Das Leben in L`Aquila ist zum Stillstand gekommen

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AUSLAND
Tages-Anzeiger · Dienstag, 7. April 2009
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ERDBEBEN IN DEN ABRUZZEN Die Bewohner von L’Aquila stehen unter Schock, die Zahl der Opfer steigt.
BILDER KEYSTONE, REUTERS (2)
Während Ministerpräsident Berlusconi ins Erbebengebiet fliegt, werden die zahlreichen Verletzten in L’Aquila versorgt. Die Stadt in den Abruzzen ist weitgehend zerstört.
Das Leben in L’Aquila ist zum Stillstand gekommen
Bei dem schweren Erdbeben
in Mittelitalien sind
150 Menschen ums Leben
gekommen. Die Altstadt
von L’Aquila ist zerstört.
Von Kordula Doerfler, L’Aquila
Es herrscht Stille vor dem Kirchlein von
San Francesco di Paola. Auf einem Fresko
an der Aussenwand hebt der Heilige seine
Hände zum Gebet nach oben. Zum Beten
wird hier so schnell keiner mehr herkommen. Vor dem Eingangsportal der kleinen
Barockkirche liegt Schutt. Das Dach ist
eingestürzt, Balken ragen in die Höhe.
Davor, in einer der Hauptstrassen von
L’Aquila, rasen Rettungsfahrzeuge vorbei,
mit Blaulicht und Sirenen. Viele sind mit
einer dicken Staubschicht überzogen. Auf
einem Rasenstück sitzen die Menschen in
der Sonne. Viele weinen. Gegenüber liegt
ein Studentenwohnheim. Die hintere
Hälfte hat sich in einen riesigen Haufen
aus Schutt verwandelt. Auch gleich um die
Ecke, in einer kleinen Seitenstrasse, bietet
sich ein Bild des Grauens. Ein mehrstöckiges Wohnhaus ist vollkommen zerstört.
Rettungskräfte der Carabinieri, der Feuerwehr und Sanitäter sind im Einsatz.
Wie viele Menschen unter den Trümmern begraben sind, weiss niemand genau. «Mein Bruder, mein Neffe, die Grossmutter, sie sind alle noch dort drin», stammelt ein Mann unter Tränen. Noch hat er
die Hoffnung nicht aufgegeben, dass jemand gerettet wird. Noch will niemand
die Hoffnung all jener zerstören, die händeringend neben den eingestürzten Palazzi stehen.
Mehr als 3000 Feuerwehrleute sind im
Einsatz, dazu Hunderte Polizisten, Carabinieri und Sicherheitskräfte aller Art, in
L’Aquila, der sonst eher beschaulichen
Hauptstadt der Bergregion Abruzzen. In
den frühen Morgenstunden begann die
Erde zu beben, so schwer wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In ganz Mittelitalien
hatte es schon zuvor mehrere schwere Erdstösse gegeben, bis schliesslich gegen halb
drei Uhr die Richterskala bis auf den Wert
Das Erdbeben konnte nicht
vorhergesagt werden
Immer mehr Menschen leben
in Italien in seismisch aktiven
Zonen. Im Ernstfall werden sie
von einem Beben überrascht.
Von Daniel Bächtold
5,8 ausschlug. Bis ins 100 Kilometer entfernte Rom war das Beben zu spüren,
selbst dort schwankten Schränke und Regale bedrohlich, verliessen viele Menschen
in Panik ihre Häuser. «Es war schrecklich,
wir sind sofort aus dem Haus und auf die
Strasse», sagt eine junge Frau. Staub liegt
auf ihren Haaren, ihre Augen flackern. Auf
einer kleinen Piazza hat sie die ganze
Nacht verbracht, so wie alle in L’Aquila, die
um Leib und Leben fürchteten.
Die Angst vor dem Nachbeben
Jetzt will sie zurück in ihr Haus, zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter.
