11.1. Differentialgleichungen und Richtungsfelder

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11.1. Differentialgleichungen und Richtungsfelder
Alle Probleme in Theorie und Praxis, bei denen ein gewisser Zusammenhang zwischen einer
gesuchten Funktion y (in einer Variablen x) und ihrer Ableitung y´ gegeben ist, führen auf
gewöhnliche Differentialgleichungen erster Ordnung
die man im allgemeinsten Fall in der impliziten Form
G( x, y, y´ ) = 0
gegeben hat, wobei weder x noch y in dieser Gleichung auftreten muß. Kann man sie nach y´
auflösen, so erhält man eine
explizite Differentialgleichung erster Ordnung
y´ = g( x, y ).
Im Folgenden kürzen wir das lange Wort Differentialgleichung wie üblich durch Dgl (Plural:
Dgln) ab. Außerdem lassen wir bei Funktionen häufig das Argument weg, schreiben also y statt
y( x ) usw.
Das Richtungsfeld
einer expliziten Differentialgleichung erster Ordnung y´ = g( x, y ) erhält man graphisch, indem
man an jedem Punkt (x, y) der Ebene eine kleine Strecke ( ein "Linienelement") der Steigung
g( x, y ) anträgt. Interpretiert man das Richtungsfeld als Strömung in einem Medium (z.B. einer
Flüssigkeit oder einem Gas) oder in einem elektrischen Feld, so beschreiben die Lösungen der Dgl
diejenigen Kurven ("Feldlinien"), die von im Strömungsfeld fließenden Partikel durchlaufen
werden. Die Differentialgleichung "steuert" dabei die Richtung des Flusses.
Umgekehrt erfüllt eine Schar von Kurven, die sich mit Hilfe eines Parameters c durch eine
geeignete Gleichung
F( x, y ) = c
beschreiben lassen, natürlich die Dgl
∂
∂x
F( x, y ) = 0.
Dabei ist y nicht als Konstante, sondern als Funktion von x zu behandeln; man darf also das
Nachdifferenzieren, d.h. das Multiplizieren mit y´ nicht vergessen. Außerdem kann die Dgl mehr
Lösungen als die zur ursprünglichen Kurvenschar gehörigen haben!
Beispiel 1: Kreisscharen
Die Gesamtheit aller Kreise mit Radius 1 und Mittelpunkt auf der x-Achse wird beschrieben durch
( x − c )2 + y2 = 1.
Differentiation nach x liefert
x − c + y y´ = 0
und Einsetzen der zweiten in die erste Gleichung ergibt die implizite Dgl erster Ordnung
y2 ( y´2 + 1 ) = 1,
die neben den ursprünglichen Kreisen auch noch die Geraden y = 1 und y = −1 als offensichtliche
Lösungen hat. Dies sind genau die sogenannten Enveloppen (Einhüllenden) der Kreisschar, d.h.
die gemeinsamen Tangenten aller Kreise der obigen Form.
Wir zeichnen mit dem MAPLE-Befehl DEplot das Richtungfeld der explizit aufgelösten Dgl
y´ =
1 − y2
y
bzw. y´ = −
1 − y2
y
... und tragen einige Lösungskurven ein:
Damit sind die Lösungsmöglichkeiten aber immer noch nicht erschöpft! Zum Beispiel ist jede aus
Kreisbögen und Geradenstücken zusammengesetzte "Stadionbahn"
( x − a )2 + y2 = 1 für x < a
y2 = 1 für a < x < b
( x − b )2 + y2 = 1 für b < x
ebenfalls eine Lösung von y2 ( y´2 + 1 ) = 1.
Wir sehen, daß durch einen festen Punkt durchaus nicht nur eine Lösungskurve verlaufen muß. Im
vorliegenden Beispiel sind es sogar unendlich viele!
Anmerkung
Solche stückweise zusammengesetzten Lösungen werden häufig übersehen oder übergangen.
Angesichts ihrer Existenz ist die Konvention, "singuläre" Lösungen dadurch zu charakterisieren,
daß sie keiner (mittels eines Parameters definierten) Lösungsschar angehören, ziemlich vage.
Enveloppen oder Einhüllende
einer Lösungsschar nennt man generell Kurven, die in jedem Punkt mindestens eine Kurve der
Lösungsschar berühren. Solche Enveloppen sind dann natürlich ebenfalls Lösungen der
zugehörigen Dgl (in Beispiel 1 sind es die beiden Tangenten). Die Begriffsbildung ist nicht ganz
zutreffend, da derartige Berührkurven keineswegs einen einhüllenden Charakter zu haben
brauchen, sondern z.B. auf beiden Seiten der Kurven der Lösungsschar liegen können.
