CHANCEN UND RISIKEN DES ALTERS In den höheren Lebensjahren spielen Gedanken um die Gesundheit und die Selbständigkeit der Lebensführung verständlicherweise eine zunehmende Rolle. Oft tragen althergebrachte Meinungen über diese Lebensphase dazu bei, körperliche und geistige Einschränkungen, die nun auftreten können, auf das Alter zurückzuführen. Dies hat nicht selten zur Folge, dass Krankheit und Behinderung im Alter als unvermeidbar und als altersbedingte Einbuße gewertet wird. Daher schätzt der Laie seine Einflussmöglichkeiten auf die Erhaltung von Gesundheit teilweise zu gering ein. Die Wissenschaft hingegen bestätigt, dass Alter nicht mit Krankheit gleichzusetzen ist. Es gibt große Unterschiede von Mensch zu Mensch. Jede Frau, jeder Mann altert auf höchst eigene Weise. Älterwerden erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne und wird durch unser Verhalten in den verschiedenen Lebensaltern entscheidend beeinflusst. Die vielen Gesichter des Alterns Das Altern lässt sich als eine Phase charakterisieren, in der sowohl Gewinne als auch Verluste erkennbar sind. Die Gewinne betreffen die Entlastung von Verpflichtungen in Beruf und Familie. Der weit größere Teil der älteren Menschen sieht dies als Möglichkeit einer „späten Freiheit“. Doch stehen neben den Gewinnen auch Verluste, die vor allem im hohen Alter zunehmen. Gesundheitliche Einbußen werden häufig als Belastung genannt. Trotz dieser möglichen Verluste finden sich beim größeren Teil der älteren Menschen eine relativ hohe Ausgeglichenheit und Zufriedenheit mit der persönlichen Lebenssituation. a. Alter als Entpflichtung/ Entlastung Gesundes Älterwerden ist nicht allein eine Frage der körperlichen Gesundheit. Es ist auch eine Frage der Aktivität und einer positiven Lebenseinstellung. Befragte ältere Menschen (je 100 Personen) bewerten ihren Ruhestand zunehmend positiver, wie die Abbildung verdeutlicht. Abb. 1: Viel Zeit und große Zufriedenheit – ( entnommen Opaschowski, H.W. 1998) 50 42 40 30 20 10 0 Habe endlich Zeit für Hobbies Keine Langeweile 18 12 18 10 Bin zufrieden fühle mich wohl 3 1983 1997 Die meisten alten Menschen sind mit ihrem Leben zufrieden. Zwei Drittel fühlen sich gesund, fast zwei Drittel fühlen sich gesünder als ihre Altersgenossen, fast ein Fünftel mindestens ebenso gesund wie Gleichaltrige. Untersuchungen belegen einen Optimismus in der Einschätzung der Gesundheit, im Gegensatz zu objektiven medizinischen Befunden. In einer Studie beurteilen 29 Prozent der über 70jährigen ihre körperliche Gesundheit allgemein als sehr gut bis gut und 38 Prozent als befriedigend. Je älter Menschen sind, desto ausgeprägter ist ihr Gesundheitsoptimismus. Jede Person erlebt Gesundheit anders. Dieses Empfinden wird beeinflusst von der Biographie, der gegenwärtigen Belastung und der erhaltenen Unterstützung. Die meisten alten Menschen haben noch ausgeprägte Lebensziele. In einer Befragung entwerfen etwa 90 Prozent selbst bis ins hohe Alter Zukunftsvorstellungen. Die Erhaltung der Gesundheit wird häufig ©Institut für Medizinische Soziologie – Charité Universitätsmedizin Berlin D. Dräger/ A. Kuhlmey 1 als eines der wichtigsten Lebensziele genannt. Die Bedeutung der Gesundheit nimmt mit zunehmendem Alter zu und steht schließlich an oberster Stelle der Investitionen. Junges Erwachsenen – Alter 25-34 Jahre • • • • Beruf Freunde Familie Unabhängigkeit Sehr hohes Erwachsenen – Alter 85-105 Jahre • • • • Gesundheit Familie Nachdenken über das Leben Kognitive Leistungsfähigkeit Abb. 2: Vergleich der Lebensbereiche, für die verfügbare Energie eingesetzt wird (entnommen Staudinger, U. 1996) Dabei beschäftigt sich der ältere Mensch mit der konkreten Gegenwart (ca. 40 %) oder einer gestaltbaren Zukunft (25 %). Nur ein Drittel älterer Menschen ist vorwiegend vergangenheitsorientiert. Die alten Menschen sind nach den Ergebnissen von Studien aktiv, und zwar sowohl außerhäuslich als auch zu Hause. Die Beobachtung von Tagesabläufen zeigt, dass nur etwa 20 Prozent der Wachzeit