Zwischen Wagen und Verzagen/Versagen oder Die diebische Elster

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Zwischen Wagen und Verzagen/Versagen
oder
Die diebische Elster
Versuch einer Integration psychomotorischer Körperimpulse in die Psychoanalyse
Von Rudolf Walter, Hamburg
Warum verlässt ein Psychoanalytiker den gefestigten Wort- und Bedeutungsboden?
Warum weicht er vom orthodoxen Beziehungs- und Übertragungsangebot ab? Warum
setzt er einen Teil seiner therapeutischen Identität aufs Spiel? Warum begibt er sich auf
unsicheres Terrain, das angefüllt ist mit Hindernissen, Fallgruben, Unwägbarkeiten?
Warum setzt er sich stillen, heimlichen, unausgesprochenen Vorwürfen und Anklagen
ebenso aus wie öffentlicher Verleumdung und Verfolgung?
Die leidenschaftliche Diskussion der Körperbefürworter wie der Körpergegner ist irrational
und Ausdruck eines Abwehrvorganges. Doch ob ungläubiger Thomas oder bewundernder
Apologet: Distanzverlust schadet beiden Seiten, fördert den Glaubenskrieg, statt sich dem
bedeutungsvollen Objekt kritisch-beobachtend zu nähern.
Wer anders als der Psychoanalytiker, auf gefestigtem Damm stehend, sollte den Bereich,
der so viel Komplexität, Heftigkeit und Verwirrung aufwirft, betreten und erforschen? Hält
er doch alle Navigationsinstrumente und Sicherungsmittel in der Hand.
Und warum bleibt er respektvoll oder schamhaft stehen, beschneidet sich und nicht nur
sich, auch den Patienten, dem dieses Erfahrungsfeld weitgehend verborgen bleibt, ein
unentdeckter Kontinent. Warum verbietet sich ein Psychoanalytiker das nonverbale,
psychomotorische Spektrum mit einzubeziehen?
Nicht nur mir selbst wurde das immer gleiche Setting Quelle der Unlust, auch die
Patienten beklagten sich über den mangelhaften Einbezug psychomotorischer Variablen.
Die nonverbalen Interaktionen und Körpersignale zwischen Therapeut und Patient
scheinen tabuisiert, vertrieben in den Graubereich, der einer diffusen Emotionalisierung
Tür und Tor öffnet. Die gemeinsame neurotische Abwehr gegen das unmittelbare,
prozesshafte-körperliche Geschehen gleicht einer Bastion. Natürlich wirft die
Beschäftigung damit soviel unbewusstes Material auf den Tisch, dass die andrängenden
Ängste, man könne von diesem primärprozesshaften Chaos verschlungen und gefressen
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werden, nur allzu verstehbar sind.
Dennoch darf die Beschäftigung damit nicht anderen überlassen werden, die aggressivmutig fremdes Land erobern, um ihre besitzanzeigende Flagge in den Körper des
Patienten zu stoßen.
Der Patient, der unseren Therapieraum betritt, ist nicht Geistwesen, nicht Sprechblase,
sondern realkörperlich-leiblicher Mensch mit einer Gestalt. Er liegt für uns sichtbar auf der
Couch. Zwar ist der Therapeut im klassischen Setting für den Patienten eher Geist- oder
Schattenwesen, das ihm nur zu Beginn und Ende der Stunde wesenhaft erscheint. Für die
meiste Zeit entschwinde ich aus seinem Blick und verziehe mich in den Winkel
schützender Unsichtbarkeit. Es kommt zu einer paradoxen Konfiguration: Zwar haben wir
beide einen Körper, aber keinen, der es wert wäre, ihn zu betrachten und zu verstehen.
Stattdessen biete ich Phantasieräume, Bilderwelten, Traumtänzereien,
Wortassoziationsketten und Gedanken an, in die er den Körper hineinprojizieren soll, ihn
dabei aber verliert.
Das, was sich im Außen zeigt, ist auch Ausdruck eines Innenzustandes. Die fast
unerträgliche Polarisierung habe ich im eigenen Innern durchlebt, als ich mich entschied,
ja gezwungen sah, den Körper in die psychoanalytische Therapie einzubeziehen. Ich
widerstand heftig und lange Zeit. Auch heute leiste ich Widerstandsarbeit gegen meine
eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen. Ich finde und erfinde immer wieder gute
Argumente, um die Körperimpulse nicht in die psychoanalytische Therapie einzubeziehen.
Die Forderung der Patienten nach anderen Interaktionsformen als sich in
Wortassoziationen und verbalen Deutungen wiederzufinden, darf nicht ungehört verhallen.
Ich arbeitete mit etlichen Patienten, die sich nach langen und intensiven - und ich betone
es ausdrücklich - hervorragenden Analysen, nach körperlicher Berührung, therapeutischer
Körpererfahrung, objektivierender Körpererfahrung sehnten. Ich sah etliche Patienten, die
nach ausschließlich körperbezogener Arbeit sich nach dem deutenden, benennenden,
geistigen Gerüst sehnten. Diese Sehnsucht teilte ich aus eigener Erfahrung, die ich in
psychoanalytischer Ausbildung und Selbsterfahrung erlebte. Das Wagnis des
Brückenbauers erscheint mir unerlässlich.
Der Psychoanalytiker wird sich bewusst sein, dass die Integration von
patientenbezogenen und eigenen Körperimpulsen das therapeutische Beziehungsgeflecht
und damit die Übertragungs- und Gegenübertragungsqualitäten verändert.
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Die Gefahr des Ausagierens leiblicher Impulse scheint mir jedoch eher problematisch für
körperunerfahrene Therapeuten. Der häufig geäußerte Vorwurf, es käme, statt zur Arbeit
am Unbewussten, zur libidinösen Befriedigung, lässt sich anhand der Verlaufsdynamik
entkräften.
Ich versuche, Ihnen meinen Arbeitsansatz, der wesentlich bereichert wurde durch die
Arbeit mit Al Pesso, die Methodik, das Denken, das Handeln, die Übertragungspositionen,
die Interaktionen in Form von zwei Fallbeispielen deutlich zu machen. Ich will Ihnen damit
einen Blick durch das Schlüsselloch in mein Therapiezimmer ermöglichen. Die
Arbeitsweise (insbesondere die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse) stellt
sich im gruppentherapeutischen Setting ganz anders dar als im einzelanalytischen
Prozess. Deshalb habe ich mich entschlossen, Ihnen eine Falldarstellung aus einer
gruppentherapeutischen Sitzung und eine aus einer einzeltherapeutischen vorzustellen.
