Soziale Psychiatrie und Soziale Arbeit Über eine an sich naheliegende Komplementarität (so nah und doch so fern) Peter Sommerfeld Institut Soziale Arbeit und Gesundheit Meine Ausgangsthesen Den Ausgangspunkt bildet die These, dass Diagnostik kein isoliert zu betrachtendes Element des professionellen Handelns ist, sondern ein konstitutiver Teil des Wissenskorpus der Sozialen Arbeit, und dass der gesamte professionelle Prozessbogen in Betracht gezogen werden muss, wenn Diagnosesysteme entwickelt werden. Es gibt kein diagnostisches Instrument an sich Es gibt also unterschiedliche funktionale Anforderungen an Diagnostiksysteme/ Instrumente, die mit dem zusammenhängen, wie die (professionelle) Praxis strukturiert ist oder wohin sie sich entwickeln will Analog dazu gibt es funktionale Anforderungen an Diagnostiksysteme/ Instrumente, die mit dem zusammenhängen, wie die interprofessionelle Praxis strukturiert ist, oder wohin sie sich entwickeln soll Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 2 Modell eines konsolidierten Wissenskorpus Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 3 Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 4 Interprofessionalität nach Andrew Abbott: The System of Professions Claims und ihre Durchsetzung • «jurisdictional claim» (Zuständigkeit) als conditio sine qua non Arenen der Durchsetzung • Arbeitsplatz (Organisation) • Öffentlichkeit • Gesetzgebung Währung Wissen Abbott, Andrew (1988): The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago: University Press Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 5 Strukturierungen interprofessioneller Zusammenarbeit Entweder: • Dominanz und Strukturierung im dominanten Paradigma via Delegation (siehe Abbott/ Geschichte der Professionen) Oder: • Andere Form der Integration der ausdifferenzierten Wissens- und Handlungssysteme • Austauschbeziehungen höherer Ordnung (Friedhelm Neidhardt) • Interdisziplinäre Kooperation setzt ein übergeordnetes Modell voraus, das die Zusammenarbeit und die Kommunikation strukturiert (Werner Obrecht) Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 6 Definition(en) Sozialpsychiatrie „…derjenige Teilbereich der Psychiatrie, welcher Menschen mit psychiatrischen Störungen in und mit ihrer sozialen Umwelt zu verstehen und zu behandeln trachtet.“ (Ciompi 2001: 756) „Sozialpsychiatrie ist der Oberbegriff einer normativ orientierten sozialen Praxis, die Menschen mit schweren psychischen Problemen in den gesellschaftlichen Alltag zu integrieren versucht.“ (Keupp 1998: 581) „Sozialpsychiatrie stellt als empirische Wissenschaft, als therapeutische Praxis und als soziale Bewegung den Versuch der Rückbeziehung auf und die Integration der psychisch Leidenden in ihre soziale Realität dar…“ (Hasselbeck in Strotzka 1995: 168.) Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 7 Evidenz: Sozialepidemiologie und Therapie „Dies [die sozialen Lebensbedingungen, pso] sind Inkongruenzquellen, auf die die Psychotherapie in der Regel keinen oder sehr begrenzten Einfluss hat. Sind diese ungünstigen Lebensbedingungen sehr ausgeprägt, wird man den Zustand des Patienten alleine mit Psychotherapie kaum nachhaltig verbessern können“ (Grawe, 2004: 412). Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 8 Bedingung für interprofessionelle Psychiatrie: eine am bio-psycho-sozialen Modell orientierte Psychiatrie und die Weiterentwicklung dieses Modells „In erster Linie hoffe ich, dass alle künftige Psychiatrie sich auf ein ganzheitlichintegratives Verständnis psychischer Störungen abstützen wird, das sowohl psychologische wie soziale und biologische Aspekte gleichgewichtig berücksichtigt. – Die Vorbedingung hierfür sind präzisere Modellvorstellungen über psycho-sozio-biologische Wechselwirkungen als bisher, m.E. am ehesten im Sinn des Konzepts der reziproken strukturellen Koppelung (…).“ (Ciompi 2001: 763; Hervorhebung im Original). Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) 15.12.2016 9 Strukturelle Koppelung I Soziale Ordnungsstruktur in konkreten Handlungssystemen Familie Schule / Ausb. Wirtschaft / Arbeit Kultur / Freizeit Priv. Sozial-system Schatten-welten Hilfesystem (stellvertretende Inklusion) Integration in das System Form der positionalen und interaktionalen Einbindung eines bestimmten Akteurs Zirkuläre Kausalität Integration des Systems – Einbindung von Akteuren / Sinn in bestimmten Positionen und Interaktionsmustern Individuelle Kognitions-Emotions-Verhaltensmuster Psychische Potentiallandschaft (H. Haken/ G. Schiepek) 10 Strukturelle Koppelung II Soziale Ordnungsstruktur in konkreten Handlungssystemen Familie Schule / Ausb. Wirtschaft / Arbeit Kultur / Freizeit