Anforderungen an die medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen aus der Sicht der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. Werena Rosenke Vor fast 20 Jahren ist das Thema „Armut, Krankheit, Wohnungslosigkeit“ erstmals umfassend von der BAG Wohnungslosenhilfe, damals noch BAG für Nichtsesshaftenhilfe auf ihrer Bundestagung 1989 diskutiert worden. 1998 wurde in Mainz die bundesweite „AG Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen“ gegründet. Diese Arbeitsgemeinschaft ist inzwischen ein Facharbeitskreis innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. Der Fachausschuss Gesundheit der BAG W ist im Jahr 2002 gegründet worden. Die nachfolgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf den diversen fachlichen Empfehlungen und Untersuchungen der BAG W (vgl. BAG W 2000, BAG W 2003, BAG W 2006). Wohnungslose sind aufgrund vielfältiger Umstände, die mit ihrer Lebenslage einhergehen, z.T. von der regulären Gesundheits- und Krankenversorgung ausgeschlossen bzw. werden von den vorhandenen Versorgungsstrukturen nur schwer erreicht. Als “Ersatz” für eine fehlende medizinische Primärversorgung Wohnungsloser steht häufig freiwillig oder unfreiwillig - die kostenintensive, punktuelle medizinische Hilfe einer Notfallambulanz oder aber eine notfallmäßige stationäre Krankenhausaufnahme. 1. Ziele und Zielgruppen Zielgruppenspezifische niedrigschwellige Angebote versuchen diese Versorgungslücken zu schließen und eine angemessene gesundheitliche Grundversorgung zu sichern. Der Bedarf an entsprechend zugeschnittenen Hilfen wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt und differenziert. Die Existenz und der weitere Ausbau dieser fachlich unumstrittenen Angebote ist aber keinesfalls gesichert. Sogenannte niedrigschwellige Hilfen sind da erforderlich, wo die Erreichbarkeit der Hilfeangebote für Wohnungslose durch strukturelle bzw. individuelle Zugangsbarrieren erschwert ist, beispielsweise durch ungeklärte Versicherungsverhältnisse, soziale Notlagen, ein fehlendes Krankheitsbewusstsein, schlechte Erfahrungen mit dem medizinischen Regelsystem oder/und den sozialen Hilfen oder Kommunikationsstörungen im Behandlungskontakt. Ziel solcher niedrigschwelliger Hilfen für Wohnungslose ist die Sicherung einer medizinischen Grundversorgung mit Begleitung und Unterstützung zur Inanspruchnahme regulärer Versorgungsangebote. Die Rückführung in das Regelsystem bleibt dabei ein wesentlicher Faktor. Die erfolgreiche Vermittlung in reguläre Einrichtungen des Gesundheitssystems ist dabei nicht nur von individuellen Möglichkeiten des Patienten abhängig, sondern auch von Anpassungsleistungen des Regelversorgungssystems. Seit Inkrafttreten des GMG hat es jedoch nicht nur keine weiteren Anpassungsleistungen gegeben, sondern ist das Gegenteil eingetreten: Die Hürden sind für wohnungslose Menschen noch höher gelegt worden. Häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung finden sich Mehrfacherkrankungen, die ein in der Regel multidisziplinäres Behandlungsteam erfordern. Bei einem großen Teil der wohnungslosen Patientinnen und Patienten bestehen zusätzlich zur sozialen Situation und den zu behandelnden somatischen Erkrankungen psychische Störungen u.a. in Form von Suchterkrankungen und schizophrenen Psychosen, die in der Behandlungssituation immer berücksichtigt werden müssen. Es dauert oftmals lange bis ein Kontakt bei dieser Patientengruppe gebahnt ist, deswegen spielt die Behandlungskontinuität eine entscheidende Rolle. Oft lassen sich erst mit Ausbildung einer tragfähigen Beziehung zwischen Arzt/Pflegekraft und Patient/in (was mitunter Monate in Anspruch nimmt) und eines entsprechenden Vertrauens weiterführende Kontakte herstellen. 