Es ist ein neueres Gebäude aus den 80erJahren des 20. Jahrhunderts und offenbar
besser gerüstet für die schweren seismischen Stösse, die die Region regelmässig
heimsuchen. Abgesperrt ist es nicht, obwohl es lebensgefährlich ist, es zu betreten. Doch die Sicherheitskräfte haben jetzt
Wichtigeres zu tun. Zu viele werden noch
vermisst, zu viele müssen evakuiert und
ärztlich behandelt werden.
Draussen, vor den Toren der Stadt, wur-
den Notlager errichtet, in die die Verletzten und Evakuierten gebracht werden.
Über dem historischen Zentrum von
L’Aquila aber herrscht Stille. Dahinter erheben sich majestätisch die Abruzzen,
schneebedeckte Gipfel leuchten in der
Frühlingsssonne. Auch Italien hat einen
langen Winter hinter sich, aber jetzt ist er
da, der lang ersehnte Frühling, Ostern
steht vor der Tür. Es könnte ein Idyll sein.
Je näher man dem Zentrum kommt,
umso sichtbarer wird das Ausmass der
Zerstörung. Die meisten Barockpaläste haben dem Beben nicht standgehalten. Die,
die noch stehen, sind akut einsturzgefährdet. In den Aussenwänden klaffen riesige
Löcher, Balkone sind in die Tiefe gestürzt,
Kirchendächer eingebrochen. «Käme
noch ein schweres Nachbeben, bliebe
wohl nicht viel übrig von L’Aquila», sagt
ein Polizist. So wie von Castelnuovo, einem Städtchen in den Bergen. Es wurde
dem Erdboden gleichgemacht.
Stündlich steigt die Zahl der Toten in
der Region, am frühen Nachmittag sind es
bereits über 90, mindestens 1500 sind verletzt. Mindestens 15 000 Häuser wurden
Wichtigste Störungszonen und Erdbebenrisiko in Italien
ÖSTERREICH
UNGARN
SCHWEIZ
Die Gegend rund um L’Aquila wurde
seit Anfang Januar immer wieder von kleineren Beben erschüttert. Dennoch war es
nicht möglich, das verheerende Beben von
Sonntagnacht vorherzusagen. Der Grund:
«In der Regel klingen solche Bebenserien
wieder ab, ohne dass etwas passiert», sagt
der Seismologe Florian Haslinger vom
Schweizerischen Erdbebendienst.
SLOWENIEN
ITALIEN
KROATIEN
Mailand
Venedig
BOSNIEN
HERZEGOWINA
Genua
Italien liegt an der Nahtstelle zwischen der
afrikanischen und der eurasischen Platte.
Unvorstellbare Kräfte prallen da aufeinander und lassen die Erde erzittern. Immer
wieder kommt es in Italien deshalb zu verheerenden Erdbeben. Das letzte ereignete
sich in der Nacht auf Montag nahe der
Stadt L’Aquila im Apennin.
Das Beben mit einer Stärke von 5,8 passierte kurz nach halb vier Uhr in einer
Tiefe von lediglich zehn Kilometern. Es sei
die Folge eines für die Gegend normalen
Faltungsprozesses, meldete der amerikanische Erdbebendienst USGS.
Rund um L’Aquila liegen viele aktive
Störungszonen (siehe Grafik). Entlang dieser Verwerfungen kann es im Fall eines
Bebens zu Bodenverschiebungen von wenigen Zentimetern bis einigen Metern
kommen. Dennoch leben immer mehr
Menschen dort. Erst kürzlich meldeten
Forscher der italienischen Umweltschutzbehörde Ispra, dass die langsam ausufernden Vororte von L’Aquila inzwischen über
dem Hauptbruch nördlich der Stadt liegen
würden. Insgesamt 2,7 Prozent der Neubauten in städtischen Gebieten wurden in
Italien zwischen 1990 und 2000 innerhalb
seismischer Störungszonen errichtet.