Beispiel 2: Eine Schar kubischer Parabeln
Die Kurvenschar
y = ( x − c )3
überdeckt die Ebene lückenlos und ohne Überschneidungen, d.h. durch jeden Punkt geht genau
eine Kurve der Schar. Ableiten führt auf die Dgl
y´ = 3 ( x − c )2 bzw.
y´ = 3 y2/3.
Eine "singuläre" Lösung dieser Dgl ist natürlich die Nullfunktion. Sie ist eine Tangente an jede der
kubischen Parabeln, verdient aber anschaulich sicher nicht den Namen "Einhüllende". Wie in
Beispiel 1 kann man beliebig viele weitere Lösungen aus einem unteren Parabelbogen, einem
waagerechten Geradenstück und einem oberen Parabelbogen zusammensetzen.
Enveloppen können sogar umgekehrt von der Kurvenschar eingehüllt werden, wie etwa in
Beispiel 3: Ein Kreis und seine Tangenten
Die Tangente an den Einheitskreis
x2 + y2 = 1
(1)
im Berührpunkt (x0, y0) hat die implizite Darstellung
x0 x + y0 y = 1
(2).
Wir versuchen eine Dgl zu finden, in der x0 und y0 nicht mehr vorkommen.
Ableiten nach x ergibt
x0 + y0 y´ = 0
(3)
und daher
2
2
x0 = y0 y´2
2
(4).
2
Wegen x0 + y0 = 1 können wir x0 eliminieren:
2
y0 ( y´2 + 1 ) = 1
(5).
Andererseits liefert Multiplikation von (3) mit −x und Addition von (2):
y0 ( y − x y ´ ) = 1
(6)
bzw. nach Quadrieren
2
y0 ( y − x y ´ )2 = 1
(7).
(5) zusammen mit (7) erzwingt die gewünschte parameterfreie Dgl
y´2 + 1 = ( y − x y ´ )2 (8),
die nach der vorangehenden Herleitung als Lösungsschar sämtliche Kreistangenten hat und deshalb
zusätzlich auch durch den Einheitskreis selbst gelöst wird. Prüfen wir es nach: Ableiten von (1)
führt zu
x + y y´ = 0, und Einsetzen in (1) liefert
y2 ( y´2 + 1 ) = y2 y´2 + y2 = 1 und
2
2
y2 ( y − x y ´ )2 = ( y2 − x y y´ ) = ( x2 + y2 ) = 1
was tatsächlich auf (8) hinausläuft.
Fadengraphik mit eingehülltem Kreis
Isoklinen
nennt man die Niveaulinien eines durch y´ = g( x, y ) gegebenen Richtungsfeldes, also die Kurven,
wo g( x, y ) einen konstanten Wert hat. Die Isoklinen zusammen mit den jeweiligen
Linienelementen verschaffen häufig einen guten Überblick über die möglichen Lösungskurven.
Eulersches Polygonzugverfahren
Zu einer expliziten Dgl erster Ordnung kann man mit Hilfe des Richtungsfeldes eine durch einen
vorgegebenen Punkt (x0, y0) verlaufende Lösung graphisch oder rechnerisch annähern. Man gelangt
von einem schon konstruierten Kurvenpunkt (xn, yn) zum jeweils nächsten Punkt des
approximierenden Polygonzuges, indem man sich in Richtung des durch g( x, y ) gegebenen
Linienelements (bzw. dessen Steigung) um ein kleines Stück geradlinig weiter bewegt:
xn + 1 = xn + h
yn + 1 = yn + h g( xn, yn ).
Strebt die Schrittweite h gegen 0, so darf man hoffen, daß die entstehenden Polygonzüge
zumindest in einem kleinen Bereich gegen eine Lösungskurve konvergieren. Das trifft unter
geeigneten, relativ schwachen Voraussetzungen auch tatsächlich zu, doch ist hier nicht der Platz,
auf die dahinterstehende Theorie einzugehen. Ein Beispiel mag genügen.
