Fast genau 15 Jahre nachdem das Thema „Armut, Krankheit

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Anforderungen an die medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen aus der
Sicht der BAG Wohnungslosenhilfe e.V.
Werena Rosenke
Vor fast 20 Jahren ist das Thema „Armut, Krankheit, Wohnungslosigkeit“ erstmals
umfassend von der BAG Wohnungslosenhilfe, damals noch BAG für Nichtsesshaftenhilfe auf
ihrer Bundestagung 1989 diskutiert worden. 1998 wurde in Mainz die bundesweite „AG
Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen“ gegründet. Diese Arbeitsgemeinschaft
ist inzwischen ein Facharbeitskreis innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe e.V.
Der Fachausschuss Gesundheit der BAG W ist im Jahr 2002 gegründet worden.
Die nachfolgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf den diversen fachlichen
Empfehlungen und Untersuchungen der BAG W (vgl. BAG W 2000, BAG W 2003, BAG W
2006).
Wohnungslose sind aufgrund vielfältiger Umstände, die mit ihrer Lebenslage einhergehen,
z.T. von der regulären Gesundheits- und Krankenversorgung ausgeschlossen bzw. werden
von den vorhandenen Versorgungsstrukturen nur schwer erreicht.
Als “Ersatz” für eine fehlende medizinische Primärversorgung Wohnungsloser steht häufig freiwillig oder unfreiwillig - die kostenintensive, punktuelle medizinische Hilfe einer
Notfallambulanz oder aber eine notfallmäßige stationäre Krankenhausaufnahme.
1. Ziele und Zielgruppen
Zielgruppenspezifische niedrigschwellige Angebote versuchen diese Versorgungslücken zu
schließen und eine angemessene gesundheitliche Grundversorgung zu sichern. Der Bedarf
an entsprechend zugeschnittenen Hilfen wurde in verschiedenen Untersuchungen
festgestellt und differenziert. Die Existenz und der weitere Ausbau dieser fachlich
unumstrittenen Angebote ist aber keinesfalls gesichert.
Sogenannte niedrigschwellige Hilfen sind da erforderlich, wo die Erreichbarkeit der
Hilfeangebote für Wohnungslose durch strukturelle bzw. individuelle Zugangsbarrieren
erschwert ist, beispielsweise durch ungeklärte Versicherungsverhältnisse, soziale Notlagen,
ein fehlendes Krankheitsbewusstsein, schlechte Erfahrungen mit dem medizinischen
Regelsystem oder/und den sozialen Hilfen oder Kommunikationsstörungen im
Behandlungskontakt.
Ziel solcher niedrigschwelliger Hilfen für Wohnungslose ist die Sicherung einer
medizinischen Grundversorgung mit Begleitung und Unterstützung zur Inanspruchnahme
regulärer Versorgungsangebote. Die Rückführung in das Regelsystem bleibt dabei ein
wesentlicher Faktor. Die erfolgreiche Vermittlung in reguläre Einrichtungen des
Gesundheitssystems ist dabei nicht nur von individuellen Möglichkeiten des Patienten
abhängig, sondern auch von Anpassungsleistungen des Regelversorgungssystems. Seit
Inkrafttreten des GMG hat es jedoch nicht nur keine weiteren Anpassungsleistungen
gegeben, sondern ist das Gegenteil eingetreten: Die Hürden sind für wohnungslose
Menschen noch höher gelegt worden.
Häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung finden sich Mehrfacherkrankungen, die ein in
der Regel multidisziplinäres Behandlungsteam erfordern.
Bei einem großen Teil der wohnungslosen Patientinnen und Patienten bestehen zusätzlich
zur sozialen Situation und den zu behandelnden somatischen Erkrankungen psychische
Störungen u.a. in Form von Suchterkrankungen und schizophrenen Psychosen, die in der
Behandlungssituation immer berücksichtigt werden müssen.
Es dauert oftmals lange bis ein Kontakt bei dieser Patientengruppe gebahnt ist, deswegen
spielt die Behandlungskontinuität eine entscheidende Rolle. Oft lassen sich erst mit
Ausbildung einer tragfähigen Beziehung zwischen Arzt/Pflegekraft und Patient/in (was
mitunter Monate in Anspruch nimmt) und eines entsprechenden Vertrauens weiterführende
Kontakte herstellen.