2. Faktoren, die die medizinische Versorgung von Wohnungslosen erschweren, sind Fehlende bedarfsgerechte medizinische Angebote Ungeklärte oder fehlende Versicherungsverhältnisse Schlechte Erfahrungen mit dem medizinischen Regelsystem und/oder der institutionellen Hilfe Misstrauen gegenüber institutioneller Hilfe Kommunikationsstörungen im Behandlungskontakt Aggressives Verhalten Selbstverletzendes Verhalten Durch Suchtmittel veränderte Bewusstseinslage, dadurch erschwerte Diagnostik und Behandlung Schlechte Körper- und Kleiderhygiene Begrenzte Krankheitseinsicht und Motivation zur Mitwirkung Unzureichende Vernetzung der Versorgungsangebote mit weiterführenden Hilfen Fehlende Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen und/oder ethnischen Besonderheiten 3. Spezifische Ansätze in niedrigschwelligen medizinischen Hilfeprojekten Ein gestuftes Behandlungsmodell erscheint angesichts der unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen der Zielgruppe angemessen. Dabei lassen sich folgende Bereiche unterscheiden: Straßenbesuche (medical streetwork) Einsätze einer fahrbaren Ambulanz Sprechstunden in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe Behandlung in Krankenwohnungen Kooperationen mit Partnern im Regelversorgungssystem Die einzelnen Stufen unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität, der Strukturierung, der Behandlungssituation und der Zugangsbarrieren. Während die medizinische Straßenarbeit geringe Ansprüche an die Motivation des Betreffenden stellt, bedarf es zum Besuch einer Sprechstunde in einer Hilfeeinrichtung zumindest eines Mindestmaßes an Eigeninitiative oder Krankheitseinsicht. Auch die Integration der Behandlungskontakte in die Einrichtungen sowie der Patienten in das Regelversorgungssystem erfolgt je nach Stufe unterschiedlich. Ziel eines solchen Stufenmodells ist es, Angebote zu entwickeln, die letztlich in die medizinische Regelversorgung überleiten. Die Nähe zum Lebensumfeld der Patientinnen und Patienten ist jedoch auf allen Stufen des Behandlungsmodells eine zentrale Voraussetzung. Da viele gesundheitliche Probleme der wohnungslosen Frauen und Männer eng mit den sozialen Umständen verknüpft sind und auch ohne deren Berücksichtigung nicht angemessen gelöst werden können, bedarf es einer engen Zusammenarbeit mit den sozialpädagogischen Fachkräften der Wohnungslosenhilfe. Wohnungslose Frauen müssen Zugang zu einer medizinischen Versorgung erhalten, die ihren spezifischen gesundheitlichen Problemen gerecht wird und die der Erscheinungsweise weiblicher Wohnungslosigkeit angemessen ist. 4. Strukturelle Ausstattung der Projekte Aus den genannten Aufgabenbereichen und spezifischen Arbeitsansätzen in der medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen ergeben sich nachfolgende Anforderungen an die strukturelle Ausstattung der Projekte. Personelle Ausstattung Die interdisziplinären Behandlungsteams bestehen aus einer/einem examinierten Krankenschwester/-pfleger, einer Ärztin/einem Arzt sowie einer sozialpädagogischen Fachkraft. In jedem einzelnen Projekt sollte eine Ärztin/ein Arzt kontinuierlich eingesetzt werden. Räumlichkeiten Behandlungsräumlichkeiten in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sollten ein prioritäres Ziel in der Weiterentwicklung der Einrichtung werden, um die Arbeit unter provisorischen Bedingungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Vergleichbares gilt für hygienische Mindeststandards. Falls Sprechstunden in einer Einrichtung durchgeführt werden können, ist dies der Stationierung eines Behandlungsfahrzeugs vorzuziehen. Der