Ich beginne mit der Darstellung einer Gruppensitzung. Die Darstellung bezieht sich auf
eine Arbeitseinheit von ca. 1 1/2 Stunden. Ich verzichte darauf, den Patienten mit seiner
Lebensgeschichte und den Hypothesen, wie sie im Antragsverfahren notwendig sind,
vorzustellen. Ich gehe analytisch vor, hypothesenfrei und versuche, Sie am Denkprozess
teilhaben zu lassen.
Die Gruppe, bestehend aus zwölf Personen (sieben Frauen, fünf Männer) kennt sich seit
ca. 10 Sitzungen von je drei Stunden. Die ersten Sitzungen dienten dazu, die Arbeitsform
vorzustellen, Information über die Vorgehensweise zu geben, spezifische Übungen zu
machen, die für Körperwahrnehmung zu sensibilisieren und mit Körperimpulsen vertraut
zu machen. Ich vorenthalte Ihnen an dieser Stelle die therapeutische Technik und werde
sie fall- und interaktionsbezogen erläutern.
Bisher hat sich die vierzigjährige Patientin in den Gruppensitzungen zurückgehalten. Sie
macht einen sehr erdigen, gestandenen Eindruck und ist ländlicher Herkunft. In den
wenigen Mitteilungen, die sie bisher äußerte, zeigt sie sich als körperlich in hohem Maß
angespannte, bewegungs- und impulsgehemmte Frau. Ihre Bemerkungen sind von solider
Qualität mit zynischem Unterton. Mein erstes Gefühl aus vollem Herzen: Oh jeh. Ich
verspüre eine mir unbekannte, heftige Abneigung. Ich erlebe mich ausweichend, mit der
unausgesprochen flehentlichen Bitte, sie möge sich nicht zur Arbeit melden. Ich fühle mich
impulsgehemmt, spüre regelrecht Widerwillen, mit ihr zu arbeiten. Ich steigere mich in
vorwurfsvolle Attacken: Warum hast du diese Frau überhaupt in die Gruppe
aufgenommen?
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Ich erinnere mich zurück und besinne mich, dass mich irgendetwas anrührte, ohne dass
ich es verbalisieren kann.
Vielleicht ist es die unbeholfene Haltung des Kopfes, der, leicht rechts geneigt, Halt sucht.
Vielleicht die klobig-verarbeiteten Hände, rissig, aber auch zupackend und handfest.
Vielleicht der treue Blick. Nein, er ist zu treu. Es ist eher ein Blick aus den Augenwinkeln,
aus denen hinter allem Schreck und Angst ein Lächeln, besser ein Schalk, herausdringt.
Der erreicht mich und flöß mir eine irgendwie fühlbare Zuversicht ein. Die Patientin ringt oft
nach Atem, bewegt sich langsam, beinahe schwerfällig. Eine, die man wärmen möchte, es
dann aber doch sein lässt und seiner Wege geht.
Mit diesem Widerspruch im Herzen, deutlich fühlbar, aber unverstanden, nähere ich mich
unaufhaltsam einer Arbeit mit ihr. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis sie mich stellt
und fordert. Eines Tages ist es soweit. Sie zerrt mich in den Ring. Von Vorahnungen
geplagt, spreche ich mir in Gedanken Mut zu: Ja, ich werde mit ihr arbeiten.
Das Vorgehen in den Gruppensitzungen ist eine Einzelarbeit im Rahmen der Gruppe. So
sitzen wir beide gegenüber auf Kissen am Boden. Der Körper gibt hier sichtbarere Impulse
als auf belehntem Stuhl. Die Gruppe, aufmerksam und seltsam gespannt, um uns herum.
Ich versuche, mich der Patientin zu öffnen und spüre, wie sich meine Hände ineinander
verkrampfen. Mich trifft ein fragender, verzweifelter Blick. Der Körper leicht nach vorn
gebeugt, in sich zusammengesunken, aber auch trotzig, wehrhaft verschlossen.
Patientin: „Hier sitze ich jetzt!“
Ich denke: ´Ich sehe, wie sie sich schützt.´ Meine Neugier ist erwacht.
Ich sage: „Ich freue mich, dass Sie hier sind und mit mir arbeiten wollen“ (ich freue mich
noch nicht wirklich!).
Ich halte den Blickkontakt und sage: „Ich bin jetzt für Sie da“ (im Moment des
Aussprechens, wird die Botschaft stimmig, mein Puls langsamer, mein Atem tiefer). „Was
möchten Sie jetzt einbringen?“ Patientin: „Ich esse unkontrolliert viel. Ich stopfe in mich
hinein. Heimlich tue ich das. Ich habe schon alles mögliche und an verschiedenen Stellen
probiert. Ich muss mein Esserhalten verändern.“ (Dabei richtet sich der Körper auf.) „Das
wurde mir immer wieder gesagt. Ich weißes selbst. Ich sollte es sofort verändern. Ich bin,
wenn ich so heimlich in mich hineinstopfe, ein schlechter Mensch.“ (An dieser Stelle sinkt
der Körper wieder in sich.) „Ich habe schon so viele Ratschläge und Pläne und
Anweisungen bekommen... und sie immer gebrochen.“ (Der Atem verändert sich.) Ich
frage mich: ´Will Sie mich prüfen? Soll ich scheitern?´ Ich schaue sie fragend an. Fühle
mich einbezogen in den Kampf, der im Inneren tobt. Ich meine, in den Augen ein heftiges,
grimmiges, mich anstarrendes Über-Ich zu sehen, zugleich aber auch ein verzweifeltes
Kind.
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Ich sage (es ist mein erstes Interventionsangebot): ´Sie solle sich aus den
Gruppenteilnehmern eine Zeugin suchen.´
Die Figur des Zeugen ist eine Art Hilfs-Ich, eine positive Figur, die die emotionalen
gefühlshaften Zustände, die der Patient häufig bei sich selbst nicht wahrnimmt, ausspricht
und bestätigt. Die Zeugenfigur akzeptiert und benennt seelische Empfindungen und
Zustände, die sich in Gesichtsausdruck, Haltung, Gestik und Stimmmodulation enthüllt.
