Dissozialität Wissenschaftliche Definition und Deskription Von einem einheitlichen wissenschaftlichen Konzept von „Dissozialität“ oder „dissozialem Verhal-­‐ ten“ kann nicht gesprochen werden. Je nach theoretischem Ansatz weichen die Definitionen, Be-­‐ schreibungen, Erklärungen und damit auch die Lösungsansätze relativ stark voneinander ab. 1. Allgemeine Definition Mit K. Hartmann (1970, 5) gehen wir davon aus, dass die theoretischen Ansätze in folgender all-­‐ gemeiner Definition des Gegenstandsbereichs übereinstimmen: Dissozialität wird definiert als allgemeines und fortgesetztes Sozialversagen: -­‐ Dissozialität ist eine Abweichung von sozialen Verhaltenserwartungen. -­‐ Dissozialität ist ein fortgesetztes Sozialversagen: Wer von Dissozialität spricht, meint nicht einmalige, auch nicht gelegentliche, sondern wiederholte, ja fortgesetzte Unregelmässigkeiten in bezug auf soziale Normen. -­‐ Dissozialität ist allgemeines Sozialversagen: Wer von Dissozialität spricht, meint nicht nur ein fortgesetztes, sondern auch ein allgemeines Ungenügen, nicht nur im Verhaltenslängsschnitt, sondern auch im Verhaltensquerschnitt ausgedehntes Sozialversagen. (Hartmann verwendet für diesen Gegenstandsbereich den Begriff „Verwahrlosung“, der Begriff „Dissozialität“ ist bei ihm weitergefasst). 2. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-­‐10, Kapitel V (F) Die ICD-­‐10 beruht zwar faktisch auf einem primär individualistischen (klinisch-­‐psychiatrischen) Ansatz, bemüht sich aber um eine „atheoretische“, deskriptive Klassifikation. Die ICD-­‐Kategorien eignen sich deshalb, den Gegenstandsbereich „Dissozialität“ auch für unseren Zweck zu um-­‐ schreiben. Dissozialität als „allgemeines und fortgesetztes Sozialversagen“ bezeichnet natürlich kein einheit-­‐ liches Erscheinungsbild. Als dissozial bezeichnet werden können unterschiedlichste relativ kon-­‐ stante Strategien der Alltagsbewältigung in Familie/Primärgruppe, Schule, „Berufsausbildung, Arbeit, Öffentlichkeit. Die ICD-­‐10 erfasst denn auch dissoziales Verhalten unter verschiedensten Störungsbildern. Zudem kann ein komplexeres Erscheinungsbild auch mehrfach verschlüsselt werden. Zur allgemeinen Charakterisierung des Gegenstandsbereich „Dissozialität“ genügt es an dieser Stelle, die in diesem Zusammenhang zentralen Störungsbilder aufzuführen. Vorausgeschickt wer-­‐ den muss, dass die ICD-­‐10 dissoziales Verhalten im Kindes-­‐ und Jugendalter primär erfasst als Störung des Sozialverhaltens (F 91), im Erwachsenenalter hingegen interpretiert als Spezifische Persönlichkeitsstörung (F60). Diese beiden Störungsbilder werden im Folgenden mit entspre-­‐ chenden Zitaten dargestellt: Störungen des Sozialverhaltens (F 91) „Störungen des Sozialverhaltens sind durch ein sich wiederholendes und andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens charakterisiert. In seinen extremsten Aus-­‐ wirkungen beinhaltet dieses Verhalten gröbste Verletzungen altersentsprechender sozialer Er-­‐ wartungen. Es soll schwerwiegender sein als gewöhnlicher kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit. Einzelne dissoziale oder kriminelle Handlungen sind allein kein Grund für die Diagnose, die ein andauerndes Verhaltensmuster impliziert. „Störungen des Sozialverhaltens können sich in einigen Fällen zu einer dissozialen Persönlich-­‐ keitsstörung entwickeln“. Eine Störung des Sozialverhaltens trifft oft zusammen mit schwierigen psychosozialen Umständen, wie unzureichenden familiären Beziehungen und Schulversagen auf; sie wird bei Angehörigen des männlichen Geschlechts häufiger gesehen.“ (1991,279) „Beispiele für Verhaltensweisen, welche die Diagnose begründen, sind ein extremes Mass an Strei-­‐ ten oder Tyrannisierungen, Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder gegenüber Tieren, erhebliche Destruktivität gegen Eigentum, Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Schulschwänzen und Weglaufen von zu Hause, ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche und Ungehor-­‐ sam. Jedes dieser Beispiel ist bei erheblicher Ausprägung ausreichend für die Diagnose; isolierte dissoziale Handlungen genügen dagegen nicht (...). Es wird empfohlen, diese Diagnose nur dann zu stellen, wenn die Dauer des oben beschriebenen Verhaltens sechs Monate oder länger beträgt.