2. Faktoren, die die medizinische Versorgung von Wohnungslosen erschweren, sind



Fehlende bedarfsgerechte medizinische Angebote
Ungeklärte oder fehlende Versicherungsverhältnisse
Schlechte Erfahrungen mit dem medizinischen Regelsystem und/oder der institutionellen
Hilfe
 Misstrauen gegenüber institutioneller Hilfe
 Kommunikationsstörungen im Behandlungskontakt
 Aggressives Verhalten
 Selbstverletzendes Verhalten
 Durch Suchtmittel veränderte Bewusstseinslage, dadurch erschwerte Diagnostik und
Behandlung
 Schlechte Körper- und Kleiderhygiene
 Begrenzte Krankheitseinsicht und Motivation zur Mitwirkung
 Unzureichende Vernetzung der Versorgungsangebote mit weiterführenden Hilfen
 Fehlende Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen und/oder ethnischen
Besonderheiten
3. Spezifische Ansätze in niedrigschwelligen medizinischen Hilfeprojekten
Ein gestuftes Behandlungsmodell erscheint angesichts der unterschiedlichen
Zugangsvoraussetzungen der Zielgruppe angemessen. Dabei lassen sich folgende Bereiche
unterscheiden:
 Straßenbesuche (medical streetwork)
 Einsätze einer fahrbaren Ambulanz
 Sprechstunden in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe
 Behandlung in Krankenwohnungen
 Kooperationen mit Partnern im Regelversorgungssystem
Die einzelnen Stufen unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität, der Strukturierung, der
Behandlungssituation und der Zugangsbarrieren. Während die medizinische Straßenarbeit
geringe Ansprüche an die Motivation des Betreffenden stellt, bedarf es zum Besuch einer
Sprechstunde in einer Hilfeeinrichtung zumindest eines Mindestmaßes an Eigeninitiative
oder Krankheitseinsicht. Auch die Integration der Behandlungskontakte in die Einrichtungen
sowie der Patienten in das Regelversorgungssystem erfolgt je nach Stufe unterschiedlich.
Ziel eines solchen Stufenmodells ist es, Angebote zu entwickeln, die letztlich in die
medizinische Regelversorgung überleiten. Die Nähe zum Lebensumfeld der Patientinnen
und Patienten ist jedoch auf allen Stufen des Behandlungsmodells eine zentrale
Voraussetzung. Da viele gesundheitliche Probleme der wohnungslosen Frauen und Männer
eng mit den sozialen Umständen verknüpft sind und auch ohne deren Berücksichtigung nicht
angemessen gelöst werden können, bedarf es einer engen Zusammenarbeit mit den
sozialpädagogischen Fachkräften der Wohnungslosenhilfe.
Wohnungslose Frauen müssen Zugang zu einer medizinischen Versorgung erhalten, die
ihren spezifischen gesundheitlichen Problemen gerecht wird und die der Erscheinungsweise
weiblicher Wohnungslosigkeit angemessen ist.
4. Strukturelle Ausstattung der Projekte
Aus den genannten Aufgabenbereichen und spezifischen Arbeitsansätzen in der
medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen ergeben sich nachfolgende
Anforderungen an die strukturelle Ausstattung der Projekte.
 Personelle Ausstattung
Die interdisziplinären Behandlungsteams bestehen aus einer/einem examinierten
Krankenschwester/-pfleger, einer Ärztin/einem Arzt sowie einer sozialpädagogischen
Fachkraft. In jedem einzelnen Projekt sollte eine Ärztin/ein Arzt kontinuierlich eingesetzt
werden.
 Räumlichkeiten
Behandlungsräumlichkeiten in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sollten ein
prioritäres Ziel in der Weiterentwicklung der Einrichtung werden, um die Arbeit unter
provisorischen Bedingungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Vergleichbares gilt für
hygienische Mindeststandards. Falls Sprechstunden in einer Einrichtung durchgeführt
werden können, ist dies der Stationierung eines Behandlungsfahrzeugs vorzuziehen.