Die Wahrnehmungen des Zeugen werden vom Therapeuten formuliert. Alle
Rollenspielfiguren stehen ausschließlich im Dienste des Protagonisten.
Die Patientin wählt eine weibliche Teilnehmerin als Zeugin aus. Diese übernimmt die
Rolle: „Ich bin jetzt Deine Zeugin.“ Die Patientin kann die Zeugenfigur platzieren, was sie
tut. Sie platziert die Zeugin halb rechts, mit halbem Armabstand vor sich. Die Zeugin sagt
auf Anweisung von mir: „Ich nehme in Deinem Blick wahr, wie quälend für Dich die
Versagungen sind.“ Die Patientin nickt kurz, stöß einen Seufzer aus, schaut leicht irritiert
und fährt fort, über ihre Schlechtigkeit zu sprechen.
Ich mache ein zweites Interventionsangebot: ´Sie möge die fragmentierte Stimme des
Vorwurfes auswählen und positionieren.´ Die fragmentierten Stimmen oder Figuren stellen
Wertungen, Verhaltensmuster, Befehle, Hemmungen dar und stammen aus der
Lebensgeschichte. Die Patientin wählt ein männliches Gruppenmitglied aus, postiert es
links hinter sich. Der Ausgewählte übernimmt die Rolle der fragmentierten Stimme des
Vorwurfs: „Ich bin jetzt die Stimme des Vorwurfes: Du bist schlecht, wenn Du alles so
hineinstopfst.“ Die Patientin nickt zustimmend. Ich versuche, der Spur der Patientin zu
folgen. Wir sind dabei, über die Externalisierung ein Abbild des psychischen Innenraumes
unter Führung der Patientin herzustellen. Manchmal schafft das Externalisieren Distanz,
manchmal werden die fragmentierten Stimmen dem mütterlichen oder väterlichen Objekt
zugeordnet, manchmal tauchen dann assoziativ Szenen und Erinnerungen der
Lebensgeschichte auf, die überarbeitet werden können. Es sind spontane Erinnerungen,
die sich einstellen, nicht vorgedachte und ewig erzählte Geschichte, die eher die Abwehr
repräsentiert.
Leider kommt es nicht zum erwünschten Effekt. Die Patientin reibt sich die Hände. Ihr
Blick verfinstert sich. Sie nickt. Schweigt, wie dem Vorwurf zustimmend.
Ich denke: ´Sie ist mit den moralisierenden Forderungen identifiziert.´ Ich ahne den
Kreislauf: Verbot, heimliche Übertretung, Bestrafung, Schuldzuwachs, stärkeres Verbot,
heimlichere Übertretung, erhöhte Bestrafung, erneuter Schuldzuwachs usw. Ich sehe
meine Angst vor der Patientin als Indikator für Gewalt und Intensität des Über-Ichs.
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Projektiv identifiziert, fürchte ich die Niederlage, ihre wie meine. Wie viel Niederlagen hat
sie wohl ertragen müssen? Und zeigt sich doch relativ stabil. Sie hat einen sozialen Beruf,
in dem sie sich mit den Niederlagen anderer (Kinder) befasst. Sie leidet an einem
gestörten Esserhalten als vorgeschobenes Symptom und zeigt eine heimlich sadomasochistische Lustbefriedigung, mit Schmerzen durchsetzt. Die eingeforderten
Hilfspläne, die sie nicht einhält, verstärken den Über-Ich Druck. Die Niederlagen erträgt sie
genießerisch-qualvoll.
Ich fokussiere meine Wahrnehmung nicht auf die genussvoll-quälerische Niederlage als
neuroseschürendes Element, sondern vermute, dass der aufbegehrende Teil Stärkung
benötigt. Ich sah nämlich ein kurzes Auffunkeln in den Augen der Patientin, ihr Körper
entglitt für Sekunden der Starre, so als ob Energiequellen aufsprudeln wollten, als sie von
den heimlichen Übertretungen sprach. Dieser aufbegehrende Teil soll dem Über-Ich
geopfert werden und ich soll der Opferpriester sein.
Als ich diesen Mechanismus erkenne, konfrontiere ich sie und sage: „Ich spiele dabei nicht
mit. Ich will nicht den Teil Ihres lebendigen Widerspruches eliminieren helfen und mich
nicht zum Komplizen Ihres strafenden Über-Ichs machen.“
Die Patientin schluckt, scheint getroffen. Der Blick fällt nach innen, die Stirn in Krausen.
Nach kurzer Pause sprudelt sie: „Das stimmt. Es gibt einen lebendigen Teil, den ich nicht
zeigen kann, verloren habe. So eine diebische Elster, die sich etwas von dem verbotenen
funkelnden Lust- und Freudepaket raubt.“
Ich vermute, dass die Figur der diebischen Elster viel kindliche Kraft, Freude und
ungenutztes Potential enthält. Ich schlage ihr vor, diese diebische Elster abzubilden/zu
externalisieren. Sie wählt eine zarte Gruppenteilnehmerin aus, postiert sie rechts hinter
sich, auf gleicher Höhe mit der links hinter ihr stehenden fragmentierten Stimme des
Vorwurfs. Auswahl und Beschäftigung mit der diebischen Elster lassen ihre Augen
aufleuchten, sie schaut sehnsuchtsvoll zu diesem Selbstanteil, schluckt, als wolle sie
auftauchende Traurigkeit abwehren. Sie ist spontan aufgestanden, Position und Haltung
der diebischen Elster zu markieren. Ich stehe mit auf. Kaum ist die diebische Elster
stimmig zurechtgerückt, bricht wie mit Gewalt eine Erinnerung über die Patientin herein.
Eine Szene aus der Kindergartenzeit, die sie erstmalig wiedererinnert.
Die Kindergärtnerin fesselt sie an einen Stuhl wegen ihrer unbekümmerten Lebhaftigkeit.
Die anderen Kinder defilieren an der so Geschmähten vorbei. Hilflos gebunden wird sie
zur Abschreckung missbraucht, dem Gespött der anderen ausgeliefert. Sie erlebt
Bestrafung, Bloßstellung, Demütigung und beschließt voller Scham, den ungebändigten,
triebhaften Anteil zu verstoßen. Nie wieder will sie sich einem solchen sadistischen
Bestrafungsritual ausliefern und verrät und verstöß zum Zwecke des Schutzes die
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diebische Elster. Der Verrat, der zusätzlich beschämt und quält, wird abgewehrt und
verdrängt.
