Auffällig Unauffällig - max daublebsky`s ePortfolio

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MD Maximilian Daublebsky, Bakk. phil.
Schubertstraße 23, 8010 Graz
+4745157766
maximilian.daublebsky.jpr09@fh
-joanneum.at
Auffällig Unauffällig
Das Sonderpädagogischen Zentrum (SPZ) Ellen Key Graz - ein überraschender Einblick in eine gar
nicht sonderbare Schule.
„Waren sie eigentlich auch schlimm oder waren sie ein Streber?“, fragt mich Michael aus der
ersten Reihe. Nach einer kurzen Vorstellung durch ihren Lehrer Udo Nestl wollen die Schüler
der Förderklasse des SPZ Ellen Key gleich wissen, mit wem sie es wirklich zu tun haben. Obwohl
ich gestehen muss, meine Schulkarriere ohne gröbere Probleme hinter mich gebracht zu haben,
kann ich zugeben, früher auch für den einen oder anderen Streich gut gewesen zu sein. So hat
sich nicht nur Michael schon einmal auf der Flucht vor einem Lehrer am Schulklo versteckt.
Zugegebenerweise eher harmlos – aber immerhin. Man will sich ja keine Blöße geben.
Einige Stunden davor betrete ich das bunte Gebäude, in dem sich das SPZ befindet mit einem
unsicheren Gefühl. Eine Sonderschule – von außen nicht von einer normalen Schule zu
unterscheiden. Aber was wird mich hier erwarten? Wie werden die verhaltensauffälligen Kinder
auf einen Reporter reagieren? Ich bin froh, dass mir Herr Nestl und sein Direktor Klaus Ackerl
bei einem Kaffee von ihrer Arbeit und den Schülern erzählen, bevor es so richtig losgeht. Dabei
sitzen wir in einem lieblos eingerichteten Lehrerzimmer. Die zwei Pädagogen spiegeln diese
Stimmung nicht wieder. Laut Ackerl kämen öfter Anfragen von verschiedenen Zeitungen. Meist
hat er dabei das Gefühl, es gehe den Redakteuren nur darum, seine Schule in ein schlechtes Licht
zu rücken: „Daran habe ich kein Interesse.“ Wenn aber Fakten wiedergegeben werden sollen, ist
er bereit Auskunft zu geben.
Also zu den Fakten. „Das verhaltenspädagogische Konzept dieser Schule ist darauf ausgerichtet,
Kindern und Jugendlichen mit sozial-emotionalen Störungen und dem Umfeld der Kinder eine
möglichst flexible, aber vor allem adäquate Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Probleme
zukommen zu lassen“, ist auf einem Informationsblatt der Schule zu lesen. Erreicht werden soll
dies zum einen durch spezielle Förderklassen und zum anderen durch ambulante Betreuung. Im
Rahmen der ambulanten Betreuung sind steiermarkweit speziell ausgebildete Beratungslehrer im
Einsatz. Sie leisten an den Regelschulen vor Ort Unterstützung, wenn die dortigen Lehrer an ihre
Grenzen stoßen. Ziel ist der Verbleib der Problemkinder an den jeweiligen Schulen. „Durch
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dieses Angebot werden die Schwierigkeiten sehr häufig gelöst, ohne die Kinder aus ihrer
Stammschule holen zu müssen.“ zeigt sich Direktor zufrieden. Einige an den Wänden befestigte
Kinderzeichnungen sehen nach Sorglosigkeit aus. Ackerls Gesicht erzählt eine andere Geschichte.
Können die Kinder aufgrund ihrer Verhaltensstörungen nicht mehr an Regelschulen integriert
werden, müssen sie vorübergehend in einer Förderklasse unterrichtet werden. Der elfjährige
Andreas wird später erzählen, dass er seine Lehrerin häufig beschimpft und sogar getreten hat,
bevor er an diese Schule gewechselt ist. An diesem Tag merkt man dem unscheinbaren Bub
nichts von dieser Aggressivität an. In Kleingruppen sollen die Schüler vor allem eine Beziehung
zu ihren Lehrern aufbauen können. Keines der zehn Kinder aus seiner jetzigen Klasse kommt aus
einer intakten Familie, erzählt Herr Nestl: „Meist waren die Kinder ihr ganzes Leben mit
Beziehungsabbrüchen konfrontiert. Wechselnde Stiefväter sind eher die Regel als die Ausnahme.