Priv. Sozial-system Schatten-welten Hilfesystem (stellvertretende Inklusion) Integration in das System Zirkuläre Kausalität Integration des Systems Innere Ordnungsstruktur des Individuums 11 Die analytische Einheit: Das Lebensführungssystem Soziales Netz Familie Prof. Hilfesystem Interaktion Position Ausbildung/ Arbeit/ Tagesstruktur Schattenwelten Akteur/in mit Ausstattung und Mustern der Lebensführung Wohnumfeld Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) Kultur/ Freizeit 15.12.2016 12 Der Wandel des Lebensführungssystems als handlungsleitendes Ziel der Sozialen Arbeit Stabilitätsbedingungen Formen der Integration Realisierbare + bedeutsame Zukunftsvisionen Problemgenese Erfahrungsräume schaffen Bewältigungsaufgaben/ subjektive Handlungsfähigkeit Reflexion + Veränderung Muster Verfügbare Ressourcen Kapitalien Ressourcenaktivierung KEV-Muster Modellierung Soll Monitoring/ Begleitung Ist Analyse/ Systemmodellierung als Ausgangspunkt Interventionstheorie Sommerfeld - Institut Soziale Arbeit und Gesundheit 15.12.2016 13 Formen der Integration Realisierbare + bedeutsame Zukunftsvisionen Problemgenese Verfügbare Ressourcen Kapitalien Stabilitätsbedingungen Ressourcenaktivierung materielle Grundsicherung Organisation Infrastruktur Erfahrungsräume schaffen Reflexion + Veränderung Muster Bewältigungsaufgaben/ subjektive Handlungsfähigkeit KEV-Muster Programme Alltagsbewältigung/ komplexe Programme Befähigungen Diagnostik/ Assessment Interventionen in einzelne Systeme Entwicklungsplanung Bildung Soziale Interventionen Prozessmonitoring/ Reflexion Evaluation Prozessbogen und Interventionspool Funktion der Sozialen Arbeit Priv. Sozialsystem Arbeit „Schattenwelten“ Arbeit an Formen der Integration Schule / Ausb. Familie Kultur / Freizeit Koordination => Synchronisation individueller und sozialer Prozesse Kontinuität Hilfesysteme Bewältigungsaufgaben der Lebensführung Soziale Prozesse Synchronisation Draussen Sozio-psycho-biol. Integrierter Prozessbogen anstatt Versorgung Psychische Prozesse Arbeit an individuellen Mustern Biologische Prozesse Drinnen Bio-psycho-sozial 15 Ein bio-psycho-soziales Modell der Kooperation von Medizin/ Therapie und Sozialer Arbeit Gesundheitssystem/ Medizin Sozialwesen/ Soziale Arbeit Hilfen zu Lebensbewältigung/ Integration und Lebensführung Recovery Heilen/ Therapie Synchronisierte Bearbeitung der bio-psycho-sozialen Dynamik Sommerfeld - Institut Soziale Arbeit und Gesundheit 16 Quelle: DGSAS (Hrsg.) (o.Jg.): Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und der Suchtprävention Sommerfeld - Institut Soziale Arbeit und Gesundheit 15.12.2016 17 Modell ICF Gesundheit Gesundheitsproblem Körperstrukturen Körperfunktionen Kontextfaktor Umwelt Aktivitäten Partizipationen Kontextfaktor Personbezogene Faktoren 18 Oberholzer: Weitergehende Modellierung: die dreifache Kompetenzentwicklung Person Raum Persönlichkeitsentwicklung als Kompetenzentwicklung Regelbezogenes Leben: Was darf/ soll gemacht werden und was nicht? • • • • • stabiles und positives Selbstkonzept personenbezogene Kompetenzen Handlungskompetenzen kognitive Kompetenzen Begleitung/ etc. • • Angebot von Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten Angebot von Gestaltungsmöglichkeiten Hilfe Teilhabebezogene Begleitung und Unterstützung • • • • • • Teilhabemöglichkeiten kennen/ aufzeigen Selbstverantwortung /Willen stützen Informationen geben/ beim Lernen helfen Beim Üben helfen Beim Können helfen Fürsorge Quelle: Oberholzer in: Gahleitner/ Hahn/ Glemser 2013 19 Oberholzer: Beschreiben und Bewerten der funktionalen Gesundheit als Grundlage zur Definition der Hilfen (Bedarf) Person Raumkonzept Teilhabekonzept Raum Beschreibt: • Individuelle Teilhabe an definierten Teilhabeorten • Qualität der personenbezogenen Kompetenzerfahrung • Qualität der raumbezogenen Kompetenzen • Qualität des Zusammenspiels person- und raumbezogene Kompetenzentwicklung Bewertet: • kompetente Teilhabe in Bezug auf das Lebens- und Entwicklungsalter Individuelle Lebens- und Entwicklungssituation Modell der funktionalen Gesundheit (Landkarte) als Instrument zur Rekonstruktion von Lebens- und Entwicklungssituationen (Landschaften) Begleitung/ Hilfe Beschreibt: • Notwendige Hilfen zur notwendigen Teilhabe und Formen von deren Realisierung • Personenbezogen, teilhabeortbezogen, wechselspielbezogen 20 Die analytische Einheit: Das Lebensführungssystem Soziales Netz Familie Prof. Hilfesystem Interaktion Position Ausbildung/ Arbeit/ Tagesstruktur Schattenwelten Akteur/in mit Ausstattung und Mustern der Lebensführung Wohnumfeld Peter Sommerfeld – Institut Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) Kultur/ Freizeit 15.12.2016 21