Hinter dieser Durchbruchserinnerung stehen ungezählte Situationen von Hilflosigkeit. In
der gerade Aufgeplatzten hat sich das psychische Trauma höhepunktmäßg manifestiert
und drängt nach Ausdruck. Vielleicht ist die Kindergärtnerin Deckerinnerung eines kalten,
abweisenden, sadistischen, mütterlichen Objektes. Das spreche ich nicht an, aber
speichere es.
Die Patientin hat die Szene mit stockender Stimme, nach Atem ringend, emotional
aufgebracht und am ganzen Körper zitternd hervorgepresst, körperlich erlebt,
körperimpulshaft wiederbelebt. Was geschieht jetzt? Was würden Sie tun? Was benötigt
die Patientin an Antwort auf verbaler und körperlicher Ebene?
Das Ausmaß der Angst und die Heftigkeit der psychomotorischen Impulse zeigen an, dass
das geschwächte Ich mit den Gefühlsstürmen nicht zurechtkommt und diese zu blockieren
versucht, dazu muss die begleitende Erinnerung verdrängt werden.
Die Zeugin sagt: „Ich sehe, wie heftig Deine Angst ist und wie alleingelassen Du damit
warst.“ Die Patientin nickt. Ich schlage der Patientin vor, sich Halte- und
Begrenzungsfiguren auszuwählen, die die Angstimpulse aufnehmen, wie es ein gutes
mütterliches Objekt täte. Sie wählt zwei Frauen und zwei Männer und zeigt damit noch mal
das Ausmaß der fehlenden Schutzerfahrung. Sie postiert eine Frau und einen Mann rechts
und links neben sich stehend, die eine Hand hält den Oberarm, die andere den Rücken,
später hält die eine Hand den Oberkörper, die andere den Rücken, während die Arme
durch die schützenden Körper geborgen sind. Die anderen beiden halten mit der einen
Hand das Knie, mit der anderen den Oberschenkel. Die haltenden und begrenzenden
Figuren übernehmen die Rolle.
Der leichte Gegendruck und die Aufnahme des Angstgefühls sowie der begrenzende Halt
führen augenblicklich zu einer vertieften Atmung. Der Blick klart auf. Das Zittern streckt
sich zu Wellen. Auf der Körperebene ist jetzt eine Gegenbotschaft gegen die frühe
Erfahrung gesetzt. Ich schlage der Patientin vor, den negativen Aspekt der Kindergärtnerin
auszuwählen. Diese Spaltung, besser Strukturierung, ist notwendig und hilfreich, um den
negativen Gefühlen Ausdrucksmöglichkeit zu geben, ohne das Objekt in toto anzugreifen
und sich wiederum schuldhaft zu verstricken. Der negative Aspekt der Kindergärtnerin ist
derjenige, der die Kränkung gesetzt hat. Sie wählt eine Frau aus und postiert diese links
vor sich. Diese übernimmt die Rolle. Die Patientin verbalisiert die Gefühle von damals.
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Die negative Figur akkommodiert, gibt Antwort auf die auftauchenden Wutgefühle. Viele
Patienten zeigen sich mit ihren Wutgefühlen resigniert, weil sie darauf nie eine
entsprechende Antwort bekommen haben.
Wir befinden uns jetzt auf der symbolischen Ebene. Ich bezeichne sie als realsymbolische.
Die Szene ist real aufgebaut, die Gefühle der Patientin sind fühl- und sichtbar, aber die
Szene stammt aus einer anderen Zeit und wird quasi symbolisch durchlebt. Eine Als-obSituation, auf zwei Ebenen angesiedelt. Im Stimmklang ist der Wutaffekt zu hören. Die
Stimme variiert, wirkt gepresst, druckvoll. Die Zeugin benennt und dimensioniert. Auf der
Körperebene bleiben die Wutimpulse noch blockiert. Es ist weder notwendig noch sinnvoll,
die Patientin in dieser Situation weiter in ihre Wut hineinzuführen, wenn sich auf der
körperlichen Impulsebene keine Hinweise ergeben. Eine heilsame Erfahrung kann aber
nur gemacht werden, wenn die Patientin eine heilsame Gegenbotschaft verbal und
körperlich aufnehmen kann. Die Halte- und Begrenzungsfiguren sind bereits der erste
Schritt dazu. Auf realsymbolischer Ebene (auditiv und visuell) können wir dem verletzten
Kind in der Patientin etwas zukommen lassen, was es damals gebraucht hätte, aber nicht
bekommen hat.
So schlage ich vor, dass die Patientin eine ideale Kindergärtnerin aussucht. Die ideale
Figur ist eine Figur, die in der Realität nicht existiert, die aber auf symbolischer Ebene das
gewährt und ermöglicht, was damals optimal gewesen wäre. Diese ideale Figur wird zur
Trägerin einer gehörten Gegenbotschaft. Nachdem die Teilnehmerin die Rolle
übernommen hat, sagt sie auf meine Vorgabe: „Wenn ich damals Deine Kindergärtnerin
gewesen wäre, hätte ich Dich in Deinen lebhaften Teilen unterstützt und dafür gesorgt,
dass Du sie hättest ausdrücken und mitteilen können.“
Die Patientin saugt diesen Satz in sich auf. Will ihn noch zweimal hören. Die Patientin
beruhigt sich, atmet tief, der Körper entspannt sich, die Gesichtsmuskulatur entkrampft
sich, der Körper will gehalten und aufgenommen sein, was die Haltefiguren, die eine Art
Verlängerung der idealen Figur sind, auch tun. Dieser Augenblick ist sehr bewegend. Der
ganze Körper signalisiert tiefe Entspannung. Die Patientin lächelt.
Die Arbeit ist noch nicht ganz abgeschlossen. Nachdem sich die Patientin bei den
haltenden Figuren eingerichtet hat, fällt ihr Blick angstvoll zur diebischen Elster. Die
Zeugin benennt das. Die Patientin fürchtet, dass die diebische Elster ihr böse sei und sie
bestrafen wolle wegen des damaligen Verrates. Ich lasse die diebische Elster sagen:
„Auch wenn Du mich damals weggeschickt hast, bin ich Dir nicht böse.“ Ich gebe diese
Botschaft deshalb so, weil die diebische Elster Anteil des guten Selbstobjektes ist. Die
Patientin schnauft durch. Die Augen leuchten. Sie steht ganz langsam auf und bewegt sich
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prüfenden Blickes auf die diebische Elster zu. Vorsichtig führt sie ihre Hand, berührt,
begreift und entdeckt diesen Teil.