mit Ruhephasen verbracht werden. Bei den 70- bis 84-jährigen sogar nur etwa 10 Prozent. b. Alter als Belastung/ Risiko Menschen müssen sich mit zunehmendem Alter mit möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen auseinandersetzen. Obwohl sich viele Ältere gesund fühlen, bedeutet dies nicht, dass sie objektiv gesund sind. Typisch für den älter werdenden Menschen sind Veränderungen der Organe und Gewebe, die mit einer Abnahme der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit verbunden sind. Organfunktion Prozent Herz Maximaler Herzschlag 75% Lunge Maximales Ein-/ Ausatemvolumen 56% Knochen Mineralgehalt Frauen 70% Mineralgehalt Männer 85% Muskeln Handmuskelkraft 55% Geistige Leistung Gedächtnisleistung Herabgesetzt Reaktionsgeschwindigkeit Herabgesetzt Maximale Dauerleistung 70% Maximale kurzfristige Höchstleistung 40% Kreislauf Abb. 3: Organfunktion im höheren Alter im Vergleich zum dritten Lebensjahrzehnt (entnommen Steinhagen-Thiessen et al. 1999) Im Alter gehen auch die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit des Organismus zurück. Das Erkrankungsrisiko nimmt zu. Zusätzlich zeigen sich die Folgen gesundheitsschädigender Einflüsse im Le©Institut für Medizinische Soziologie – Charité Universitätsmedizin Berlin D. Dräger/ A. Kuhlmey 2 benslauf oftmals erst im Alter. So hat mehr als die Hälfte der 70jährigen und Älteren zumindest eine schwere Gesundheitsbeeinträchtigung. Zu den häufigsten Krankheiten, von denen zwischen 60 und 65 Prozent der alten Menschen betroffen sind, gehören: Zerebralarteriosklerose (Durchblutungsstörung des Gehirns), Herzinsuffizienz (Herzschwäche), Osteoarthrose (Gelenkerkrankung durch Abbauprozesse), Hypertonie (Bluthochdruck) und koronare Herzkrankheit (Schädigung der Herzkranzgefäße). Zudem sind 23 Prozent in ihrer Sehkraft starkeingeschränkt oder blind; fast 11 Prozent hören nur noch sehr schlecht. Im Hinblick auf die geistige Gesundheit zeigt ein knappes Viertel der über 70jährigen Störungen der seelischen Vorgänge und geistigen Funktionen. Ein Zehntel dieser Störungen, sind mit Hilfsbedürftigkeit verbunden. Die Häufigkeit depressiver Erkrankungen unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Altersgruppen von 70 bis über 100 Jahre kaum. Eine Studie widerlegt die häufig geäußerte Vermutung, dass die meisten alten Menschen zu viele Medikamente erhalten. Lediglich 14 Prozent der 70jährigen und Älteren erhalten ein unnötiges oder ein ungeeignetes Medikament. Dagegen werden 24% trotz schwerer körperlicher Erkrankung nicht ausreichend mit Medikamenten versorgt. Krankheiten schränken nicht selten die selbständige Alltagsgestaltung ein, vor allem im hohen Lebensalter. Aktivitäten, wie Einkaufen und Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, können durch Einschränkung der Mobilität nicht mehr selbständig ausgeführt werden. Trotzdem sind alte Menschen in ihrer Lebensführung weitgehend selbständig, wie das Beispiel verdeutlicht. Von den in Privathaushalten lebenden alten Menschen benötigen drei Viertel keine regelmäßige Hilfe von außerhalb. Nur 9% der 70-Jährigen und Älteren sind pflegebedürftig. Auch der Anteil im Heim lebender älterer Menschen ist, mit ca. einem Zehntel der über 70 Jährigen, niedriger als häufig vermutet. Auch wenn Krankheit und Behinderung im Alter häufiger sind als in jungen Jahren, so kann doch Alter nicht mit Krankheit gleichgesetzt werden. Einerseits muss man zwischen gesunden Alten und kranken alten Menschen unterscheiden. Andererseits hat sich für keine Krankheit erwiesen, dass sie eine direkte Folge des Alterns selbst ist. c. Alter als Chance Entscheidend für ein Verständnis von Gesundheit ist, sich auf Fähigkeiten und Fertigkeiten zu konzentrieren, die ein aktives und selbstverantwortliches Leben ermöglichen. Den Einschränkungen der Selbständigkeit und Alltagskompetenz begegnen viele ältere Menschen mit einem hohen Maß an Kreativität. So fühlt ein großer Teil (70 %) älterer Menschen, das Leben selbst bestimmen zu