Coalition, und als solche ist sie seit nunmehr über 20 Jahren ein fester Partner und verlässlicher Stimmenbeschaffer für die Republikanische Partei, sowohl bei Präsidentschafts- als auch bei sonstigen Wahlen. Damit wurde sie zur strukturellen Siegerpartei in den letzten dreißig Jahren. Das ist nicht weiter verwunderlich: Wer konstant bei einem Viertel der Bevölkerung quasi blanko als alleinige Partei der Wahl gilt und an Wahltagen auf die logistische Unterstützung von Hunderttausenden von ehrenamtlichen, aber hoch motivierten lokalen Wahlhelfern zurückgreifen kann, der hat schon einmal einen gewaltigen Vorteil gegenüber einem Gegner, der nichts Annäherndes an organisatorisch gefestigter Basis aufzuweisen hat.All dies ist eigentlich bekannt, zumindest regelmäßigen Lesern von stars and stripes. Aber nun gibt es Anzeichen, dass diese konvenable Liaison von armen frommen Christen und offen plutokratischen Republikanern sich erschöpft haben könnte. Die Anzeichen mehren sich, dass zumindest für Teile der nachrückenden Generation von Erweckten die bedingungslose Loyalität mit den Republikanern nicht mehr selbstverständlich ist. Wie die »Nation« in ihrer letzte Ausgabe 2|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/fuer-wen-haette-jesus-gestimmt.html Heruntergeladen am 07.04.2017 ausführlich berichtet, kann der demokratische Präsidentschaftskandidat – egal, ob es sich dabei um Barack Obama oder Hillary Clinton handeln sollte – mit bis zu einem Viertel der Stimmen weißer Erweckter rechnen. Unter Berücksichtigung einer ebenfalls zu erwartenden Zurückhaltung einer beträchtlichen Zahl des Restes, für John McCain zu stimmen und deshalb lieber gar nicht wählt, würde allein das die sichere Voraussage eines demokratischen Sieges ermöglichen.Die Gründe für diesen sich anbahnenden Strukturwandel in der politischen Orientierung der frommen Christen sind vielfältig. Zum einen natürlich gibt es eine generelle Enttäuschung über die Cheney/Bush-Regierung und eine zunehmende Unpopularität der Kriege im Irak und in Afghanistan. Zum anderen aber, so berichtet die »Nation«, lassen sich bei vielen jüngeren Evangelikalen und ihren geistlichen Führern einige Verschiebungen in ihren politischen Mobilisierungs-Themen beobachten: weg vom Kampf gegen »Babymord« und Schwulenehe, hin zu sozialen Fragen wie Armutsbekämpfung und Krankenversicherung.Generell kann man sagen, dass viele der traditionellen Hassthemen, mit denen die erste Generation der politisierten Pietisten die Massen mobilisiert hatten, inzwischen doch einiges von ihrer Kraft verloren haben. Vierzig Jahre Bürgerrechte und die erfahrene Selbstverständlichkeit einer multi-ethnischen und multikulturellen Gesellschaft, von der Rolle der Frauen ganz zu schweigen, haben bei der jüngeren Generation ihre Wirkungen nicht verfehlt. Oder anders gesagt: Die Figur eines ältlichen Mannes im taubenblauen Anzug, perückengestützter Elvis-Tolle, geweißten Zähnen im braungebrannten Gesicht und schwer-goldener Armbanduhr über den demonstrativ mit Brillantringen bestückten Predigerhänden gilt nicht mehr uneingeschränkt als Modell eines vorbildhaften »Christen«. Vielfach fühlen sich gerade jüngere Erweckte wieder mehr angesprochen durch das Bild Jesu als langhaariger Hippie mit sozialer Ader und Anpassungsschwierigkeiten an die weltlichen Autoritäten. Nicht, dass hieraus gleich eine neue Massenbewegung erwachsen würde – aber ein signifikanter Minderheitentrend ist es allemal. Schon jetzt wird selbst in traditionell konservativen Megakirchen mitunter die Parole ausgegeben, nicht einfach automatisch die Kandidaten einer Partei (ihr wisst schon, welche!) zu wählen, sondern sich genau zu überlegen, »wofür Jesus in vergleichbarer Situation gestimmt hätte«!Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was die »Nation« hier berichtet, dann stehen wir in der Tat vor einer epochalen Wahl 2008. Sie könnte nicht nur die Ablösung der Cheney/Bush-Regierung durch ein 3|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/fuer-wen-haette-jesus-gestimmt.html Heruntergeladen am 07.04.2017 demokratisches Staatsoberhaupt bringen, sondern darüber hinaus ein ganzes »re-alignment«, d.h. eine strukturelle Neu-Formierung der amerikanischen Parteien-Identifikation, oder anders gesagt: den Neu-Beginn einer strukturellen Mehrheitsherrschaft der Demokraten. Damit wäre dann zumindest der erste Schritt getan zu einer generellen Revitalisierung des Wohlfahrtsstaats und des Eingreifens des Staates in die Wirtschaft. In einem rein objektiven Sinn wird ein solcher Wandel auch notwendig sein, denn der augenblicklich von statten gehende rapide Verfall des Dollars ist höchstwahrscheinlich nicht bloß eine der immer wieder aufgetretenen Schwankungen in den internationalen Umtauschraten, sondern sieht aus wie ein strukturell unumkehrbarer Prozess, in dem die jahrzehntelangen Überkonsumtions-Gewohnheiten der US-Gesellschaft an die realen ökonomischen Verhältnisse in der Welt angepasst werden. Viele der jüngeren Christen in den USA sind nicht so einfältig, als dass sie gar nichts von den Zeichen der Zeit erkennen und die Gefahren für ihre eigenen Lebenschancen unter den Bedingungen einer massiv schrumpfenden Wertmasse nicht auch realistisch einschätzen könnten. 4|4 Quelle: http://www.rationalgalerie.de/fuer-wen-haette-jesus-gestimmt.html Heruntergeladen am 07.04.2017