Der Einsatz von Ambulanzfahrzeugen hat sich in Kombination mit medizinischer
Straßenarbeit bewährt, um potenzielle Patientinnen und Patienten zu erreichen, die selbst
Angebote von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht in Anspruch nehmen.
 Zeit/Sprechstunden
Die Sprechstunden werden sich an den Öffnungszeiten der entsprechenden Einrichtungen
der Wohnungslosenhilfe orientieren. Die medizinische Straßenarbeit versucht darüber
hinaus, sich den Lebensgewohnheiten der Betroffenen anzupassen. Dabei sind oft
Sprechstunden erforderlich, die sich außerhalb regulärer Arbeitszeiten, z.B. in den
Abendstunden befinden. Nacht- und Wochenendzeiten sollen in der Regel vom
kassenärztlichen Bereitschaftsdienst abgedeckt werden.
5. Kriterien für einen angemessenen Leistungsstandard


Behandlung nach medizinisch anerkannten Methoden und Leitlinien
Orientierung an den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten in MehrfachProblemlagen
 Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände der Patientinnen und Patienten im
Behandlungssetting
 Ständige Weiterentwicklung der Maßnahmen gemäß/entsprechend der durch die
Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten, der Dokumentation und des
fachlichen Austausches gewonnenen Erkenntnisse
 Vernetzung mit entsprechenden Einrichtungen der psychiatrischen und sozialen
Versorgung.
6. Qualitätsentwicklung und –sicherung in der medizinischen Versorgung für
Wohnungslose
Die zeitnahe Reflexion und Evaluierung der geleisteten Arbeit und der fachliche Austausch
dienen der Entwicklung von Standards der medizinischen Versorgung Wohnungsloser.
Wichtigste Mittel in der Qualitätsentwicklung und -sicherung sind die Dokumentation von
Behandlungskontakten und –verläufen innerhalb des Teams vor Ort sowie der regionale und
überregionale interdisziplinäre Austausch.
Es besteht Bedarf an repräsentativen Prävalenzstudien zu Erkrankungen und spezifischen
Krankheitsbildern bei wohnungslosen Frauen und Männern und darauf bezogenen Studien
zu angemessenen Versorgungsprogrammen.
Zur Sicherstellung und ggf. Erhöhung der Fachkompetenz sollten kooperative Fort- und
Weiterbildungsangebote für Ärztinnen/Ärzte, Pflegekräfte und die sozialen Fachkräfte unter
Beteiligung erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickelt und angeboten werden.
Öffentlichkeitsarbeit hat dafür zu sorgen, dass die Hilfeangebote den potenziellen
Nutzerinnen und Nutzern bekannt und durchschaubar sind. Öffentlichkeitsarbeit trägt dazu
bei, ein Bewusstsein für die Notlagen der Betroffenen zu schaffen, sowohl in der allgemeinen
Bevölkerung als auch in Politik und Verwaltung. Damit ist sie ein unerlässlicher Beitrag zur
Absicherung der medizinischen Hilfeprojekte.
Zur Sicherstellung einer angemessenen und kontinuierlichen medizinischen Versorgung ist
die ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung einschließlich der notwendigen
Sachmittel zu gewährleisten. Hierfür müssen geeignete Strategien gefunden werden, die
eine vergleichbare Qualität der gesundheitlichen Hilfen ermöglichen und die Leistungsträger
von Spendenmitteln, Fördermitteln und anderen vergleichbaren Sonderzuwendungen
unabhängig machen, gleichzeitig jedoch die erbrachten Leistungen auch für den
Kostenträger transparent erscheinen lassen.
7. Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen und Männern
Insbesondere psychisch kranke Menschen mit geringer Krankheitseinsicht leben in
beträchtlichem Umfang in Notunterkünften, Nischen oder gänzlich auf der Straße. Häufig
sind sie unversorgt und haben keinen Kontakt mehr zum Hilfesystem für psychisch kranke
Menschen. So treffen die MitarbeiterInnen der Wohnungslosenhilfe im Allgemeinen auf
Männer und Frauen:
 mit langjähriger Psychiatrieerfahrung, die in der Wohnungslosenhilfe gestrandet und
entweder noch in laufender psychiatrischer Behandlung sind oder eine solche
abgebrochen haben
 die psychisch auffällig sind und die bisher weder diagnostiziert noch behandelt wurden;
mit anamnestisch seit langem bestehenden Auffälligkeiten oder erstmaligem Auftreten
einer akuten Krankheitssymptomatik
 mit mehreren psychiatrischen Diagnosen
 mit der Doppeldiagnose Suchterkrankung/psychische Erkrankung ohne
Krankheitseinsicht
In den 90er Jahren hat es mehrere Studien zum Ausmaß psychischer Erkrankungen unter
wohnungslosen Männern gegeben (Fichter, Quadflieg 1997; Fichter, Quadflieg, Cuntz 2000;
Fichter u.a. 1996, deutsch 1997; Kunstmann, Becker 1998) sowie eine Studie über
psychisch kranke wohnungslose Frauen (Greifenhagen, Fichter 1998).
Darüber hinaus hat die BAG Wohnungslosenhilfe ebenfalls Ende der 90er Jahre eine
Umfrage unter Diensten und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zur Problematik der
Mehrfachproblemlagen bei wohnungslosen Männern und Frauen durchgeführt (BAG W
2000).
Gemeinsam ist den Studien und Erhebungen die Erkenntnis, dass es sich bei den
betroffenen Frauen und Männern um eine durch psychische Störungen und Erkrankungen
und Suchtmittelabhängigkeiten hoch belastete Personengruppe mit einer hohen Rate von
Mehrfachdiagnosen handelt.
Bis heute fehlt eine großangelegte epidemiologische Studie zum Ausmaß psychischer
Erkrankungen unter wohnungslosen Frauen und Männern.
7.1 Strukturelle Defizite, ungeregelte Zuständigkeiten, fehlende Kapazitäten und
Abwehr
Die Hilfesysteme, die Begleitung und Unterstützung für wohnungslose Männer und Frauen
mit psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen vorhalten, können diese nicht immer
ausreichend bedarfsgerecht anbieten.
Ein Großteil der ambulanten und stationären Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sind auf
Grund der strukturellen Ausstattung tendenziell überfordert: Die Wohnungslosenhilfe hat oft
nicht die Möglichkeit, KlientInnen an das Hilfesystem Sozialpsychiatrie oder
Suchtkrankenhilfe zu vermitteln, weil es in den meisten Fällen keine geregelten
Zuständigkeiten gibt.
Auf der anderen Seite gibt es eine abwehrende Haltung im Suchthilfebereich und in der
sozialpsychiatrischen Versorgung, weil Wohnungslose auf Grund ihrer Lebenslage
Zugangsvoraussetzungen oft nicht erfüllen können: Krankheitseinsicht, Einhaltung von
Regeln, z.B. Hausordnungen. Vor allem ist aber die Motivation, der Wille zur Veränderung
nicht selbstverständlich gegeben.
Ein großes Problem ist, dass die psychiatrischen Patientinnen und Patienten häufig auf ihre
Suchterkrankung reduziert werden. Die psychiatrischen Ursachen ihrer Erkrankung werden
weder diagnostiziert noch behandelt.
Ebenso wie bei der Sicherstellung der allgemeinmedizinischen Versorgung, bedarf es zur
Versorgung psychisch kranker oder auffälliger wohnungsloser Männer und Frauen eines
interdisziplinären Behandlungsteams aus Pflegekräften, MedizinerInnen und
sozialpädagogischen Fachkräften. Unterstützung erhalten diese Teams häufig durch
ehrenamtliche MitarbeiterInnen.
Häufig sind die MitarbeiterInnen der Wohnungslosenhilfe erste, manchmal auch alleinige
AnsprechpartnerInnen der psychisch kranken KlientInnen. Sie werden mit Situationen,
Fragestellungen und Problemkonstellationen konfrontiert, für deren Bearbeitung oder gar
Lösung sie als Fachkräfte der sozialen Arbeit nicht ausgebildet worden sind. So kann eine an
den Bedürfnissen und Ressourcen orientierte Arbeit mit der Klientel nur eingeschränkt
geleistet werden.