Ein zweiter bewegender Moment setzt ein. Sie eignet sich gedanklich und körperlich den
diebischen Elsterteil an. Wechselt zwischen Lachen voll aneignender Lust und zwischen
Schluchzen, ob des Schmerzes der Vertreibung (Abspaltung). Die Integration des
abgespaltenen Teiles läuft wie von selbst. Die Aneignung gelingt, ihr Körper wird
geschüttelt von einem wilden, glücklichen Lachen.
Ich fasse zusammen: Ich sollte zum versagenden Objekt werden, das die elementaren
Grundbedürfnisse des Kindes weder akzeptiert noch befriedigt, sondern sadistisch
bestraft. Gegen dieses Angebot habe ich mich gewehrt. Ich wollte nicht zum sadistischen
Quäler werden, quälte mich selbst, spürte aber auch das Ausmaß der Gewalt und war mir
nicht sicher, dieser die Stirn zu bieten.
Der positive Selbstanteil (diebische Elster) musste abgespalten und verborgen werden,
um ihn zu retten. Die Aufhebung der Abspaltung erfolgte dadurch, dass sie sichtbar
gemacht und auf die Ebene der Spaltung zurückgegangen wurde. Die Wahrnehmung
psychomotorischer Impulse (Augen, Atmung, Handspiel, Mimik, Gestik) sowie der
szenische Aufbau sind Verdichtungen und Dramatisierungen, in denen das Unbewusste
sich ergießen kann. Die Zeugenfigur bestätigt, benennt, unterstützt, sensibilisiert. Über die
idealen Figuren können heilsame Gegenbotschaften auf realsymbolischer Ebene, der
jeweiligen Situation angemessen, gegeben werden. Die Reintegration abgespaltener Teile
wird unterstützt durch anschauliche, sinnbildlich-reale, symbolisch-reale, bildhaft-reale
Konfigurationen. Im Verlaufe der therapeutischen Arbeit tauchte eine signifikante Situation
auf. Erlebte Geschichte, nicht erzählte Geschichte. Meine therapeutische Position ist mit
der eines Regisseurs vergleichbar. Ich folge der Spur des Patienten, reichere den
interaktiven Prozess mit meinen Phantasien an. Ich bin in idealer Weise drinnen wie
draußen. Als Übertragungsobjekt werde ich mild-positiv besetzt. Insgesamt ist die
Besetzungsenergie aufgeteilt, meist sehr fein differenziert auf die ausgewählten
Gruppenteilnehmer. Die Besetzungsenergien werden klar zugeordnet: Negative
Besetzungsenergie zu den negativen Figuren, positive Besetzungsenergie zu den
positiven Objekten.
Die Spaltung, besser Strukturierung, der Objekte führt zur Eindeutigkeit in der Gefühlswelt.
Der Patient ist nicht im hoffnungslosen Versuch gefangen, die negativen Aspekte der
realen Eltern gesund zu lieben. Ein unmögliches Unterfangen, das sich manchmal in
lebenslänglicher Abhängigkeit ausdrückt.
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Ganz anders gestaltet sich der Verlauf in der Einzeltherapie. Strukturierungen können nur
angedeutet werden, die Abbildungen benötigen mehr Vorstellungs- und Fantasiefähigkeit
und erleiden auch mehr Entstellungen und Verfälschungen. Die einzelnen Figuren und
Elemente werden durch Kissen und Gegenstände markiert. Ich übernehme als Therapeut
verschiedene Rollen und gebe auf Anweisung des Patienten die verbalen, lautmalerischen
und körperbezogenen Botschaften. Ich stelle mich in den Dienst des Patienten.
Übertragung und Gegenübertragung sind greller, wechselhafter, gefährlicher. Ein
Fallbeispiel soll Ihnen die Vorgehensweise verdeutlichen. Ich verzichte auch hier auf
vorwegnehmende Hypothesenbildung und lasse Sie zeitraffermäßig teilhaben an einer
Langzeittherapie.
Bei dem Patienten handelt es sich um einen Mann knapp unter 50. Der erste Eindruck den
ich von ihm habe: sehr sympathisch. Er ist intelligent, redet gewählt, weißeiniges über
Psychoanalyse. Er scheint aufgeschlossen und zugewandt. So wie man sich einen
Patienten wünscht. Ich stutze über die heftige positive Gegenübertragung, die mich so
einnimmt für den Patienten. Es ist keine Verführungssituation, die mit ödipalen und
erotischen Phantasien durchsetzt ist. Ich spüre eine präödipale Sympathie: Halten,
wiegen, streicheln.
Der Patient möchte eine Psychoanalyse machen. Wir besprechen die Grundsätze einer
psychoanalytischen Behandlung und vereinbaren wöchentlich vier Sitzungen.
In der ersten Therapiestunde legt sich der Patient nach der Begrüßung auf die Couch. Er
schweigt. Redet dann fragmentiert, bruchstückhaft, durchsetzt mit langen
Schweigephasen, die ihn von Mal zu Mal schrumpfen lassen. Schließlich verschwindet er
unter meinen Augen. Ist wortberaubter Däumling auf der Couch. Ich frage mich, ob und
wie ich ihn erreichen kann, um den Selbstverlust zu verhindern. Ob er mich wohl
wahrnimmt und meine Anwesenheit fühlt? Auch meine Worte gehen verloren in diesem
grenzen- und zeitenlosen Raum. Ich kralle mich an der Sessellehne fest. Bei
Stundenschluss geht der Patient hinaus, häufig mit einem entleerten Blick, hüllenhaft körperlos. Ich fühle mich unwohl. Der Stundenablauf wiederholt sich. Ich besorge mich
darum. Versuche, eine Gegenstrategie zu finden. Will nicht zusehen, wie der Patient
verloren geht. Ich spüre starke Impulse, ihn zu halten, festzuhalten. Ich erlebe, wie ich zu
aggressiven Deutungen neige, aus dem Druck heraus, den Patienten aus seinem
tranceähnlichen Zustand aufzuwecken. Ich halte jedoch am klassischen Setting fest. Nach
etwa 30 Stunden berichtet er von Wüstenphantasien. Er wandert in eine Sand- oder
Schneewüste hinein. Seine Schritte werden zugeweht. Er geht unendlich langsam,
unendlich weit, bis das Gehen wie von selbst aufhört und er unter Sand oder Schnee
begraben wird.