Einsatz von Ambulanzfahrzeugen hat sich in Kombination mit medizinischer Straßenarbeit bewährt, um potenzielle Patientinnen und Patienten zu erreichen, die selbst Angebote von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht in Anspruch nehmen. Zeit/Sprechstunden Die Sprechstunden werden sich an den Öffnungszeiten der entsprechenden Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe orientieren. Die medizinische Straßenarbeit versucht darüber hinaus, sich den Lebensgewohnheiten der Betroffenen anzupassen. Dabei sind oft Sprechstunden erforderlich, die sich außerhalb regulärer Arbeitszeiten, z.B. in den Abendstunden befinden. Nacht- und Wochenendzeiten sollen in der Regel vom kassenärztlichen Bereitschaftsdienst abgedeckt werden. 5. Kriterien für einen angemessenen Leistungsstandard Behandlung nach medizinisch anerkannten Methoden und Leitlinien Orientierung an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten in MehrfachProblemlagen Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände der Patientinnen und Patienten im Behandlungssetting Ständige Weiterentwicklung der Maßnahmen gemäß/entsprechend der durch die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten, der Dokumentation und des fachlichen Austausches gewonnenen Erkenntnisse Vernetzung mit entsprechenden Einrichtungen der psychiatrischen und sozialen Versorgung. 6. Qualitätsentwicklung und –sicherung in der medizinischen Versorgung für Wohnungslose Die zeitnahe Reflexion und Evaluierung der geleisteten Arbeit und der fachliche Austausch dienen der Entwicklung von Standards der medizinischen Versorgung Wohnungsloser. Wichtigste Mittel in der Qualitätsentwicklung und -sicherung sind die Dokumentation von Behandlungskontakten und –verläufen innerhalb des Teams vor Ort sowie der regionale und überregionale interdisziplinäre Austausch. Es besteht Bedarf an repräsentativen Prävalenzstudien zu Erkrankungen und spezifischen Krankheitsbildern bei wohnungslosen Frauen und Männern und darauf bezogenen Studien zu angemessenen Versorgungsprogrammen. Zur Sicherstellung und ggf. Erhöhung der Fachkompetenz sollten kooperative Fort- und Weiterbildungsangebote für Ärztinnen/Ärzte, Pflegekräfte und die sozialen Fachkräfte unter Beteiligung erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickelt und angeboten werden. Öffentlichkeitsarbeit hat dafür zu sorgen, dass die Hilfeangebote den potenziellen Nutzerinnen und Nutzern bekannt und durchschaubar sind. Öffentlichkeitsarbeit trägt dazu bei, ein Bewusstsein für die Notlagen der Betroffenen zu schaffen, sowohl in der allgemeinen Bevölkerung als auch in Politik und Verwaltung. Damit ist sie ein unerlässlicher Beitrag zur Absicherung der medizinischen Hilfeprojekte. Zur Sicherstellung einer angemessenen und kontinuierlichen medizinischen Versorgung ist die ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung einschließlich der notwendigen Sachmittel zu gewährleisten. Hierfür müssen geeignete Strategien gefunden werden, die eine vergleichbare Qualität der gesundheitlichen Hilfen ermöglichen und die Leistungsträger von Spendenmitteln, Fördermitteln und anderen vergleichbaren Sonderzuwendungen unabhängig machen, gleichzeitig jedoch die erbrachten Leistungen auch für den Kostenträger transparent erscheinen lassen. 7. Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen und Männern Insbesondere psychisch kranke Menschen mit geringer Krankheitseinsicht leben in beträchtlichem Umfang in Notunterkünften, Nischen oder gänzlich auf der Straße. Häufig sind sie unversorgt und haben keinen Kontakt mehr zum Hilfesystem für psychisch kranke Menschen. So treffen die MitarbeiterInnen der Wohnungslosenhilfe im Allgemeinen auf Männer und Frauen: mit langjähriger Psychiatrieerfahrung, die in der Wohnungslosenhilfe gestrandet und entweder noch in laufender psychiatrischer Behandlung sind oder eine solche abgebrochen haben die psychisch auffällig sind und die bisher weder diagnostiziert noch behandelt wurden; mit anamnestisch seit langem bestehenden Auffälligkeiten oder erstmaligem Auftreten einer akuten Krankheitssymptomatik mit mehreren psychiatrischen Diagnosen mit der Doppeldiagnose Suchterkrankung/psychische Erkrankung ohne Krankheitseinsicht In den 90er Jahren hat es mehrere Studien zum Ausmaß psychischer Erkrankungen unter wohnungslosen Männern gegeben (Fichter, Quadflieg 1997; Fichter, Quadflieg, Cuntz 2000; Fichter u.a. 1996, deutsch 1997; Kunstmann, Becker 1998) sowie eine Studie über psychisch kranke wohnungslose Frauen (Greifenhagen, Fichter 1998). Darüber hinaus hat die BAG Wohnungslosenhilfe ebenfalls Ende der 90er Jahre eine Umfrage unter Diensten und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zur Problematik der Mehrfachproblemlagen bei wohnungslosen Männern und Frauen durchgeführt (BAG W 2000). Gemeinsam ist den Studien und Erhebungen die Erkenntnis, dass es sich bei den betroffenen Frauen und Männern um eine durch psychische Störungen und Erkrankungen und Suchtmittelabhängigkeiten hoch belastete Personengruppe mit einer hohen Rate von Mehrfachdiagnosen handelt. Bis heute fehlt eine großangelegte epidemiologische Studie zum Ausmaß psychischer Erkrankungen unter wohnungslosen Frauen und Männern. 7.1 Strukturelle Defizite, ungeregelte Zuständigkeiten, fehlende Kapazitäten und Abwehr Die Hilfesysteme, die Begleitung und Unterstützung für wohnungslose Männer und Frauen mit psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen vorhalten, können diese nicht immer ausreichend bedarfsgerecht anbieten. Ein Großteil der ambulanten und stationären Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sind auf Grund der strukturellen Ausstattung tendenziell überfordert: Die Wohnungslosenhilfe hat oft nicht die Möglichkeit, KlientInnen an das Hilfesystem Sozialpsychiatrie oder Suchtkrankenhilfe zu vermitteln, weil es in den meisten Fällen keine geregelten Zuständigkeiten gibt. Auf der anderen Seite gibt es eine abwehrende Haltung im Suchthilfebereich und in der sozialpsychiatrischen Versorgung, weil Wohnungslose auf Grund ihrer Lebenslage Zugangsvoraussetzungen oft nicht erfüllen können: Krankheitseinsicht, Einhaltung von Regeln, z.B. Hausordnungen. Vor allem ist aber die Motivation, der Wille zur Veränderung nicht selbstverständlich gegeben. Ein großes Problem ist, dass die psychiatrischen Patientinnen und Patienten häufig auf ihre Suchterkrankung reduziert werden. Die psychiatrischen Ursachen ihrer Erkrankung werden weder diagnostiziert noch behandelt. Ebenso wie bei der Sicherstellung der allgemeinmedizinischen Versorgung, bedarf es zur Versorgung psychisch kranker oder auffälliger wohnungsloser Männer und Frauen eines interdisziplinären Behandlungsteams aus Pflegekräften, MedizinerInnen und sozialpädagogischen Fachkräften. Unterstützung erhalten diese Teams häufig durch ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Häufig sind die MitarbeiterInnen der Wohnungslosenhilfe erste, manchmal auch alleinige AnsprechpartnerInnen der psychisch kranken KlientInnen. Sie werden mit Situationen, Fragestellungen und Problemkonstellationen konfrontiert, für deren Bearbeitung oder gar Lösung sie als Fachkräfte der sozialen Arbeit nicht ausgebildet worden sind. So kann eine an den Bedürfnissen und Ressourcen orientierte Arbeit mit der Klientel nur eingeschränkt geleistet werden. 