8. Lösungsansätze
Modelle der Kooperation
Psychisch kranke Wohnungslose sind auf unterschiedlich gewachsene Hilfesysteme
angewiesen, die lange Zeit über sehr wenige Berührungspunkte verfügten. In den letzten
Jahren hat zwischen den verschiedenen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, der
psychiatrischen Versorgung und der Suchtkrankenhilfe ein Dialog begonnen, der zu
fruchtbaren Debatten geführt hat. Deutlich wurde hierbei, dass den Betroffenen am besten
durch eine verstärkte Kooperation der Hilfesysteme geholfen werden kann.
Um sinnvolle, wirksame Hilfestellungen anbieten zu können, muss ein funktionierendes
Netzwerk aus Psychiatrie, Suchtkranken- und Wohnungslosenhilfe geschaffen werden.
Folgende Rahmenbedingungen sind unerlässlich:
 Klar geregelte Übernahme von Verantwortlichkeit (Case-Management) und gezielte
Zusammenarbeit mit anderen Diensten und Einrichtungen
 Entwicklung von Kommunikationsformen, die von gegenseitiger Wertschätzung und
Achtung geprägt sind
 Hinreichende Information der psychiatrischen Dienste über die verschiedenen Angebote
der Wohnungslosenhilfe und umgekehrt
 Schaffung von kontinuierlichen Fortbildungsangeboten für MitarbeiterInnen der
Fachdienste
 Gemeinsame Konzeptentwicklung und Hilfeplanung für „hoffnungslose Fälle".
9. Forderungen
Um psychisch kranke wohnungslose Menschen längerfristig erreichen und bedarfsgerecht
versorgen zu können sind differenzierte Hilfeangebote unabdingbar, diese umfassen vor
allem
Grundversorgung
 ambulante niedrigschwellige und geschlechtsdifferenzierte Angebote, die zeitweise
geschützte Räume bieten mit Möglichkeiten der Grundversorgung und Beratung. Sinnvoll
ist ein gleichzeitiges freiwilliges Beratungsangebot durch die ambulante Fachberatung
nach §§ 67ff SGB XII sein.
 aufsuchende pflegerische, allgemeinmedizinische und psychiatrische Hilfen, die in ihrer
Angebotsstruktur den Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kranke gerecht werden. Hierzu
ist ein die Intimsphäre wahrender Behandlungsraum vorzuhalten
 eine ausreichende personelle Ausstattung der ambulanten Hilfen, diese umfassen auch
kontinuierliche Straßensozialarbeit und medizinisch-psychiatrische Straßenarbeit
 Ressourcen für Motivationsarbeit und Versorgung
 die Unterstützung bei der Klärung des Hilfeanspruchs, Antragstellung, Durchsetzung und
Gewährung der materiellen Existenzsicherung, v.a. in Form von Leistungen nach SGB II
bzw. SGB XII
Wohnungssicherung und Wohnangebote


rechtzeitiges professionelles Krisenmanagement bei drohendem Wohnungsverlust
Vorhalten differenzierter geschlechtsspezifischer Wohnangebote mit Einzelzimmern als
Standard (möglichst mit eigenem Sanitärbereich) sowie den Anforderungen
entsprechende personelle und fachliche Ausstattung in den Bereichen psychosoziale
Betreuung, Hauswirtschaft, Tagesstrukturierungs- und Arbeitsangebote im ambulanten
und stationären Bereich. Hierzu sind entsprechende finanzielle Ressourcen zu schaffen
und bauliche Voraussetzungen zu erfüllen.
Koordination und Kooperation der Hilfesysteme
 Wohnungslosenhilfe, Suchtkrankenhilfe und sozialpsychiatrischer Dienst müssen für
wohnungslose Frauen und Männer mit psychischen Störungen und Erkrankungen einen
abgestimmten Versorgungsauftrag definieren, um zu einer geregelten Zusammenarbeit
von Wohnungslosenhilfe, ambulanten sozialpsychiatrischen Diensten und Fachkliniken
zu gelangen.