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Ich sehe die unendliche Wüsteneinsamkeit vor mir, fühle den Orientierungsverlust, die
Verirrungsangst. Der Fixstern am Himmel (die Augen des mütterlichen Objektes) ist hinter
Wolkenfetzen verborgen.
Weitere 10 Stunden später, erzählt der Patient, wie er auf dem Arm der Mutter sitzend, in
die Trümmerwüste des Winters 1946 starrt. Er teilt damit mit, dass er in die
Trümmerwüsten der mütterlichen Augen hineingefallen ist. Ich verspüre einen Drang, die
klassische Sitzposition aufzugeben. Ich möchte aufstehen, mich so an die Couchseite
setzen, dass der Patient mich sehen und ansehen kann, wenn er will. Doch ich halte
weiter aus. Er erlebt nun auf der Couch die Wüsteneien seiner frühen Lebensgeschichte.
Er verkrümmt sich, Anspannung kriecht durch den ganzen Körper. Der Patient friert trotz
Decken, die ich ihm anbiete. Sein Kopf bewegt sich suchend. Seine Körperimpulse wollen
sich trotz verstehender, einfühlender Worte und Deutungsangeboten nicht beruhigen. Er
verliert sich in Bildern, die ihn gefühlsmäßig weder ängstigen noch wachrütteln. Seine
Assoziationen sind spärlich und mager. Wir nähern uns seinen Todesphantasien: er steht
auf der Schwelle zum Tode an einer Abbruchkante. Ein winziger Schritt und es ist um ihn
geschehen. Ich erkenne, auf welch brüchigem Boden die Beziehung zur Mutter gründet.
Sichernde Körpererfahrungen mit dem mütterlichen Objekt fehlen. Hautaffektionen
gesellen sich hinzu und dokumentieren den frühen Mangelzustand. Fühle mich
angespannt und frage, ob der Patient mir damit signalisiert: Wende Dich meinem Körper
zu.
In der 60. Stunde berichtet er von seiner Grubenphantasie. Eingebrochen, wie ein
gefangenes, gejagtes Tier. Gefangener der eigenen triebhaften Bedürfnisse, angefüllt mit
resignativer Angst. Die Grube verlassen, ist unmöglich. Ich frage, was er als ein in dieser
Grube Eingeschlossener am nötigsten von mir bräuchte. Eine Hand, die in die Grube
hineinwächst. Ich bin diese Hand, wachse in die Grube hinein. Nicht nur phantasie- und
symbolhaft. Meine Hand wächst in die Couchgrube hinunter. Der Patient greift sie: scheu,
aber auch neugierig. Liegt ganz in der Couchecke, zusammengekrümmt. Beriecht die
Hand mit geschlossenen Augen, hält sich zaghaft an ihr fest, zupft, zerrt, prüft den
Kontakt. Ich atme nicht nur innerlich auf. Bin aufgewühlt von der suchenden Energie. Bin
haltgebende Bezugsperson.
Dieser Handkontakt gewinnt Bedeutung, wenn der Patient im ozeanischen Meer der
Entgrenzung zu ertrinken droht. Dann erinnere ich ihn an den haltenden Kontakt, der
wiederholbar wird. Eine erste positive Berührungserfahrung. Nach zaghaften Handkontakt
folgen Phasen von Festhalten und Klammern. Die Hand verkrampft sich, bohrt sich in die
meine, stülpt sich über. Anfangs ist die Angst in jedem seiner Finger zu spüren. Die
Handexperimente erstrecken sich über 12 bis 15 Stunden. Der Patient versucht
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zunehmend, die frühen Traumatisierungen durch seine Primärobjekte zu verbalisieren.
Allmählich weicht die Starre aus der Hand und der Patient beginnt, mit der Hand zu
spielen. Er führt Variationen ein. Wir tätigen Fingerspiele, Variationen für zwei, manchmal
für vier Hände.
In welcher Übertragungsposition befinde ich mich? Ich zweifle, ob dieser Kontakt schon
Anteile einer personalen Identität enthält. Ich glaube nein. Der Patient erscheint mir noch
wie blind. Die Augen sind auf einen Punkt gerichtet, wenn er sie nicht geschlossen hat, der
jenseits meines Behandlungszimmers liegt. Der Patient schaut mich nicht. Schaue ich ihn,
so weichen seine Augen zurück in die schützende Lidhülle. Mir ist unklar, ob er sehen
kann und will. Der Handkontakt hat Nabelschnurcharakter, hält den ersten inneren
Bewegungsstürmen stand.
Kritiker könnten einwenden, der Patient agiere nur ein regressives Bedürfnis aus, das ihn
infantilisiert. Er suche nur Lustbefriedigung, statt sich der psychoanalytischen Arbeit zu
unterziehen. Und der Therapeut unterstütze agierend diesen malignen Vorgang. Der
Patient bearbeitet über den Handkontakt die Dramatisierungen seines ersten Auftrittes auf
der Lebensbühne. Nach 80 Stunden schaut er mich manchmal an. Zunächst verstohlenen
Auges, dann zunehmend erkennend, manchmal lächelnd, manchmal verzweifelt und
traurig.
Das Liegen, das immer unangenehm und unbehaglich für ihn war - wie sich erst jetzt
herausstellt - wird zur Qual. Sein Körper will sich bewegen. Er setzt sich auf und beginnt,
das Zimmer zu entdecken. Mir geht das alles viel zu schnell. Er sitzt im Sessel vor mir.
Aber er wirkt wieder so verloren wie anfangs, als er auf der Couch lag. Verfällt wieder in
lange Schweigephasen. Er berichtet Bruchstückhaftes von anderen Menschen und deren
Problemen, entfernt sich von sich selbst. Legt sich ein fremdes Selbst zu. Das Ausmaß
dieses Selbstverlustes ruft meine Abwehr auf den Plan. Ich schwanke zwischen
Bagatellisierung und Dramatisierung, bin luft- und lustlos. Besonders dann, wenn der
mühsame Kontakt plötzlich abreißt. Aber ich verstehe, wie leibliche Eltern, die kaum
leibseelische Beelterung ermöglichen, als Körperfragmente internalisiert werden.