8. Lösungsansätze Modelle der Kooperation Psychisch kranke Wohnungslose sind auf unterschiedlich gewachsene Hilfesysteme angewiesen, die lange Zeit über sehr wenige Berührungspunkte verfügten. In den letzten Jahren hat zwischen den verschiedenen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, der psychiatrischen Versorgung und der Suchtkrankenhilfe ein Dialog begonnen, der zu fruchtbaren Debatten geführt hat. Deutlich wurde hierbei, dass den Betroffenen am besten durch eine verstärkte Kooperation der Hilfesysteme geholfen werden kann. Um sinnvolle, wirksame Hilfestellungen anbieten zu können, muss ein funktionierendes Netzwerk aus Psychiatrie, Suchtkranken- und Wohnungslosenhilfe geschaffen werden. Folgende Rahmenbedingungen sind unerlässlich: Klar geregelte Übernahme von Verantwortlichkeit (Case-Management) und gezielte Zusammenarbeit mit anderen Diensten und Einrichtungen Entwicklung von Kommunikationsformen, die von gegenseitiger Wertschätzung und Achtung geprägt sind Hinreichende Information der psychiatrischen Dienste über die verschiedenen Angebote der Wohnungslosenhilfe und umgekehrt Schaffung von kontinuierlichen Fortbildungsangeboten für MitarbeiterInnen der Fachdienste Gemeinsame Konzeptentwicklung und Hilfeplanung für „hoffnungslose Fälle". 9. Forderungen Um psychisch kranke wohnungslose Menschen längerfristig erreichen und bedarfsgerecht versorgen zu können sind differenzierte Hilfeangebote unabdingbar, diese umfassen vor allem Grundversorgung ambulante niedrigschwellige und geschlechtsdifferenzierte Angebote, die zeitweise geschützte Räume bieten mit Möglichkeiten der Grundversorgung und Beratung. Sinnvoll ist ein gleichzeitiges freiwilliges Beratungsangebot durch die ambulante Fachberatung nach §§ 67ff SGB XII sein. aufsuchende pflegerische, allgemeinmedizinische und psychiatrische Hilfen, die in ihrer Angebotsstruktur den Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kranke gerecht werden. Hierzu ist ein die Intimsphäre wahrender Behandlungsraum vorzuhalten eine ausreichende personelle Ausstattung der ambulanten Hilfen, diese umfassen auch kontinuierliche Straßensozialarbeit und medizinisch-psychiatrische Straßenarbeit Ressourcen für Motivationsarbeit und Versorgung die Unterstützung bei der Klärung des Hilfeanspruchs, Antragstellung, Durchsetzung und Gewährung der materiellen Existenzsicherung, v.a. in Form von Leistungen nach SGB II bzw. SGB XII Wohnungssicherung und Wohnangebote rechtzeitiges professionelles Krisenmanagement bei drohendem Wohnungsverlust Vorhalten differenzierter geschlechtsspezifischer Wohnangebote mit Einzelzimmern als Standard (möglichst mit eigenem Sanitärbereich) sowie den Anforderungen entsprechende personelle und fachliche Ausstattung in den Bereichen psychosoziale Betreuung, Hauswirtschaft, Tagesstrukturierungs- und Arbeitsangebote im ambulanten und stationären Bereich. Hierzu sind entsprechende finanzielle Ressourcen zu schaffen und bauliche Voraussetzungen zu erfüllen. Koordination und Kooperation der Hilfesysteme Wohnungslosenhilfe, Suchtkrankenhilfe und sozialpsychiatrischer Dienst müssen für wohnungslose Frauen und Männer mit psychischen Störungen und Erkrankungen einen abgestimmten Versorgungsauftrag definieren, um zu einer geregelten Zusammenarbeit von Wohnungslosenhilfe, ambulanten sozialpsychiatrischen Diensten und Fachkliniken zu gelangen. In der stationären Psychiatrie Berücksichtigung der Lebensumstände und des Lebensumfeldes der Patienten, d.h. rechtzeitiges Einschalten der Sozialdienste, um eine Entlassung zurück auf die Straße oder in die Notunterkunft unter allen Umständen zu verhindern Bessere Verzahnung der Hilfen nach