Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp (13. 11. 2013) (Winter 2013) Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft (Teil 1) • Begrüßung - Organisatorisches • Input: Filmausschnitt „Matrix“ • Arbeitsphase – Aussprache („WirklichkeitsverständnisArbeit der Bildungswissenschaften“) • Vortrag: „Theorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft 1“ • Arbeitsphase 2 – Aussprache - Diskussion Arbeitsfragen zum Film „Matrix“: 1. Beobachten und beschreiben Sie das der Filmhandlung zu Grunde liegende Wirklichkeitsverständnis. 2. Benennen Sie mögliche Konsequenzen, die sich daraus für die Arbeit der Erziehungs- und Bildungswissenschaft ergeben. Grundlagentheorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft Geisteswissenschaftliche Pädagogik Grundlagentheorien der Erziehungs- und Bildungswissenschaft Strukturfunktionalismus und Systemtheorie Empirismus und Kritischer Rationalismus Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Konstruktivismus und Pragmatismus Geisteswissenschaftliche Pädagogik Die Gründerfigur der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist Wilhelm Dilthey (1833-1911). Geisteswissenschaftliche Pädagogik Abgrenzung von Geisteswissenschaft zu Naturwissenschaften Unter Geisteswissenschaften werden alle Wissenschaften verstanden die sich auf die Menschen und ihre soziohistorischen Verhältnisse beziehen. Sie brauchen ihre eigene wissenschaftstheoretische Grundlegung und haben eine eigene Methode des Erkenntnisgewinns, die Hermeneutik. Sie erklären nicht Verhalten wie die Naturwissenschaften, sondern verstehen die psychosozialen Zustände eines Menschen in ihrer Bedeutung und interpretieren diese sinnverstehend Geisteswissenschaftliche Pädagogik Klassiker der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Eduard Spranger (1882-1963) Hermann Nohl (1879-1960) Geisteswissenschaftliche Pädagogik Wilhelm Flitner (1889-1990) Erich Weniger (1893-1961) Theodor Litt (1880-1962) Geisteswissenschaftliche Pädagogik Theoretische Grundlagen Ausgangspunkt: die Tatsache der Erziehungswirklichkeit. Geisteswissenschaftliche Pädagogik versteht sich als engagierte theoretische Reflektion der pädagogischen Praxis. Ihre Aufgabe als hermeneutische Disziplin ist es, die Bedeutung der Erziehungswirklichkeit zu erfassen. Diese ist das Ergebnis einer soziohistorischen und einer individualhistorischen Entwicklung, die sich im Erzieher-ZöglingVerhältnis harmonisch verbindet. Geisteswissenschaftliche Pädagogik Vorgehensweisen Teilnehmende Beobachtung konkreter pädagogischer Erziehungssituationen Der Rückgriff auf eigene pädagogische Erfahrungen, um sich in jemanden hineinzuversetzen, als „Wiederfinden des Ich im Du“ Rückgriff auf gemeinsame Erfahrungen im Kreis einer pädagogischen Gemeinschaft, der Austausch unter Kollegen Chardin: Die kleine Schulmeisterin Was können Sie beobachten? Welche eigenen Erfahrungen verbinden Sie mit dem Bild? Tauschen Sie sich aus. Geisteswissenschaftliche Pädagogik Folgerungen für die pädagogische Praxis Das Ziel der Erziehung ist die Bildung, nicht die Vermittlung von Qualifikationen. Bildung ist historisch bestimmt mit den grundlegenden Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen, die für das Leben des Einzelnen innerhalb eines spezifischen Kulturraums notwendig erscheinen. Doppeltes Verständnis von Bildung: gesellschaftlich durch die Vermittlung der für die jeweilige historischen Epoche bedeutsamen Kenntnisse, Methoden und Normen und individuell durch die Unterstützung des Einzelnen in seiner Entwicklung Geisteswissenschaftliche Pädagogik Probleme Quantitativ-empirische Forschung hält die hermeneutische Methode für unwissenschaftlich, da bloß subjektiv und nicht überprüfbar Kritische Erziehungswissenschaft kritisiert den strukturellen Konservativismus wegen des Traditionsbezugs und die Anfälligkeit für totalitäre Versuchungen Der Ansatz der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bleibt gegenüber der sozialen Realität abstrakt, da er eine idealisierte „platonische“ Gesellschaft zu erreichen sucht Empirismus und kritischer Rationalismus Theoretische Grundlagen Empiristische Pädagogik als eine Gegenbewegung zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik nach dem Muster der Naturwissenschaften