Deswegen ist es für sie wichtig, ein vertrautes Verhältnis zu ihren Betreuern zu haben.“ Der
bullige Lehrer vermittelt dieses Vertrauen durch ein schelmisches Lächeln, das immer wieder über
seine Lippen blitzt. Um das zu ermöglichen, sind in einer Klasse drei Pädagogen im Einsatz. Nur
so kann man auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen. Vor allem weil sich die
Klassen aus Missbrauchs- und Vernachlässigungsopfern, aus besonders introvertierten und
besonders aktiven Kindern zusammensetzen, ist diese individuelle Betreuung so wichtig.
Früher kamen die Schüler fast ausschließlich aus sozialen Randschichten. Heute ist die
Klassenzugehörigkeit meist sekundär. Ursache für die Verhaltensstörungen sind heute wie damals
oft zerrüttete Familien. Verändert hat sich im Lauf der Jahre aber vor allem die Heftigkeit der
jeweiligen Störungen, wie sowohl Nestl als auch Ackerl aus ihrer jahrelangen Erfahrung berichten
können. Ob nun Computerspiele, Gewalt in Filmen oder eine allgemeine Verrohung der
Gesellschaft dafür verantwortlich sind, kann keiner von beiden beantworten. Es spielt für ihre
Arbeit auch keine Rolle. Auffällig ist aber, dass eindeutig mehr Burschen in den Förderklassen zu
finden sind. „Das liegt vor allem an der Art, wie Gewalt geschlechtsspezifisch gelebt wird“, sagt
Ackerl. „Die Mädchen zeigen ihre Probleme nicht so häufig durch Gewalt anderen gegenüber.
Bei ihnen ist vor allem das Ritzen – also das Schneiden ins eigene Fleisch – ein großes Problem.“
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Das Ziel der Förderklassen ist - bei aller Vielfalt der Probleme - aber immer das gleiche: die
Reintegration in das Regelschulsystem. Im SPZ Ellen Key gibt es zurzeit zwei Hauptschul- und
zwei Volksschulförderklassen. Vor allem nach der Volksschule ist die Rückführungsquote
besonders hoch. Aber auch die Hauptschulklassen sorgen immer wieder für Erfolgserlebnisse
beim Lehrpersonal. Nicht zuletzt, weil man sich hier vor allem auf die schulische Arbeit
konzentriert. Man merkt, dass Herr Nestl diese Erfolge braucht wie einen Bissen Brot, wenn er
davon erzählt.
„Bei uns gibt es kein therapeutisches Angebot. Dafür ist die Jugendwohlfahrt zuständig – mit der
wir aber eine sehr gute Zusammenarbeit haben. Wir bemühen uns, in erster Linie den Lehrplan
durchzubringen“, sagt der Direktor, „Dadurch bleiben die Schüler, was den Unterricht angeht,
immer am Laufenden.“ Es fällt auf, dass er seine Worte sehr genau wählt. Auf keinen Fall will er
die Schule durch unüberlegte Äußerungen in ein falsches Licht rücken. Die Kinder liegen ihm
am Herzen. Deswegen muss er sich nun auch wieder wichtigeren Dingen widmen, als dem
Gespräch mit einem Reporter.
In die Obhut von Herrn Nestl entlassen, geht es jetzt endlich in dessen Klasse. Das anfänglich
unsichere Gefühl hat sich inzwischen in Spannung verwandelt. Zu meiner großen Überraschung
sitzen alle schon auf ihren Plätzen. Eine Schulklasse wie Unzählige andere auch. Noch ist kein
Zeichen von Verhaltensauffälligkeit zu erkennen. Auffällig ist nur die Anzahl der Schüler: Fünf
Burschen zwischen elf und dreizehn Jahren warten auf ihren Unterricht. „Heute fehlt die Hälfte
der Klasse“, sagt Herr Nestl, „vielleicht weil wir vorher eine Deutsch-Schularbeit geschrieben
haben.“ Kurz werde ich als „Herr Reporter“ vorgestellt. „Cool! Stehen wir dann in der Zeitung?“,
tönt es aus der zweiten Reihe. Gleich will Michael – wie schon eingangs erwähnt - wissen, ob ich
denn ein Streber war. Nachdem wir durch unser beider Flucht vor dem Lehrer eine
Gemeinsamkeit entdeckt haben, ist das Eis endgültig gebrochen. Die Hände schießen im
Sekundentakt in die Höhe. Wie ich heiße, woher ich komme, wie alt ich bin und ob ich viel Geld
verdiene, wollen alle gleichzeitig von mir erfahren. Nachdem diese Fragen geklärt sind, kehrt
wieder Ruhe ein.