Der Patient erzählt zwar von seinen Kindern, besonders von der ältesten Tochter, mit der
er körperliche Teilbedürfnisse ausdrücken könne. Seine leibseelischen Wünsche können
er jedoch mit der Partnerin nicht leben, sie bleiben unerfüllt.
Nach der 90. Stunde verbalisiert der Patient seine Angstbildungen. Fragmentierungen in
Form von Verstümmelungen und sadistischen Impulsen feiern ein Horrorfest. In dieser
Phase ist der Körper wieder erstarrt. Eingeschlossen wie in einen Granitblock aus Angst,
Verzweiflung und unerfüllter Sehnsucht. Auch die Hautaffektionen drängen vermehrt auf
die Oberfläche und schreien nach physischer Nahrung. Die Hände bleiben beweglich,
dynamisch, aktiv und suchend. Der Blick entschwindet immer noch in andere
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Wirklichkeiten. Sieht Grauenhaftes aus einer anderen Welt, Bilder entsteigen wie
Filmszenen dem dunklen Labyrinth. Ich frage mich, ob die Selbstkerne fehlen.
Ab und zu malt der Patient. Immer Abgrundbilder und Abstürze. Ich gerate unter
Spannung, weil ich meine Verbalisierungen und Deutungen erlebe, als würde ich damit
das Leiden des Patienten verhöhnen. Jedes Wort scheint mir wie Spott und Feuer auf
seine verwundete Seele. Auch meine Hand ist nicht mehr ausreichend Schutz gegen all
das ungesagte Unglück, das sich in seine Seele ergossen hat.
Der Patient berichtet von den beengten Wohnverhältnissen und dem atmosphärischen
Ausgeliefertsein. Rückzug war nicht möglich, es sei denn, in sich selbst und mit
Kontaktabbruch. Schutz gab es nicht. Die Mutter schüttete ihre depressiven Krisen in das
Kind, der Vater, hochgebildet, traktierte mit Gewalt. War despotischer Herrscher mit
subtilem Charme. Entgrenzt in seinen Exzessen, die er seiner gebildeten Seele zugestand
und forderte.
In einer dieser Stunden schlage ich dem Patienten vor, ob er sich einen Schutzwall bauen
wolle. Eine Mauer aus Kissen, einen umgrenzten Raum. Seinen Raum, über den nur er
verfügen dürfe als Symbol für den elterlichen Schutzraum, der dem Patienten fehlte. Er
zeigt Skepsis und Misstrauen im Gesicht. Nimmt schließlich das Angebot schweratmend
an. Er sitzt auf dem Boden, hat die Kissen um sich herumgereiht. Ich erinnere mich an die
Grubenphantasie: ein abgeschlossener negativer Schutzraum. Ich erschrecke, wollte doch
den Patienten nicht in die Einsamkeit schicken. Der Schutzraum sollte doch ein sicherer
Ort für Kontaktaufnahme sein. Ich stehe vom Sessel auf, nähere mich dem Schutzkreis
des Patienten. In diesem Augenblick erleidet der Patient einen Angstanfall. Der Körper
versteift und verkrümmt sich. Auf meine Frage, was geschehen sei, antwortet der Patient,
dass er nicht mehr in einem Schutzkreis säße, sondern unter dem Tisch in der elterlichen
Stube. Dorthin ist er geflüchtet, um sich vor den Attacken des aufgebrachten Vaters zu
retten. Meine Beine und Schuhe sind zu denen des Vaters geworden. Es kommt zu einer
Übertragungsfragmentierung auf regressivem Grund, ich werde zum negativen Aspekt des
leiblichen Vaters. Die untere Hälfte meines Körpers ist aus Sicht des Patienten zum
bedrohenden negativen Teil des Vaters geworden.
Ich setze mich auf den Boden außerhalb des Schutzkreises. Werde jetzt zum Geschwister,
das sich auch unter den Tisch flüchtet. Eine schnelle Folge von Übertragungsfragmentierung hat eingesetzt. Über den Handkontakt werde ich wieder zum frühen
haltgebenden Objekt. Ich frage den Patienten, ob er sich vorstellen könne, dass die
schützende Hand so groß wird, dass sein ganzer Körper hineinpasst. Wie eine bergende
Höhle. Nein, das kann und will er nicht. Der Körper wird hart, Hinweis auf eine
Mangelerfahrung, die ihm zur Grundhaltung wurde. Wenn er sich keine schützende Figur
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vorstellen könne (Vorläufer einer idealen Elternfigur und Träger der heilsamen Botschaft),
ob es ihm hülfe, von der Schutzfigur eine verbale Botschaft zu erhalten. „Ja.“ „Welche?“ Er
schüttelt den Kopf. Ich schlage als schützende Figur diese vor: „Ich sehe Deine Angst. Ich
schütze Dich. Ich lasse nicht zu, dass Du verletzt wirst.“
Eine schützende Figur könne das auch körperlich erfahrbar werden lassen. Ein kurzes
tiefes Aufatmen signalisiert mir, dass die verbalen Botschaften auch auf der Körperebene
aufgenommen sind. Da der Patient eine unmittelbare körperliche Erfahrung abwehrt,
versuche ich, neben dem auditiven Kanal auch den visuellen zu gestalten. Die
schutzgebende Figur (Ich) könnte (personalisiert) dem negativen Aspekt des Vaters Paroli
bieten. Ja, das wäre gut. Ich füge mich in die Schutzmauer ein.
Hinter mir höre ich schweres Atmen. Ich schaue mich um. Die Augen des Patienten sind
weit aufgerissen, starr vor Schreck. „Nein!“ Ein gepresster Schrei. Der Körper so
angespannt, dass ich einen Bewegungssturm erwarte. Nichts und niemand könne vor
diesem gewalttätigen Vater sichern und schützen. Niemand könne ihm Einhalt gebieten.
Zudem sei er auch ein so charmanter und geistig brillanter Mensch.
