6. Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit untersucht die tooth wear an neuzeitlichen Schädeln, die aus dem ehemaligen Hintersassenfriedhof (1769-1815) an der Hohliebe zu Bern stammen. Sie analysiert und dokumentiert 23 ausgewählte Gebisse mit spezieller tooth wear und geht deren Ursachen nach. Die Ergebnisse werden in einen historischen wie zeitgemässen Kontext gestellt. Tooth wear wird definiert als ein nicht-kariöser Zahnsubstanzverlust und unterteilt sich in die Formen Abrasion, Attrition, Erosion und Abfraktion. Gesamthaft wurden 343 Zähne und im Speziellen 33 Lokalisationen von tooth wear untersucht. Während an den Gebissen das Vorhandensein von Karies, Parodontitis oder Zahnstein beurteilt und ihre tooth wear quantitativ erfasst wurde, stand bei den 33 Ausprägungen von tooth wear die makro- bis mikromorphologische Dokumentation im Vordergrund. Der Kariesbefall an den Zähnen der Studienpopulation beträgt 42%. 22 Gebisse sind generalisiert von einer Parodontitis betroffen. 333 (97.1%) Zähne weisen tooth wear auf, wovon bei 303 Zähnen eine mechanische (Abrasion oder Attrition) und bei 31 Zähnen eine chemische Ursache (Erosion) zu Grunde liegen. Die Grad-1-Abrasion und Grad-2-Erosion an den Okklusalflächen kommen dabei am häufigsten vor. 14 Zähne pro Person haben im Durchschnitt einen Substanzverlust. Die verschiedenen Lokalisationen von tooth wear konnten aufgrund ihrer morphologischen Erscheinungen in fünf Gruppen geordnet werden: Die Gruppe „konkavförmiger bis runder Zahnabrieb“ enthält 23 sich gleichende Abnutzungen. Die Gruppe „stark abgetragene Innenflächen der Oberkieferzähne“ wird durch einen Ober- und Unterkiefer repräsentiert. Die Gruppen „Rille im Zahn“ und „stark angeschliffener Einzelzahn“ beschreiben eine eigene Ausprägung von tooth wear und die Gruppe „andere Abriebe“ beinhaltet sechs Zahnsubstanzverluste, welche nicht eindeutig eingeteilt werden können. Der Kariesbefall und das häufige Vorkommen von generalisierter Parodontitis sind symptomatisch für die damalige Zeit. Auch die quantitative Ausprägung des mechanischen Substanzverlustes reiht sich chronologisch gut ein. Bei der Erosion kann dieser Aspekt nicht beurteilt werden, da diese Form von tooth wear in historischen Populationen bisher kaum beschrieben wurde. Als Ursache für den „konkavförmigen bis runden Zahnabrieb“ wird die tönerne Tabakpfeife definiert. Die diagnostischen Kriterien zu dieser Bestimmung sind die Morphologie der Abrasion selber in drei Grössendimensionen, die betroffenen Zähne und deren Verteilung, der Parodontalzustand des Gebisses, mögliche Nebenbefunde im Gebiss, das Alter des Individuums und die Datierung des Fundes. Diese Tonpfeifenabrasion kommt in der Population der Hintersassen mit einer Häufigkeit von 27.6% vor. Die „stark abgetragenen Innenflächen der Oberkieferzähne“ bei einem männlichen Gebiss stellen eine Erosion dar, die sehr wahrscheinlich auf gastro-ösophagalen Reflux zurückzuführen ist. Die Erscheinung der tooth wear entspricht den Kriterien einer Erosion nach Ganss (2006) und Lussi (2006). Ihr intensives Vorkommen an den Oberkieferzahninnnenflächen, an den Okklusalflächen der Unterkiefer-Molaren und das Fehlen dieses Substanzverlustes an sämtlichen Zahnaussenflächen resp. das dortige Vorkommen von (nicht-verfärbtem) Zahnstein beweisen den endogenen Ursprung der Säure, die auf diese Zähne wirkte. Die „Rille im Zahn“ wird als Anfangsstadium einer Tonpfeifen-Abrasion angesprochen. Auch diese Diagnose entstand aufgrund der Befunde durch die Analyse der Morphologie der Abrasion am Zahn und von weiteren Zahnsubstanzverlusten im Gebiss. Der „stark angeschliffene Einzelzahn“ repräsentiert den letzten verbliebenen Zahn im Gebiss des Individuums. Seine tooth wear entstand durch Abrasion (Gebrauch eines unbekannten Gegenstandes am Zahn) und Attrition. Die letzten vier Lokalisationen von tooth wear („andere Abriebe“) kamen durch die Kombination von Abrasion und Attrition zustande und widerspiegeln ebenfalls den Gebrauch und die Abnutzung der Zähne über die Jahre hinweg. Die Darlegung der morphologischen Charakteristika von verschiedenen Ausprägungen historischer tooth wear in dieser Arbeit soll in Zukunft die anthropologische Diagnose ähnlicher Funde unterstützen. Hintergrundinformationen werden Die dazugehörigen hier ebenfalls historischen erläutert. wie Andererseits aktuellen sollen die zeitgemäßen Ausprägungen von tooth wear relativiert werden und dadurch für weitere Forschungen und Überlegungen in diesem Gebiet anregen.