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Jetzt sind die Schüler an der Reihe zu erzählen. Ihr Lehrer schlägt vor, dass sich zuerst einmal alle
vorstellen. „Nach der Reihe!“, ermahnt Herr Nestl, als die ganze Klasse gleichzeitig losredet.
Ungeduldig strecken sie ihre Arme in die Höhe. Wie verlangt lerne ich, einen nach dem anderen,
Michael, Andreas, Daniel, Andre und Thomas kennen. „Ich geh‘ gern in die Schule“, sagt
Michael. Und obwohl zuerst „so ein Streber“ aus der letzten Reihe zu hören ist, stimmen ihm
dann doch alle zu. André ruft: „Der Herr Nestl ist total nett. Viel besser als meine alte Lehrerin.“
„Manchmal schimpft er aber schon“, sagt Daniel und lacht dabei. „Trotzdem muss ich viel
weniger Hausaufgaben machen als vorher“, meint Michael dazu. Herr Nestl erklärt, dass während
des Vormittags die Möglichkeit besteht, die Aufgaben zu erledigen. Bis jetzt bietet sich einem
alles andere als das erwartete Bild, einer Sonderschulklasse. Andreas zeigt auf und fragt: „Soll ich
erzählen, warum ich da bin?“
In den nächsten Minuten wird klar, weshalb die Kinder an ihren alten Schulen nicht mehr
unterrichtet werden konnten: Dort wurden Lehrer und andere Mitschüler beschimpft und
geschlagen, es wurden Steine geworfen und Möbel zerstört. Eine Liste, die sich noch länger
fortsetzen ließe. Auf die Frage, warum diese Dinge passiert sind, kommen immer die gleichen
Antworten: Mein Lehrer war gemein, die Mitschüler waren dumm und überhaupt war alles blöd.
Umso erstaunlicher ist es zu sehen, wie sich die Klasse heute verhält. Abgesehen von einigen
Zwischenrufen sitzen alle ruhig auf ihren Plätzen und zeigen auf, bevor sie etwas zu sagen haben.
Wirklich auffällig unauffällig. Herr Nestl relativiert, dass es an manchen Tagen auch ganz anders
zugehen könne. Oft wird aus Frustration schon einmal ein Tisch umgeworfen. Auch der Lärm in
der Klasse macht es manchmal fast unmöglich zu unterrichten. Im Großen und Ganzen könne
aber mit den Kindern gut gearbeitet werden. Dies liegt nicht zuletzt an deren Lernbereitschaft.
Andre zum Beispiel besucht in der nächsten Woche gemeinsam mit seinem Lehrer den Direktor
einer Regelschule. Dort soll er aufgrund seines Fortschrittes in der Förderklasse im nächsten
Schuljahr reintegriert werden. „Ich bin schon aufgeregt. So richtig aber wahrscheinlich erst, wenn
ich dort bin“, sagt er und versucht seine Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. Wieder
eines dieser Erfolgserlebnisse.
Schließlich holen sich alle eine Mappe vom Lehrertisch. Es ist Zeit wieder etwas zu lernen. Mit
Hilfe der zwei anderen Lehrer arbeitet bereits jeder an seinen Aufgaben, als ich mich
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verabschiede. Am Weg hinaus höre ich einen der Burschen fragen: „Wann gehen wir denn jetzt
kicken?“ Während er mich hinausbegleitet, erklärt Herr Nestl mit einem Augenzwinkern: „Da
hat mein Kollege den Burschen wohl versprochen mit ihnen Fußballspielen zu gehen, wenn sie
brav sind, solange der Herr Reporter da ist.“ Auch sein schelmisches Lächeln ist wieder zu sehen.
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