 In der stationären Psychiatrie Berücksichtigung der Lebensumstände und des
Lebensumfeldes der Patienten, d.h. rechtzeitiges Einschalten der Sozialdienste, um eine
Entlassung zurück auf die Straße oder in die Notunterkunft unter allen Umständen zu
verhindern
 Bessere Verzahnung der Hilfen nach den §§ 53 ff. SGB XII und §§67 ff. SGB XII
 Erarbeitung von Hilfeplaninstrumentarien, die an den Fähigkeiten und Bedürfnissen der
PatientInnen orientiert sind
 Fallkonferenzen und eindeutig festgelegte Fallverantwortung
Fortbildung und Forschung
 Einrichtungsträger sollten verpflichtet werden, fachliche Fortbildung der MitarbeiterInnen
und Fallsupervision anzubieten.
 Bereitstellung von Forschungsmitteln zur Evaluation der Situation psychisch kranker
wohnungsloser Männer und Frauen
10. Bestandsaufnahme zu den existierenden Projekten der medizinischen Versorgung
Wohnungsloser
In 2004 hat die BAG W eine Erhebung zum Stand der Projekte der medizinischen
Versorgung wohnungsloser Männer und Frauen durchgeführt (Rosenke 2005). Ausgewertet
worden sind 37 Fragebögen, wobei davon auszugehen ist, dass damit der größte Teil der ca.
40 bis 50 medizinischen Projekte für wohnungslose Männer und Frauen erfasst worden ist.
Die Erhebung bezieht sich auf das Jahr 2003 also auf die Zeit vor Inkrafttreten des
Gesundheitsmodernisierungsgesetzes.
Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
 Mit ca. 17.000 wohnungslosen Patienten und Patientinnen behandeln die medizinischen
Angebote einen nicht unerheblichen Anteil der alleinstehenden Wohnungslosen.
 Weibliche Patientinnen sind unterdurchschnittlich in den Projekten vertreten. Die Ursache
dafür ist aber unklar.
 Die meisten Behandlungen finden in Einrichtungen der Wohnungslosehilfe statt, gefolgt
von Behandlungen in eigenen Praxisräumen.
 Es existierten in 2003 ca. zehn Behandlungsbusse bundesweit.
 Bereits vor Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes war der Anteil der
gesetzlich krankenversicherten wohnungslosen PatientInnen relativ hoch, trotzdem
musste bereits damals ein großer Teil der PatientInnen ohne Abrechnung mit der
Krankenkasse behandelt werden.
 Ungefähr 50 % der Projekte arbeiten mit hauptamtlichen Kräften, wobei damit jedoch
nicht in jedem Fall Vollzeitstellen in Verbindung gebracht werden können.

Die Finanzierung ist fragil: Zwar sind nur sechs Angebote zeitlich befristet, doch
immerhin sieben Projekte werden zu mehr als 80% von Spenden finanziert. Eine
Spendenfinanzierung ist aber tendenziell unsicher. Für die Fragilität der Finanzierung
spricht auch die Tatsache, dass 21 von 37 Projekten von örtlichen und überörtlichen
Trägern zu einem nicht unerheblichen Maß finanziert werden. Da freiwillige Zuschüsse in
heutigen Zeiten leicht zur Disposition stehen können, birgt dieser Zustand einen hohen
Unsicherheitsfaktor, ebenso wie die Projektfinanzierung von vier Projekten.
 Die medizinische Versorgung wohnungsloser Patienten und Patientinnen durch
niedrigschwellige Angebote findet praktisch nur in ausgewählten Großstädten statt,
weder in Mittel- und Kleinstädten, geschweige denn im ländlichen Raum. Aber auch dort
gibt es diese Bedarfe.
11. Deutschland auf dem Weg in eine Armenmedizin
Seit Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes im Jahr 2004 hat sich der
Gesundheitszustand der wohnungslosen Männer und Frauen weiter verschlechtert.
(Rosenke 2006; BAG W 2004a; BAG W2004b).