können, und fühlt sich insoweit selbständig und unabhängig. Es gibt eine Fülle von Hinweisen dafür, dass Vorstellungen vom Altern als negativ zu bewertende Lebensphase nicht der Meinung aller alten Menschen entsprechen. Die positive Einstellung von Befragten (je 100) zu der Aussage „Jede Lebensphase ist gleich schön“, nimmt mit dem Alter zu. So beschäftigen sich auch nur 30 Prozent einer Studie zufolge stark oder sehr stark mit ihrem Sterben und dem Tod. Im Gegenteil der ältere Mensch setzt sich mit der Bewältigung alterspezifischer Anforderungen auseinander. Bei der Anpassung an altersbedingte neue Situationen können drei verschiedene ineinandergreifende Strategien helfen. Die erste dieser Strategien beinhaltet einen schrittweise langsamen Rückzug von Aufgaben innerhalb verschiedener Lebensbereiche. Sie kann auch einen völligen Verzicht auf Tätigkeiten bedeuten. Die dabei zu treffende Auswahl (Selektion), betrifft Aufgaben, Lebensinhalte und Ziele die Priorität, also eine hohe Bedeutung haben. Ein weiterer Schritt zur Anpassung an altersbedingte Veränderungen ist die Aktivierung und Stärkung körperlicher und geistiger Reserven (Optimierung). Bei der Umsetzung der Ziele und Le©Institut für Medizinische Soziologie – Charité Universitätsmedizin Berlin D. Dräger/ A. Kuhlmey 3 bensinhalte mit hoher Priorität kommt diese optimale Gestaltung der Aufgaben zum Tragen. Dabei sind bis ins hohe Alter hinein die meisten alten Menschen noch lernfähig. Notwendige Kompetenzen können durch Training und Einübung in ihrer Qualität verbessert werden. Die dritte Strategie setzt da ein, wo der kranke Körper die Ausführung bestimmter Verhaltensweisen nicht mehr erlaubt (Kompensation). Die Nutzung von Hilfsmitteln hilft, diese Einschränkungen zu kompensieren, also auszugleichen. Hörgeräte, Brille und Rollstuhl sind Beispiele für ausgleichende Hilfsmittel. Auch die Anwendung einer Taktik kann helfen Einschränkungen auszugleichen, wie u.a. im folgenden Beispiel deutlich wird. Der Pianist A. Rubinstein soll auf die Frage -wie er die Schwächen des Alters bezwingt– folgendes geantwortet haben. Er spielt weniger Stücke als in früheren Jahren (Selektion). Diese Musikstücke übt er sehr viel häufiger (Optimierung). Zur Bewältigung sehr schneller Passagen, spielt er vor den entsprechenden Stellen verlangsamt, um diese durch den Kontrast schneller erscheinen zu lassen (Kompensation). Bisher wurden noch nicht alle Möglichkeiten für ein gesundes Alter ausgeschöpft. Dabei waren die Chancen auf ein längeres und gesundes Leben noch nie so gut wie heute. Der Alterungsvorgang unterliegt zwar einerseits dem Einfluss der Genetik (Weitervererbung von Verläufen eines hohen Alters). Andererseits lässt er sich aber durch Veränderung des Lebensstils, der Ernährungsgewohnheiten und der toxischen Umwelt, der Prozess der Alterung beeinflussen. Viele Krankheiten können durch Unterlassung der Risikofaktoren vermieden oder hinausgezögert werden. Dabei geht es nicht darum, noch älter zu werden, sondern um eine verbesserte Vitalität und Lebensqualität (siehe Abbildung 7). Die augenblickliche Tendenz zeigt eine Erhöhung der Lebenserwartung bei gleichzeitiger Ausdehnung der Krankheitsphase (b). Das Ziel ist die aufgezeigte Verkürzung der Krankheitsphase (c), durch ein möglichst langes Hinausschieben von Krankheit, Gebrechen und den Äußerungen einer chronischen Erkrankung. Die gewonnenen Jahren würden dann auch ein Mehr an Leben bedeuten. (a) „gesund“ (b) „gesund“ „krank “ Ausgangszustand „krank“ Augenblickliche Tendenz (c) „gesund“ „krank“ Ziel Alter Lebenserwartung Abb. 5: Chancen auf ein gesünderes Alter ( In Anlehnung an Deutscher Bundestag, 1994) Es ist auch im Alter ein von Krankheiten und Einschränkungen relativ freies Leben möglich. Zu dieser positiven Entwicklung kann der Mensch durch aktive Lebensführung, positive Lebenseinstellung und gesundheitsbewusstes Verhalten beitragen. ©Institut für Medizinische Soziologie – Charité Universitätsmedizin Berlin D. Dräger/ A. Kuhlmey 4