Ich spüre die tiefe Zerrissenheit und bin erstaunt, wie der Patient diese entsetzliche
Spannung hat aushalten können. Das mütterliche Objekt bot keinen Schutz vor den
Wutattacken des Vaters. Ich wende mich zum Patienten und schlage ihm vor, den realen
Vater in zwei Aspekte zu teilen: den negativen, mit der übergriffs- und anfallsartigen Wut,
und den positiven Aspekt. Er solle seine Gefühle entsprechend aufteilen und zuordnen.
Wir markieren die zwei Aspekte durch verschiedenfarbige Kissen.
Der Patient beruhigt sich und ist augenblicklich entlastet. Der positive Teil des Vaters mit
der zugehörigen Besetzungsenergie bleibt erhalten. Die Abbildung des negativen Teils
ermöglicht, Angst und Wut auszudrücken. Er tut es. Eine erste Welle zurückgehaltener
Wut-Angst-Impulse durchflutet den Körper. Der Patient wünscht jetzt, dass meine Hände
seine Faust und seinen Unterarm umschließen. Begrenzung und Aufnahme lassen
Körperimpuls und Affekt kanalisiert abfließen.
Als dieser erste Wut- und Angstschub durchlebt und körperlich ausgedrückt ist, kehrt
kurzfristig Entlastung ein. Dann bricht die Angst erneut über den Patienten herein wie ein
Hagelschauer. Niemand könne dem negativen Aspekt des Vaters standhalten. Der Vater
sei wie ein mächtiger Gott, ein Über-Gott. Keine Macht der Welt könne gegen ihn etwas
ausrichten. Der Patient erlebt seine kindliche Angst wieder. Der Vater ist das mächtigste
Wesen zwischen Himmel und Erde.
Dieser zweite Angstanfall führt zu einem sofortigen Abstoppen aller körperlicher Impulse.
So als ob der Patient in die Löcher des frühen Mangels stürzt. Der Körper sackt in sich,
doch die Schutzfigur, die jetzt auch zur Haltefigur wird, hält den Körper sicherheitsgebend.
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Es ist jetzt möglich, mit dem Patienten herauszufinden, an welchen Orten und welcher
Qualität die haltenden Berührungen sein müssen, um dem fragenden Körper die
Antworten zu geben, die heilsam sind. Das gelingt. Zusätzlich will der Patient die Botschaft
hören: „Ich halte Dich sicher und fest. Ich bin stark genug, um Dich vor dem negativen
Aspekt des Vaters zu schützen.“ Der Patient öffnet sich für die verbalen und körperlichen
Botschaften und verbindet sie miteinander. Die Atmung tieft sich. Der Körper rollt und
dreht sich, sucht mütterliche Wärme, bergende Höhle, symbiotische Nähe ohne
Verschlingungsangst. Sicherheit im Kontakt, Sicherheit im Eintauchen, Auftauchen,
Austausch. Worte können erklären und verstehen helfen. Die emotionale körperbezogene
Neuerfahrung aber nicht ersetzen. Der Patient liegt entspannt, wohlig, lächelnd.
Die emotionalen Neuerfahrungen verankern sich nur durch kontinuierliche psychische
Arbeit in einem Zeitkontinuum. Die alte traumatisierende leibseelische Erfahrung lässt sich
nicht tilgen. Sie ist erfahrene Lebensgeschichte. Die Arbeit am leibseelischen Gesamt
führt zu neuen positiven Erfahrungen auf realsymbolischer Ebene. Diese ist in kritischen
Situationen abrufbar und bildet ein Gewicht gegen den Sog triebhaft-affektiven
Geschehens. Die Angst, es könne sich ein unstillbares Bedürfnis nach schützendem
Kontakt einstellen, ist unbegründet und widerspricht meiner Erfahrung. Ein unstillbares
Bedürfnis ist mir bisher nicht begegnet. Es kommt da zustande, dann aber als
behandlungstechnisches Artefakt, wo Bedürfnisse verweigert werden. Kein Patient will
Säugling oder Kleinkind bleiben. Es ist eher umgekehrt. Viele Patienten durften nicht
ausreichend Säugling oder Kleinkind sein. Der Drang nach Wachstum wurde schändlich
ausgenutzt, die regressiven Bedürfnisse abgewertet. Ist der Mangelzustand im
Grundbedürfnis aufgefüllt, strebt der Patient dem nächsten Entwicklungsschritt entgegen.
Er will reifen. Er bleibt eher dann sehnsüchtig-regressiv gefangen, wenn ihm
angemessene und befriedigende Antworten verwehrt werden. Dann entbrennt ein Kampf,
der unaufhebbar einfordert. Die Verweigerung schwächt die psychischen Kräfte des
Patienten und untergräbt die therapeutischen Möglichkeiten.
Mein Patient suchte nur so lange die schützende und bergende Sicherheit, bis er dem
negativen Aspekt des Vaters gegenübertreten, seine Enttäuschung, seine Wut, sein
Leiden ausdrücken konnte mit all der zurückgehaltenen Heftigkeit seines körperlichen
Seins. Der Patient hat gelernt, dass seine heftigen Gefühlen, die aus der Dunkelkammer
des Unbewussten ans Licht traten, dem sozialen Kontakt standhalten. Der eigene Körper
wie der des Therapeuten sind wahr geworden.
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LITERATUR
Dornes, M.: Der kompetente Säugling. Fischer, Frankfurt 1993.
Hoffmann-Axthelm, D. (Hsg.): Der Körper in der Psychotherapie. Transformverlag,
Oldenburg 1991.
Milz, H.: Der wiederentdeckte Körper. Artemis und Winkler,
München 1992.
Moser, T.; Pesso, A.: Strukturen des Unbewußten. Klett-Cotta, Stuttgart 1991.
Perquin, L.: Einführung in die Pesso-Psychotherapie. Unveröffentlichtes Manuskript.
Amsterdam, 1994.
Perquin, L.: Der Körper in der Psychotherapie. Unveröffentlichtes Manuskript. Amsterdam,
1994.
Pesso, A.: Dramaturgie des Unbewußten. Klett-Cotta, Stuttgart 1986.
Pesso, A.; Crandell, J. (Hsg.): Moving in Psychotherapy. Brooklyn Books 1991
Dieser Vortrag wurde veröffentlicht in der Zeitschrift der DGPGT e.V. (Deutsche
Gesellschaft für Psychoanalytische Gestalttherapie), Heft Nr. 5 , 1995, S. 6 bis 32.
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