den §§ 53 ff. SGB XII und §§67 ff. SGB XII Erarbeitung von Hilfeplaninstrumentarien, die an den Fähigkeiten und Bedürfnissen der PatientInnen orientiert sind Fallkonferenzen und eindeutig festgelegte Fallverantwortung Fortbildung und Forschung Einrichtungsträger sollten verpflichtet werden, fachliche Fortbildung der MitarbeiterInnen und Fallsupervision anzubieten. Bereitstellung von Forschungsmitteln zur Evaluation der Situation psychisch kranker wohnungsloser Männer und Frauen 10. Bestandsaufnahme zu den existierenden Projekten der medizinischen Versorgung Wohnungsloser In 2004 hat die BAG W eine Erhebung zum Stand der Projekte der medizinischen Versorgung wohnungsloser Männer und Frauen durchgeführt (Rosenke 2005). Ausgewertet worden sind 37 Fragebögen, wobei davon auszugehen ist, dass damit der größte Teil der ca. 40 bis 50 medizinischen Projekte für wohnungslose Männer und Frauen erfasst worden ist. Die Erhebung bezieht sich auf das Jahr 2003 also auf die Zeit vor Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Mit ca. 17.000 wohnungslosen Patienten und Patientinnen behandeln die medizinischen Angebote einen nicht unerheblichen Anteil der alleinstehenden Wohnungslosen. Weibliche Patientinnen sind unterdurchschnittlich in den Projekten vertreten. Die Ursache dafür ist aber unklar. Die meisten Behandlungen finden in Einrichtungen der Wohnungslosehilfe statt, gefolgt von Behandlungen in eigenen Praxisräumen. Es existierten in 2003 ca. zehn Behandlungsbusse bundesweit. Bereits vor Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes war der Anteil der gesetzlich krankenversicherten wohnungslosen PatientInnen relativ hoch, trotzdem musste bereits damals ein großer Teil der PatientInnen ohne Abrechnung mit der Krankenkasse behandelt werden. Ungefähr 50 % der Projekte arbeiten mit hauptamtlichen Kräften, wobei damit jedoch nicht in jedem Fall Vollzeitstellen in Verbindung gebracht werden können. Die Finanzierung ist fragil: Zwar sind nur sechs Angebote zeitlich befristet, doch immerhin sieben Projekte werden zu mehr als 80% von Spenden finanziert. Eine Spendenfinanzierung ist aber tendenziell unsicher. Für die Fragilität der Finanzierung spricht auch die Tatsache, dass 21 von 37 Projekten von örtlichen und überörtlichen Trägern zu einem nicht unerheblichen Maß finanziert werden. Da freiwillige Zuschüsse in heutigen Zeiten leicht zur Disposition stehen können, birgt dieser Zustand einen hohen Unsicherheitsfaktor, ebenso wie die Projektfinanzierung von vier Projekten. Die medizinische Versorgung wohnungsloser Patienten und Patientinnen durch niedrigschwellige Angebote findet praktisch nur in ausgewählten Großstädten statt, weder in Mittel- und Kleinstädten, geschweige denn im ländlichen Raum. Aber auch dort gibt es diese Bedarfe. 11. Deutschland auf dem Weg in eine Armenmedizin Seit Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes im Jahr 2004 hat sich der Gesundheitszustand der wohnungslosen Männer und Frauen weiter verschlechtert. (Rosenke 2006; BAG W 2004a; BAG W2004b). Die prekäre medizinische Versorgung Wohnungsloser kann offensichtlich nur dann etwas entschärft werden, wenn es vor Ort ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot für Wohnungslose gibt oder die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe für ihre Klientinnen und Klienten in Vorleistung gehen - sei es durch die Übernahme von Praxisgebühren oder die Gewährung von Darlehen zur Begleichung des Eigenanteils an den Gesundheitskosten, den auch Wohnungslose zahlen müssen. Dies kann und wird aber für die Einrichtungen keine Dauerlösung sein können, da ihnen dazu einfach die finanziellen Mittel