Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke Notfälle in der psychotherapeutischen Praxis 1. Definitionen 1.1. Psychiatrischer Notfall 1.2. Psychiatrische Krise 2. Gründe für die Konsultation eines psychiatrischen Notfall- und Krisendienstes 3. Rechtliche Aspekte 4. Die wichtigsten psychiatrischen Notfälle 4.1 . Erregungszustände 4.2 . Suizidalität 4.3 . Bewusstseinsstörungen 4.4 . Katatonie und Stupor 4.5 . Drogennotfälle 4.6 . Weitere Notfälle 320 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke 1. Definitionen 1.1. Psychiatrischer Notfall durch eine psychische oder organische Krankheit bedingt erfordert eine sofortige, gezielte Therapie, um eine Gefahr für Leben oder Gesundheit des Patienten und evtl. anderer Personen, oder von anderen schwerwiegenden Folgen abzuwenden. 1.2. Psychiatrische Krise wenn Strategien zur Bewältigung belastender Krankheits- bzw. Umgebungsbedingungen zusammenbrechen keine direkte vitale Bedrohung Krisenintervention soll innerhalb kurzer Zeit (Tagen oder Wochen), eine Veränderung der zugrunde liegenden Bedingungen zu erreichen 2. Gründe für die Konsultation eines psychiatrischen Notfall- und Krisendienstes Auswirkungen einer bestehenden psychiatrischen Erkrankung (v.a. Schizophrenie und Suchterkrankungen) zwischenmenschliche Konflikte seelische Krisen Suizidversuch, Suizidalität 3. Rechtliche Aspekte Einwilligungsfähigkeit 1 Mutmaßliche Einwilligungsfähigkeit 2 1 Einwilligungsfähig ist, wer Art, Bedeutung und Tragweite (Risiken) der ärztlichen Maßnahme erfassen kann. (BGH NJW 1972, 335; OLG Hamm FGPrax 1997, 64). 2 Die mutmaßliche Einwilligung kommt dann in Betracht, wenn eine Einwilligung zwar erteilt werden könnte, aber aus tatsächlichen Gründen nicht erteilt werden kann oder hieran kein Interesse besteht. Voraussetzungen einer mutmaßlichen Einwilligung: es wurde weder eine ausdrückliche Einwilligung erteilt noch eine solche ausdrücklich abgelehnt, noch steht der Wille des Berechtigten erkennbar entgegen. Handlung entspricht dem hypothetischen Willen des Berechtigten die Handlung entspricht objektiv seinem Interesse, eine Einwilligung kann aber nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden oder die Handlung berührt kein schutzwürdiges Interesse des Verletzten. subjektives Rechtfertigungselement: Absicht, im Interesse des Berechtigten zu handeln oder Kenntnis, dass es seinen Interessen nicht widerspricht. 321 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke rechtfertigender Notstand (§34 StGB) Unterbringung (PsychKG) u.o. (Eil-)Betreuung (BGB) 4. Die wichtigsten psychiatrischen Notfälle: Erregungszustände Suizidalität Bewusstseinsstörungen Kataton-stuporöse Zustände Drogennotfälle 4. 1. Erregungszustände Wichtigste Merkmale: Steigerung von Antrieb und Psychomotorik Affektive Enthemmung und Gereiztheit Kontrollverlust, evtl. mit raptusartigen Gewalttätigkeiten Wichtigste Ursachen: Schizophrene Psychosen (z.B. erregte Katatonie) Manie Agitierte Depression Intoxikationen (Alkohol, Drogen) Hirnorganische Psychosyndrome (z.B. epileptischer Dämmerzustand) Psychogene Reaktionen im Rahmen von akuten Belastungsreaktionen oder Persönlichkeitsstörungen Internistische Erkrankungen (z.B. Hyperthyreose, Unterzuckerung) Verhalten des HPP: Einschätzung einer Bedrohung, die vom Patienten ausgeht (Angriff auf Bezugspersonen, Tragen von Waffen, Äußerungen über beabsichtigte Aggressionen) Klärung der Bewusstseinslage, da bei Erregten mit Bewusstseinsstörungen mit plötzlichen aggressiven Durchbrüchen zu rechnen ist Reizabschirmung (ruhige und ungestörte Atmosphäre, Patienten von Bezugspersonen wie Angehörigen trennen) Ruhe bewahren (zu forsches Auftreten kann die Aggressivität steigern) und SPD, ggf. Polizei anrufen Cave: Erregungszustände können kurzfristig abklingen („Ruhe vor dem Sturm“) und so ein falsches Bild von der tatsächlichen Gefährdung geben!!! 