Beispiel 4: Zirkuäre Isoklinen
Die explizite Differentialgleichung erster Ordnung
y ´ = x2 + y2
hat kreisförmige Isoklinen, aber keine elementaren Lösungen (man braucht die nach dem
Königsberger Astronom Friedrich Wilhelm Bessel benannten Besselfunktionen). Das Eulersche
Polygonzugverfahren liefert unter anderen folgende Näherungen:
g( x, y ) = x2 + y2
Schrittweite :=
1
2
Schrittweite :=
Schrittweite :=
1
4
1
6
Orthogonaltrajektorien
(d.h. "senkrecht durchgezogene Linien") zu einer Kurvenschar schneiden deren Kurven senkrecht.
Ist die Kurvenschar implizit durch eine Gleichung
F( x, y, c ) = 0
mit c als Parameter gegeben, so führt Differentiation auf die Gleichung
Fx( x, y, c ) + Fy( x, y, c ) y´ = 0.
Durch Elimination des Parameters c gelangt man zu einer Dgl
G( x, y, y´ ) = 0,
welche ebenfalls die gegebene Kurvenschar (und eventuell weitere Kurven) beschreibt.
Die entsprechende Dgl für die orthogonalen Trajektorien, welche ja die Steigung -1/ y´ haben, ist
dann

1 
G x, y, −  = 0.

y´ 
Typische Beispiele sind die ''ebenen Schatten'' von Kurven, die entlang der steilsten Gradienten
verlaufen: sie stehen senkrecht auf den Niveaulinien. In der Elektrostatik stehen die Feldlinien
senkrecht auf den Äquipotentiallinien (oder -flächen).
Beispiel 5: Elektrische Feldlinien
Zwei gegenläufige elektrische Ströme durch parallele Leiter durchstoßen die x-y-Ebene senkrecht
in den Punkten (-1,0) und (1,0). Dann verlaufen die Feldlinien des entstehenden elektrischen
Feldes kreisförmig durch die beiden "Pole":
x2 + ( y − c )2 = 1 + c2 bzw. x2 + y2 − 1 = 2 c y
Durch Differentiation erhält man
x + (y − c) y ´ = 0
und daraus
2 x y + ( 2 y2 − 2 c y ) y´ = 0.
Elimination des Parameters c mittels der Ausgangsgleichung führt auf die Dgl
2 x y + ( 1 − x2 + y2 ) y´ = 0.
Indem wir nun y´ durch −
1
y´
ersetzen, gelangen wir zu einer Dgl für die Orthogonaltrajektorien:
2 x y y ´ − 1 + x2 − y2 = 0.
Wie eine kurze Rechnung zeigt, sind die Kreise
( x − c )2 + y2 = c2 − 1 mit c2 > 1
Lösungen dieser Dgl, also Äquipotentiallinien des Feldes.
Für zwei punktförmige Ladungen stimmt diese Darstellung entgegen oberflächlicher Anschauung
nicht! Die ebenen Feld- bzw. Potentiallinien sind dort zwar blasen-, aber nicht genau kreisförmig!
Anhang: Orthogonaltrajektorien in Polarkoordinaten
Man kann sich mittels "infinitesimaler Dreiecke" leicht überlegen, daß zwei in Polarkoordinaten
gegebene Kurvenscharen gegenseitige Orthogonaltrajektorien sind, falls die eine Schar die Dgl
dφ
dr
= f( r, φ )
und die andere die Dgl
dφ
dr
=−
1
f( r, φ ) r2
erfüllt.
cot( α ) = r f( r, φ ), tan( α ) =
1
r f( r, φ )
Beispiel 6: Die Schar der Kardioiden (Herzkurven)
r = c ( 1 + cos( φ ) )
hat die seltene Eigenschaft, daß sie aus ihren eigenen Orthogonaltrajektorien besteht! Denn durch
Differenzieren nach r bekommt man
1=−
c sin( φ ) d φ
dr
und durch Elimination von c:
dφ
dr
=
1 + cos( φ )
−r sin( φ )
.
Damit erfüllen die Orthogonaltrajektorien die Dgl
dφ
dr
die wegen
=
sin( φ )
r ( 1 + cos( φ ) )
,
sin( φ )
1 + cos( φ )
=
sin( φ ) ( 1 − cos( φ ) )
1 − cos( φ )2
=
1 − cos( φ )
sin( φ )
übergeht in
dφ
dr
=
1 − cos( φ )
r sin( φ )
.
Nun ergibt aber die Winkelverschiebung ψ = φ + π die Dgl
dψ
dr
=
1 + cos( ψ )
−r sin( ψ )
,
also (bis auf die Umbenennung von φ in ψ) die selbe Dgl wie für die Herzkurven.
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