“ (1991, 280) Die ICD-­‐10 unterscheiden bei den Störungen des Sozialverhaltens verschiedene Unterformen: F91.0 auf den familiären Rahmen beschränkte Störungen des Sozialverhaltens F91.1 Störungen des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen F91.2 Störungen des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen F91.3 Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten Spezifische Persönlichkeitsstörung (F60) „Hier liegt eine schwere Störung der charakterlichen Konstitution und des Verhaltens vor, die mehrere Bereiche der Persönlichkeit betrifft. Sie geht meist mit persönlichen und sozialen Beein-­‐ trächtigungen einher. Persönlichkeitsstörungen treten häufig erstmals in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und manifestieren sich endgültig im Erwachsenenalter. Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörungen vor dem Alter von 16 oder 17 Jahren ist daher wahrscheinlich unangemessen.“ (...) „Die Zustandsbilder sind nicht direkt auf Hirnschädigungen oder Krankheiten oder auf eine andere psychiatrische Störung zurückzuführen und erfüllen die folgenden Kriterien: 1. Deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funkti-­‐ onsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in den Beziehungen zu anderen. 2. Das abnorme Verhaltensmuster in andauernd und nicht auf Episoden psychischer Krankheit begrenzt. 3. Das abnorme Verhaltensmuster ist tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situ-­‐ ationen eindeutig unpassend. 4. Die Störung führt zu deutlichem subjektivem Leiden, manchmal erst im späteren Verlauf. Prof. Charles Suter Dissozialität als soziales Problem 2 5. Die Störung ist meist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leis-­‐ tungsfähigkeit verbunden (1991, 212f). Innerhalb der Gruppe von Persönlichkeitsstörungen sind Zuordnungen zu verschiedene Klassifi-­‐ kationen möglich: • Schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1) Dieser Typus ist charakterisiert durch emotionale Kühle, flache Affektivität, autistische Züge, einzelgängerisches oft exzentrisches Verhalten etc. • Dissoziale Persönlichkeitsstörung (f60.2) “Diese Persönlichkeitsstörung fällt durch eine grosse Diskrepanz zwischen dem Verhalten und den geltenden sozialen Normen auf ...“ (1991, 214). Charakterisiert wird sie vor allem durch Gefühllosigkeit, Verantwortungslosigkeit, geringe Frustrationstoleranz, Unvermögen zu längeren Beziehungen, Fehlen von Schulgefühlen etc. • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3) “Eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz Impulse auszuagieren ohne Berücksich-­‐ tigung von Konsequenzen, und wechselnder, launenhafter Stimmung. Die Fähigkeit, voraus-­‐ zuplanen, ist gering und Ausbrüche intensiven Ärgers können zu oft gewalttätigem und ex-­‐ plosiblem Verhalten führen; dieses Verhalten wird leicht ausgelöst, wenn impulsive Handlun-­‐ gen von anderen kritisiert oder behindert werden „ (1991, 215). Die ICD-­‐10 unterscheidet hier zwischen einem impulsiven Typus und dem Borderline-­‐Typus. Letzterer ist zusätzlich zur emotionalen Instabilität charakterisiert durch ein unklares Selbstbild, unklare Ziele und inne-­‐ re Präferenzen (inkl. der sexuellen). • Histrionisch Persönlichkeitsstörung (F60.4) Gemäss ICD-­‐10 steht hier die auffällige dramatisierende, labile, oberflächliche Affektivität und das „kindliche“ Verlangen nach Befriedigung eigener Bedürfnisse, Aufmerksamkeit, Anerken-­‐ nung etc. im Vordergrund. Es wird auch von hysterischer oder infantiler Persönlichkeitsstö-­‐ rung gesprochen. • Anankastische (zwangshafte) Persönlichkeitsstörung (F60.5) Im Vordergrund steht hier die enorm kontrollierte, gewissenschafte, rigide und eingeengte Art der Selbst-­‐ und Weltbegegnung. • Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.6) Diese Persönlichkeitsstörung ist charakterisiert durch eine von Unsicherheit, Angst und Ent-­‐ mutigung geprägte Lebenshaltung, die einmündet in den Versuch, jedes Risiko zu meiden bzw. die Sehnsucht nach symbiotischen Beziehungen, die Sicherheit, Akzeptation etc. vermit-­‐ teln. • Abhängige (asthenische) Persönlichkeit (F60.7) In diesem Fall steht Autonomieschwäche und Flucht in symbiotische Beziehungen im Vorder-­‐ grund. Das Individuum delegiert die Verantwortung für das eigene Leben an Dritte und ist ohne diese absolut hilflos. Prof. Charles Suter Dissozialität als soziales Problem 3