fehlen. Außerdem greift diese befristete Scheinlösung auch nur bei den KlientInnen/PatientInnen, die eine feste Anbindung an eine ambulante Beratungsstelle haben oder in einer stationären Einrichtung der Wohnungslosenhilfe untergebracht sind. Für diejenigen, die bereits in der Vergangenheit nur schwer in das reguläre Gesundheitssystem zu integrieren waren, ist die Hürde zum Arztbesuch nahezu unüberwindlich geworden. Chronikerregelung wenig praxistauglich Die sog. Chronikerregelung ist für die meisten wohnungslosen Patienten ohne Wert. Um den Nachweis einer chronischen Erkrankung beizubringen, ist ein erheblicher bürokratischer Aufwand notwendig, den Menschen ohne Wohnung nicht erbringen können. Die wohnungslosen PatientInnen verfügen in der Regel nicht über Unterlagen zu früheren Erkrankungen, können sich z.T. nicht an frühere ambulante Behandlungen oder Krankenhausaufenthalte erinnern, so dass die für eine gutachterliche Stellungnahme erforderlichen Nachweise nicht beschafft werden können. Das heißt: Eine chronische Erkrankung ist häufig nur belegbar, wenn es eine Anbindung an das Regelsystem zur medizinischen Versorgung gibt. Das Problem der Gruppe der wohnungslosen Patienten ind Patientinnen liegt aber gerade darin, dass diese Patientengruppe oft aus der medizinischen Regelversorgung ausgegrenzt ist und erst mit Hilfe der niedrigschwelligen Angebote wieder an das Regelsystem herangeführt werden soll. „Ausnahme-Liste“ – Gesetzliche Verordnungsausschlüsse bei der Arzneimittelversorgung und zugelassene Ausnahmen (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V) Die sog. „Ausnahme-Liste“ wird den Lebensumständen und Krankheitsbildern wohnungsloser Patientinnen und Patienten nicht gerecht. So sind die Wund- und Heilsalben, wichtig bei der Behandlung offener Wunden und Verletzungen, nicht mehr verordnungsfähig, ebenso wenig wie Vitamin-B1-Präparate, die bei chronischen Alkoholerkrankungen und daraus resultierenden Nervenschäden bislang verordnet werden konnten. Letztlich stehen auch die in den vergangenen Jahren von der Wohnungslosenhilfe unternommenen Bemühungen um eine niedrigschwellige medizinische Versorgung Wohnungsloser und ihre Reintegration in die medizinische Regelversorgung auf dem Spiel. Zum einen sind diese Projekte größtenteils nicht dauerhaft finanziell gesichert, zum anderen gibt es eine deutliche Zunahme von einkommensarmen, aber nicht unbedingt wohnungslosen Patientinnen und Patienten, die sich einen normalen Arztbesuch mit Praxisgebühr und ein kostenpflichtiges Arzneimittel aus der Apotheke nicht mehr leisten können. Diese zusätzliche Inanspruchnahme kann das System der niedrigschwelligen medizinischen Hilfen für wohnungslose Patientinnen und Patienten nicht schultern. Um der Ausgrenzung Wohnungsloser aus der medizinischen Versorgung entgegenzuwirken fordert die BAG W die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlungen für Bezieher und Bezieherinnen von SGB II - und XII – Leistungen sowie eine reguläre Finanzierung der niedrigschwelligen medizinischen Projekte für Wohnungslose durch Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Kommunen, denn die Projekte können nicht auf Dauer von Spenden und dem Engagement freier Träger existieren. Literatur BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2000): Zur Organisation der Hilfen für Personen in Mehrfachproblemlagen. Empfehlung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., erarbeitet vom Fachausschuss Beratung, Therapie, Versorgung, vom Gesamtvorstand der BAG W auf seiner Sitzung am 1./2. Februar 2000 verabschiedet. In: wohnungslos 2/2000 BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2003): Sicherstellung der medizinischen Versorgung wohnungsloser Männer und Frauen. Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, erarbeitet vom Fachausschuss Gesundheit der BAG W, verabschiedet vom Gesamtvorstand am 13./14. November 2003. In: wohnungslos 4/2003, S. 146 ff BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2004a): Gesundheitsreform führt zu akuter gesundheitlicher Gefährdung wohnungsloser Patienten. Pressemitteilung der BAG W. In: wohnungslos,1/2004,S. 16 BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2004b): Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück: Wie die Gesundheitsreform positive Ansätze in der medizinischen Versorgung wohnungsloser Patientinnen und Patienten untergräbt. Pressemitteilung der BAG W. In: wohnungslos,1/2004, S. 17 BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2006): Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen und Männern. Darstellung der Problemlagen und Handlungsbedarfe. Ein Positionspapier der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., erarbeitet vom Fachausschuss Gesundheit der BAG W., verabschiedet vom Gesamtvorstand der BAG W am 06./07. April 2006. In: wohnungslos, 2/2006, S. 77 ff Fichter, M. u.a. (1996, deutsch 1997): Psychische Erkrankungen bei obdachlosen Männern und Frauen in München. Arbeitsbericht aus dem Forschungsbereich Epidemiologie und Evaluation der Psychiatrischen Universitätsklinik München. In: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience. Fichter, M.; Quadflieg, N (1997).: Psychische Erkrankungen bei (vormals obdachlosen) Bewohnern von Heimen des Katholischen Männerfürsorgevereins in München. München: Eigendruck. Fichter, M.; Quadflieg, N.; Cuntz, U. (2000): Prävalenz körperlicher und seelischer Erkrankungen. In: Deutsches Ärzteblatt 97; Heft 17. Studie Fichter, M, u. a. Fichter, M und N. Quadflieg Fichter, M., Quadflieg, N., Cuntz, U. Jahr und Repräsentativität 1996 (deutsch 1997), N= 146; nicht repräsentativ für München, aber ganz München berücksichtigt Prävalenz Ergebnisse Sechs Schizophrenie: 9,6 % Monatsprävalenz Affektive Störungen: 24,0 % Angststörung: 14,4 1997, N=262 nichtrepräsentativ und nur Wohn, Eingliederungs- und Übernachtungsheime; nicht repräsentativ für München Summe: 48 % Sechs Psychotische Monatsprävalenz Erkrankungen:: 4,2 % Affektive Störungen:: 17,6 % Angststörungen: 20,2 2000; N= 265; repräsentativ für Obdachlose in München Summe: 43,1 % Ein Psychotische Monatsprävalenz Erkrankungen:: 6,6 % Affektive Störungen: 16,3 % Angsterkrankungen: 11,6 % Summe: 34,5 % Greifenhagen, Annette und Manfred Fichter (1998): Ver-rückt und obdachlos – psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen. In: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. Hrsg: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Heft 3, S. 89-98 Kunstmann,Wilfried und Hinnerk Becker (1998): Methodische Probleme der Erhebung psychiatrischer Krankheitsprävalenzen unter Wohnungslosen. In: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. Hrsg: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., 3/1998,. S. 106 - 113 Rosenke, Werena (2005): Medizinische Hilfe für wohnungslose Frauen und Männer. Die Ergebnisse einer BAG W-Erhebung zum Stand der Projekte der medizinischen Versorgung wohnungsloser Männer und Frauen. In: wohnungslos, 4/2005, S. 151 ff Rosenke, Werena (2006): Gesundheitszustand Wohnungsloser verschlechtert, Krankenversicherungsstatus häufig ungeklärt, großes Engagement der Wohnungslosenhilfe. Ergebnisse einer aktuellen Blitzumfrage der BAG Wohnungslosenhilfe zu den Auswirkungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG). In: wohnungslos, 3/2006, S. 107