Die prekäre medizinische Versorgung Wohnungsloser kann offensichtlich nur dann etwas
entschärft werden, wenn es vor Ort ein niedrigschwelliges medizinisches
Versorgungsangebot für Wohnungslose gibt oder die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe
für ihre Klientinnen und Klienten in Vorleistung gehen - sei es durch die Übernahme von
Praxisgebühren oder die Gewährung von Darlehen zur Begleichung des Eigenanteils an den
Gesundheitskosten, den auch Wohnungslose zahlen müssen. Dies kann und wird aber für
die Einrichtungen keine Dauerlösung sein können, da ihnen dazu einfach die finanziellen
Mittel fehlen. Außerdem greift diese befristete Scheinlösung auch nur bei den
KlientInnen/PatientInnen, die eine feste Anbindung an eine ambulante Beratungsstelle haben
oder in einer stationären Einrichtung der Wohnungslosenhilfe untergebracht sind. Für
diejenigen, die bereits in der Vergangenheit nur schwer in das reguläre Gesundheitssystem
zu integrieren waren, ist die Hürde zum Arztbesuch nahezu unüberwindlich geworden.
Chronikerregelung wenig praxistauglich
Die sog. Chronikerregelung ist für die meisten wohnungslosen Patienten ohne Wert. Um den
Nachweis einer chronischen Erkrankung beizubringen, ist ein erheblicher bürokratischer
Aufwand notwendig, den Menschen ohne Wohnung nicht erbringen können. Die
wohnungslosen PatientInnen verfügen in der Regel nicht über Unterlagen zu früheren
Erkrankungen, können sich z.T. nicht an frühere ambulante Behandlungen oder
Krankenhausaufenthalte erinnern, so dass die für eine gutachterliche Stellungnahme
erforderlichen Nachweise nicht beschafft werden können. Das heißt: Eine chronische
Erkrankung ist häufig nur belegbar, wenn es eine Anbindung an das Regelsystem zur
medizinischen Versorgung gibt. Das Problem der Gruppe der wohnungslosen Patienten ind
Patientinnen liegt aber gerade darin, dass diese Patientengruppe oft aus der medizinischen
Regelversorgung ausgegrenzt ist und erst mit Hilfe der niedrigschwelligen Angebote wieder
an das Regelsystem herangeführt werden soll.
„Ausnahme-Liste“ – Gesetzliche Verordnungsausschlüsse bei der
Arzneimittelversorgung und zugelassene Ausnahmen (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V)
Die sog. „Ausnahme-Liste“ wird den Lebensumständen und Krankheitsbildern
wohnungsloser Patientinnen und Patienten nicht gerecht. So sind die Wund- und Heilsalben,
wichtig bei der Behandlung offener Wunden und Verletzungen, nicht mehr verordnungsfähig,
ebenso wenig wie Vitamin-B1-Präparate, die bei chronischen Alkoholerkrankungen und
daraus resultierenden Nervenschäden bislang verordnet werden konnten.
Letztlich stehen auch die in den vergangenen Jahren von der Wohnungslosenhilfe
unternommenen Bemühungen um eine niedrigschwellige medizinische Versorgung
Wohnungsloser und ihre Reintegration in die medizinische Regelversorgung auf dem Spiel.
Zum einen sind diese Projekte größtenteils nicht dauerhaft finanziell gesichert, zum anderen
gibt es eine deutliche Zunahme von einkommensarmen, aber nicht unbedingt
wohnungslosen Patientinnen und Patienten, die sich einen normalen Arztbesuch mit
Praxisgebühr und ein kostenpflichtiges Arzneimittel aus der Apotheke nicht mehr leisten
können. Diese zusätzliche Inanspruchnahme kann das System der niedrigschwelligen
medizinischen Hilfen für wohnungslose Patientinnen und Patienten nicht schultern.
Um der Ausgrenzung Wohnungsloser aus der medizinischen Versorgung entgegenzuwirken
fordert die BAG W die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlungen für Bezieher und
Bezieherinnen von SGB II - und XII – Leistungen sowie eine reguläre Finanzierung der
niedrigschwelligen medizinischen Projekte für Wohnungslose durch Krankenkassen,
Kassenärztliche Vereinigungen und Kommunen, denn die Projekte können nicht auf Dauer
von Spenden und dem Engagement freier Träger existieren.