322 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke 4.2. Suizidalität Suizide treten manchmal raptusartig auf (v.a. bei Schizophrenien, melancholischer Depression), meist findet sich aber eine suizidale Entwicklung. Das präsuizidale Syndrom (nach Ringel) ist gekennzeichnet durch: zunehmende Einengung von Verhalten, Affekt, zwischenmenschliche Beziehungen Aggressionsstau und Wendung der Aggression gegen das eigene Ich Selbstmordphantasien und Selbstmordpläne und -impulse Nach Pöldinger werden folgende Phasen unterschieden: Phase der Erwägung von Suizid Phase der Möglichkeit des eigenen Suizids Phase der Ambivalenz Phase des Entschlußes Verhalten des HPP: Zur Krisenintervention: Herstellung einer hilfreichen, tragfähigen Beziehung, die folgende Maßnahmen umfasst: Fürsorge und Schutz Klärung von Konflikten Sicherstellung der medizinischen Versorgung Diagnosestellung und Therapie einer zugrunde liegenden psychiatrischen Störung Bei akuter Suizidgefahr: SPD u./o. Polizei Häufige Fehler3 im Umgang mit Suizidpatienten (nach Bronisch 1998): Trennungsängste übersehen (z.B. Stationswechsel, Urlaub, Entlassung) Provokation persönlich nehmen (Agieren von Ablehnung) Einseitige Betonung der Aggressionsproblematik (Übersehen der Beziehungsproblematik) Bagatellisierungstendenzen des Patienten mitmachen 3 Die Fehler hängen sehr von der Sichtweise des Therapeuten ab, wobei die Angst vor weiteren SV des Patienten eine wesentliche Rolle spielt. Eine weitere Ursache hierbei spielt auch die Ambivalenz von Seiten des Patienten, der einerseits an die Hilfsbereitschaft des Therapeuten appelliert und die menschliche Bindung zu ihm sucht, andererseits aber die Hilfestellung und Zuwendung des Therapeuten abwehrt. Diese Ambivalenz muss stets berücksichtigt werden, wie auch die Einstellung, dass man einem Patienten nicht von einem SV oder Suizid abhalten kann. 323 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke Mangelnde Exploration der jetzigen und evtl. früheren Umstände, die zu Suizidalität geführt haben zu rasche Suche nach positiven Veränderungsmöglichkeiten Überhöhte Ansprüche an die eigenen therapeutischen Fähigkeiten (Omnipotenzgefühl des Therapeuten). 4.3. Bewusstseinstörungen Bewusstseinstörungen zeigen sich in Form von: Quantitativen Bewusstseinsstörungen: verminderte Vigilanz (Wachheit), welche mit einer Verlangsamung und Verminderung aller psychischen Teilfunktionen einhergeht, bei Benommenheit und Somnolenz v.a. Verlangsamung aller psychomotorischen Funktionen, verminderte Auffassungsfähigkeit sowie zeitliche und örtliche Orientierungsstörungen. DD v.a. beginnende Schizophrenie und Narkolepsie Qualitative Bewusstseinsstörungen kommen v.a. vor bei: a. Dämmerzuständen zeitlich begrenzte, Sekunden bis Wochen anhaltende Bewusstseinsstörungen, bei denen der Patient handlungsfähig bleibt v.a. Zusammenhang mit Epilepsien „traumwandlerisch“verlangsamte, automatenhafte Bewegungen, aber auch abrupte Erregungszustände, verminderte Steuerungsfähigkeit (Gewalttaten, sexuelle Enthemmung) Amnesie. DD: Psychogene Dämmerzustände. Somnambulismus (Schlafwandeln) bei Kindern/Jugendlichen. b. Verwirrtheitszuständen Oft bei alten Menschen. Denkstörungen, wechselnde Desorientiertheit, Unruhe und Affektlabilität. Wichtigste Ursachen: Internistische Erkrankungen, inadäquate Medikation, Flüssigkeitsmangel c. Synkopen Flüchtige, plötzlich anfallsartig auftretende Bewusstlosigkeit Ursache: Herz-/Kreislauferkrankungen, zerebrale Durchblutungsstörungen, Epilepsie, narkolepsie, Psychovegetativ (z.B. vagovasale Synkope, Hyperventilation, Konversionsstörungen) d. Delir 324 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke Desorientiertheit, Verwirrtheit, ängstliche Erregung, Agitiertheit, optische Halluzinationen, illusionäre Verkennungen („Erlkönig“), Suggestibilität, vegetative Symptome, Nesteln, Reduktion von Aufmerksamkeit, Auffassung, Konzentration und Kritikfähigkeit Wichtigste Ursachen: Toxische Ursachen (Intoxikation durch Medikamente [v.a. Psychopharmaka], Drogen etc. oder Entzug; Entzugsdelire ca. 48-72 Stunden nach Absetzten der Noxe) Stoffwechselstörungen (z.B. Unterzuckerung) Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts Endokrine Störungen Infektionen Kardiovaskuläre Störungen Neurologische Erkrankungen Sauerstoffmangel Cave: Bewusstseinsstörungen sind ein Leitsymptom akuter symptomatischer bzw. organischer Psychosen und schließen in der Regel das Vorliegen einer endogenen Psychose oder einer psychoreaktiven Störung aus! Darum immer bei vorliegen von Bewusstseinstörungen den Notarzt verständigen!!! 