Die Basis der Erziehungswissenschaft sind dann die „pädagogischen Tatsachen“, auf denen wissenschaftliche Theorien basieren müssen Die Erfassung dieser Tatsachen beruht nicht auf subjektiven Erfahrungen, sondern auf methodisch kontrollierter Beobachtung und Messung von Einzeldaten Von Experimenten und Labordaten wird dann auf allgemein geltende pädagogische Gesetze geschlossen Empirismus und kritischer Rationalismus Probleme Die Beschreibung wird unerkannt zur normativen Vorschrift für das praktische pädagogische Handeln Die frühe experimentelle Erziehungswissenschaft kritisiert die verblasenen Ideen der Pädagogik, allerdings reduziert sie die Komplexität pädagogischer Handlungs- und Problemfelder auf das Messbare In pädagogischen Situation geht es aber nicht nur um objektiv messbares Verhalten und Verhaltensänderungen, sondern um das Handeln von Lernenden und Lehrenden Verzicht auf wissenschaftlich angeleitete Verbesserung der pädagogischen Praxis Empirismus und kritischer Rationalismus Hauptvertreter des kritischen Rationalismus ist Sir Karl Raimund Popper (1902-1994) Empirismus und kritischer Rationalismus Hauptthesen des Kritischen Rationalismus Reaktion auf das Problem induktiver Forschung. Gesetzesaussagen werden als Hypothesen verstanden, die experimentell geprüft werden Tatsachen sind nicht objektiv gegeben, sondern beruhen auf begrifflichen, theoretischen Unterscheidungen Aufgabe der Erziehungswissenschaft hat: Theorien zu finden, die jeweils streng auf ihre Falsifizierbarkeit geprüft werden. Dabei muss auf normative Wertaussagen Verzicht geleistet werden. Empirische Wissenschaft ist eine rein theoretische Disziplin, dennoch soll sie auch Erklärungen, Prognosen und Technologien für praktisches pädagogisches Handeln bereitstellen. Empirismus und kritischer Rationalismus Wolfgang Brezinka (1928) versucht auf der Basis des Kritischen Rationalismus von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft zu kommen. Empirismus und kritischer Rationalismus Thesen Brezinkas • Erziehungswissenschaft soll sich von traditionellen, normativen Aussagen der Pädagogik entfernen • Erziehungswissenschaft soll bestimmt sein als System von Aussagen über den Objektbereich Erziehung • Die daraus gewonnenen generalisierten Gesetzesaussagen sollen in Erklärungen, Prognosen und Technologien für praktisches pädagogisches Handeln umgesetzt werden • Erziehungswissenschaft soll wertfrei und deskriptiv sein, nicht normativ oder emotiv. • Neben die Wissenschaft der Erziehung soll es eine praktische Pädagogik geben als System von Empfehlungen für das praktische Handeln in der pädagogischen Praxis. Empirismus und kritischer Rationalismus Probleme • Die Autonomie des Einzelfall wird gestrichen. Der Maßstab ist nicht die Wahrheit des Einzelfalls, sondern der Erfolg und die Effizienz nach dem Gesetz der großen Zahl • Mentale Zustände und Prozesse wie Gedanken, Gefühle und Empfindungen werden nicht erfasst • Die Festlegung von Forschungsmethoden ist nicht objektiv und wertfrei, sondern eine normative Entscheidung und Festlegung • Durch das Ausblenden des Subjektbezugs muss auf Folgen der Forschungsmethoden auf die Versuchspersonen nicht geachtet werden • Trotz unzähligen empirischen Untersuchungen ist es nicht gelungen, einfache Aussagen im Wenn-Dann-Schema zu bestätigen, da pädagogische Situationen durch Momente der Ungewissheit, Komplexität, Instabilität, Unaustauschbarkeit und von Zielkonflikten gekennzeichnet sind Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Gegen die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und gegen die KritischRationalistischen Pädagogik richtet sich die Kritische Theorie. Die Hauptvertreter sind Theodor W. Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (18951973). Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Hauptthesen Gesellschaftliche Tatsachen sind von Menschen erzeugt und daher auch veränderbar Das Ziel ist, durch Aufklärung zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen, damit Menschen selbstbestimmt und frei von Zwängen ihr Zusammenleben organisieren können Das bisher uneingelöste Versprechen der Aufklärung ist die Befreiung der Menschen von überflüssig gewordenen sozialen Zwängen Die methodologische Grundlage der kritischen Theorie ist objektives Sinnverstehen, wobei die Strukturen, Prozesse und Regeln angegeben werden, die soziale Tatsachen zu erklären helfen. Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Probleme der kritischen Theorie • Das Forschungsprogramm einer kritischen Theorie ist bisher nur ansatzweise eingelöst worden • Die methodologische Grundlage des objektiven Sinnverstehens bleibt präzisierungsbedürftig • Das Fehlen konkreter Ansatzpunkte für Veränderungsprozesse macht es schwierig, einen Weg zu finden, der zu mehr Autonomie führt Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Die kritische Erziehungswissenschaft nimmt nicht die kritische Theorie Adorno und Horkheimers auf, sondern die Theorie der erkenntnisleitenden Interessen von Jürgen Habermas. Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Grundthesen Habermas geht davon aus, dass Gesellschaften sich über Sprache, Arbeit und Herrschaft organisieren Mit diesen drei Medien sind für ihn unterschiedliche Interessen verknüpft, die in unterschiedlichen Wissenschaftsformen auftreten Mit Arbeit verknüpft ist soziales Interesse an Erweiterung technischer Verfügungsgewalt Mit Sprache verknüpft ist ein soziales Interesse an lebenspraktischer wechselseitiger Verständigung. Mit Herrschaft verknüpft ist ein soziales Interesse des Zwanges zur Selbsterhaltung und damit verbunden das Interesse an Befreiung von unnötigen Zwängen. Diese Interessen korrespondieren wissenschaftliche Interessen zu: ein technisches Erkenntnisinteresse, ein praktisches Erkenntnisinteresse und ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Seit Mitte der 1960er Jahre wird versucht, Erkenntnisse und Argumente der kritischen Theorie auch für die Erziehungswissenschaft fruchtbar zu machen. Als Hauptvertreter können betrachtet werden: Klaus Mollenhauer (19281998), Herwig Blankertz (1927-1983) und Wolfgang Klafki (1927). Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Hauptthesen Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist, ideologiekritisch die Abhängigkeit der Erziehung von sozialen Prozessen und Strukturen nachzuweisen Der Begriff Emanzipation erhält bildungstheoretisch zentralen Stellenwert in einer doppelten Wendung: Emanzipation von Herrschaft und Emanzipation zu Mündigkeit und Selbstbestimmung Bildung wird dabei an einem emphatischen Begriff von Emanzipation orientiert, der allerdings in den Niederungen des pädagogischen Alltagsgeschäfts weder gefunden noch verkörpert werden kann Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Folgen für die pädagogische Praxis • Schulkritik unter dem Anspruch der Emanzipation • Entwicklung von Erziehungszielen unter dem Anspruch von Emanzipation • Emanzipatorischer Unterricht Kritische Theorie und kritische Erziehungswissenschaft Probleme • • • • Pädagogische Praxis weitgehend routinisiert, daher auf Dauer gestellte Reflektion kaum durchhaltbar Die kritische Erziehungswissenschaft hat keine eigene Methode entwickelt Emanzipation kann nicht nur als die Autonomiewerdung eines Einzelnen verstanden werden, sondern der Einzelne wird auch dann erst wirklich emanzipiert sein, wenn die gesamte Weltgesellschaft emanzipiert ist Im Rahmen kritischer Erziehungswissenschaft ist das empirische Wissen über den Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft weitgehend auf den Bereich historischer Studien beschränkt Merkmale industrieller Arbeitsorganisation Erwünschtes Arbeits- und Sozialverhalten Merkmale schulischer Organisation Innerbetriebliche Hierarchisierung der Funktion und Funktionäre Innerbetrieblicher Bewährungsaufstieg Rigide Arbeitsplanung und Arbeitskontrolle Unterordnung, Gehorsam Innerschulische Hierarchisierung der Lernstufen Aufstiegsorientierung Sitzen bleiben und versetzt werden Bürokratisierung der Lernzeiten (Stundenplan, 45 Minuten Takt) Schulzensur als Belohnungs- und Bestrafungsinstrument Pünktlichkeit Akkordentlohnung nach Regelmäßigkeit produzierter Stückzahl Abstimmung von Arbeitsmarkt und Schule im Zeitalter der großen Industrie Impulsfrage: „Heraus aus der Welt der Schatten“ – Welche Anpassungsformen an die Wirklichkeit können Sie in den gegenwärtigen pädagogischen Umstellungen auf mehr Eigenverantwortung und größere Flexibilisierung erkennen und wo liegt Ihre pädagogische Utopie?