Literatur
BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2000): Zur Organisation der Hilfen für Personen in
Mehrfachproblemlagen. Empfehlung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., erarbeitet vom
Fachausschuss Beratung, Therapie, Versorgung, vom Gesamtvorstand der BAG W auf
seiner Sitzung am 1./2. Februar 2000 verabschiedet. In: wohnungslos 2/2000
BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2003): Sicherstellung der medizinischen Versorgung
wohnungsloser Männer und Frauen. Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe, erarbeitet vom Fachausschuss Gesundheit der BAG W, verabschiedet
vom Gesamtvorstand am 13./14. November 2003. In: wohnungslos 4/2003, S. 146 ff
BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2004a): Gesundheitsreform führt zu akuter gesundheitlicher
Gefährdung wohnungsloser Patienten. Pressemitteilung der BAG W. In:
wohnungslos,1/2004,S. 16
BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2004b): Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück: Wie die
Gesundheitsreform positive Ansätze in der medizinischen Versorgung wohnungsloser
Patientinnen und Patienten untergräbt. Pressemitteilung der BAG W. In:
wohnungslos,1/2004, S. 17
BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (2006): Psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen
und Männern. Darstellung der Problemlagen und Handlungsbedarfe. Ein Positionspapier der
BAG Wohnungslosenhilfe e.V., erarbeitet vom Fachausschuss Gesundheit der BAG W.,
verabschiedet vom Gesamtvorstand der BAG W am 06./07. April 2006. In: wohnungslos,
2/2006, S. 77 ff
Fichter, M. u.a. (1996, deutsch 1997): Psychische Erkrankungen bei obdachlosen Männern
und Frauen in München. Arbeitsbericht aus dem Forschungsbereich Epidemiologie und
Evaluation der Psychiatrischen Universitätsklinik München. In: European Archives of
Psychiatry and Clinical Neuroscience.
Fichter, M.; Quadflieg, N (1997).: Psychische Erkrankungen bei (vormals obdachlosen)
Bewohnern von Heimen des Katholischen Männerfürsorgevereins in München. München:
Eigendruck.
Fichter, M.; Quadflieg, N.; Cuntz, U. (2000): Prävalenz körperlicher und seelischer
Erkrankungen. In: Deutsches Ärzteblatt 97; Heft 17.
Studie
Fichter, M,
u. a.
Fichter, M
und N.
Quadflieg
Fichter, M.,
Quadflieg,
N., Cuntz,
U.
Jahr und Repräsentativität
1996 (deutsch 1997), N= 146;
nicht repräsentativ für
München, aber ganz München
berücksichtigt
Prävalenz
Ergebnisse
Sechs Schizophrenie: 9,6 %
Monatsprävalenz Affektive Störungen:
24,0 %
Angststörung: 14,4
1997, N=262 nichtrepräsentativ und nur Wohn,
Eingliederungs- und
Übernachtungsheime; nicht
repräsentativ für München
Summe: 48 %
Sechs Psychotische
Monatsprävalenz Erkrankungen:: 4,2 %
Affektive Störungen::
17,6 %
Angststörungen: 20,2
2000; N= 265; repräsentativ für
Obdachlose in München
Summe: 43,1 %
Ein Psychotische
Monatsprävalenz Erkrankungen:: 6,6 %
Affektive Störungen:
16,3 %
Angsterkrankungen:
11,6 %
Summe: 34,5 %
Greifenhagen, Annette und Manfred Fichter (1998): Ver-rückt und obdachlos – psychische
Erkrankungen bei wohnungslosen Frauen. In: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und
Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. Hrsg: Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe e.V., Heft 3, S. 89-98
Kunstmann,Wilfried und Hinnerk Becker (1998): Methodische Probleme der Erhebung
psychiatrischer Krankheitsprävalenzen unter Wohnungslosen. In: wohnungslos. Aktuelles
aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. Hrsg: Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe e.V., 3/1998,. S. 106 - 113
Rosenke, Werena (2005): Medizinische Hilfe für wohnungslose Frauen und Männer. Die
Ergebnisse einer BAG W-Erhebung zum Stand der Projekte der medizinischen Versorgung
wohnungsloser Männer und Frauen. In: wohnungslos, 4/2005, S. 151 ff
Rosenke, Werena (2006): Gesundheitszustand Wohnungsloser verschlechtert,
Krankenversicherungsstatus häufig ungeklärt, großes Engagement der Wohnungslosenhilfe.
Ergebnisse einer aktuellen Blitzumfrage der BAG Wohnungslosenhilfe zu den Auswirkungen
des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG). In: wohnungslos, 3/2006, S. 107
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