4.4. Katatonie und Stupor Ursache: z.T. lebensbedrohliche Krankheiten Starke Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit (Mutismus, motorische Erregung), Fremdanamnese wichtig Verhalten des HPP: Notarzt, ggf. Erste Hilfe!! Sonderfall: Malignes neuroleptisches Syndrom: bei 1-2% neuroleptikabehandelter Patienten (v.a. bei klassischen Neuroleptika) lebensbedrohlicher Symptomenkomplex (Letalität 15-20%) mit Symptome: Rigor, Stupor, Fieber, Kreislauf- u. Bewusstseinsstörungen DD: Katatonie Verhalten des HPP: Notarzt, ggf. Erste Hilfe!! 325 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke 4.5. Drogennotfälle I. Opiate A. Opiat-Vergiftung: Leitsymptome: Bewusstseinstörungen Enge Pupillen (Miosis) Verlangsamte Atmung (Bradypnoe) Verhalten des HPP: Notarzt, Erste Hilfe !! B. Opiat-Entzug: Symptome: Diarrhoe, Schlaflosigkeit, Ängste, Agitiertheit, Gliederschmerzen und –krämpfe , Bauchkrämpfe, Tremor, Schwitzen, Verhalten des HPP: Notarzt, ggf. Erste Hilfe !! II. Amphetamine: A. Intoxikationspsychosen mit Suizidgefahr Verhalten des HPP: Reizabschirmung, Ruhe, „Talking down“, , SPD, Notarzt B. Ecstasyintoxikation evtl. ausgeprägte Hyperthermie (Überwärmung des Körpers) und Exsikkose (Austrocknung des Körpers) Verhalten des HPP: Notarzt, Flüssigkeitszufuhr, Eispackungen, 326 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke III. Kokain A. Kokainintoxikation, sog. Kokainschock: Symptome: Massive Angst und Getriebenheit, schwere psychomotorische Erregung, Extreme Hautblässe, Bradykardie, Blutdruckabfall, Zerebrale Krampfanfälle, Bewusstseinstrübung, Koma Verhalten des HPP: Reizabschirmung, Ruhe, „Talking down“, Notarzt B. Kokain-Psychosen (bei chronischem Gebrauch): Symptome: starke Stimmungsschwankungen mit Suizidimpulsen, evtl. paranoid-halluzinatoisch bis delirantes Krankheitsbild Verhalten des HPP: SPD, Notarzt IV. Halluzinogene (z.B. LSD) Symptome durch Intoxikation oder Abusus: Horrortrips, Flash-back-Syndrome, Persistierende Psychosen, Panik aggressive Durchbrüche Verhalten des HPP: Reizabschirmung, Ruhe, „Talking down“, Notarzt 327 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke 4. 6. Weitere Notfälle: Grundsätzlich gilt für alle im Folgenden genannten plötzlichen körperlichen Notfälle bzw. Beschwerden Notarzt, ggf. Erste Hilfe!! Panikattacke/Hyperventilation: Ruhe bewahren, Patienten beruhigen, evtl. in Plastiktüte oder zum Trichter geformte Hände atmen lassen Krampfanfälle: Ruhe bewahren, bei dem Patienten bleiben, Verletzungen (v.a. am Kopf) verhindern Kollaps/Synkope: 1. Wenn Patient bewusstlos: Vitalfunktionen (Puls, Atmung) prüfen, ggf. Herz-Lungen-Wiederbelebung, sonst stabile Seitenlage 2. Wenn Patient wieder bei Bewusstsein und ansprechbar: Kollabierte Personen und solche mit Blutungen oder Verbrennungen in Rückenlage mit erhöhten Beinen zu lagern, es sei denn, ein Bein weist Knochenbrüche oder Gelenksverletzungen auf. Bei vorangegangener Bewusstlosigkeit aufgrund einer Kopfverletzung, eines Schlaganfalles oder einer Herzattacke: Rückenlage mit leicht erhöhtem Oberkörper, bei Atemnot mit stark erhöhtem Oberkörper hinsetzten und gegebenenfalls von hinten abstützen. Bei starken Bauchschmerzen evtl. Rückenlage mit angewinkelten Knien (mit einer zur Rolle geformten Decke dabei die Knie unterstützen) Personen mit Wirbelsäulen- oder Beckenverletzungen sind in ihrer Lage nicht zu verändern, es sei denn, sie befinden sich in einer Gefahrenzone Schädel-Hirn-Trauma: Rückenlage mit leicht erhöhtem Oberkörper, Intoxikationen, z.B. durch Medikamente: 328 Prüfungsvorbereitungslehrgang „Heilpraktiker/in für Psychotherapie” © S. Brünig / Th. Wiebke Kein Erbrechen provozieren, nichts zum Trinken geben! Bedrohliches selbstverletzendes Verhalten (Borderliner): Notarzt, SPD 329