Radonmessungen bringen nichts
Auch Radonmessungen würden nicht
weiterhelfen, meint Haslinger. Gemäss
Medienberichten hätte ein italienischer
Seismologe bereits vor einem Monat ein
grösseres Beben angekündigt. Er hätte
seine Vorhersagen aufgrund von Radonemissionen gemacht. Zwar sei es richtig,
so Haslinger, dass während und auch noch
nach einem Erdbeben das radioaktive
Edelgas Radon verstärkt aus dem Erdinnern austreten würde. Eine genaue Vorhersage liesse dieses Phänomen aber nicht
zu. «Wissenschaftlich ist diese Methode
nicht akzeptiert», sagt der Zürcher Forscher.
Noch ist es nicht möglich, die Bevölkerung vor einem Erdbeben zu warnen. Die
Zusammenhänge zwischen dem, was die
Wissenschaftler auf der Erdoberfläche
messen und den Vorgängen im Untergrund sind noch zu wenig verstanden. Es
bleiben deshalb nur Risikokarten, die eine
allgemeine Gefährdung zeigen (siehe Grafik). Haslinger hat aber die Hoffnung noch
nicht aufgegeben: «Mit noch mehr Daten
sollten wir dereinst die Zusammenhänge
erkennen können.»
Adriatisches
Meer
ABRUZZEN
Pescara
L'Aquila
Rom
Neapel
SARDINIEN
Tyrrhenisches Meer
Innerhalb der nächsten 50 Jahre mit
10-prozentiger Wahrscheinlickeit erwartete
Bodenbeschleunigung (m/s2):
ca. 2,4 bis 3,0
Palermo
ca. 1,6 bis 2,4
ca. 0,8 bis 1,6
Epizentrum
aktive Störungszone
SIZILIEN
100 km
TA-Grafik str / INGV, USGS
zerstört, mehr als 50 000 Menschen sind
obdachlos. Der Chef des Zivilschutzes,
Guido Bertolaso, der den Einsatz koordiniert, ist vor Ort, mittags fliegen auch Innenminister Roberto Maroni und Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein. Schon
am Morgen liess der Regierungschef den
nationalen Notstand verhängen, am Nachmittag gibt er eine Pressekonferenz.
Die meisten Gassen in der Altstadt von
L’Aquila sind unpassierbar. Mancherorts
türmt sich der Schutt bis in den ersten
Stock hinauf. Das Leben ist zum Stillstand
gekommen. Geschäfte und Bars sind geschlossen, das gesamte Zentrum ist für
den Verkehr gesperrt. Auf den Strassen
laufen Menschen in Gruppen, viele haben
auch am Mittag noch Koffer dabei mit ein
paar Habseligkeiten, die sie retten konnten. Man stützt sich gegenseitig, telefoniert mit seinen Lieben. Es sind Bilder wie
aus einem Kriegsgebiet.
Nachbeben erschüttern die Stadt
«Ich gehe wieder nach Hause, aufs Land
zu meinen Eltern», sagt Carmelo, ein Student der Ingenieurswissenschaften. Auch
er hat die ganze Nacht auf der Strasse verbracht. Kaum war er aufgewacht, fielen die
ersten Trümmer von der Decke in seinem
Zimmer in einer Wohngemeinschaft. «Ich
hatte nur noch einen Gedanken: weg, nach
draussen», sagt er. Noch jetzt, viele Stunden später, zittert er. Sein Onkel legt tröstend einen Arm um ihn. Um die Ecke steht
die Tür einer Apotheke offen, die Medikamente drinnen sind mit einer dicken
Staubschicht bedeckt. «Wir versuchen zu
helfen, wo wir können», sagt Manuela Pulcini, die gemeinsam mit ihrem Vater die
Apotheke führt und seit dem frühen Morgen auf den Beinen ist, um bedürftigen und
traumatisierten Anwohnern zu helfen.
Ihre Familie, dafür ist sie zutiefst dankbar,
ist in Sicherheit, draussen auf dem Land.
Schon in den letzten Tagen waren immer
wieder Erdstösse zu spüren, sagt sie, und
so erzählen es viele in L’Aquila.
Gab es keine Warnungen? «Doch, aber
was soll man denn machen?», fragt der
Student Carmelo. Alarmzeichen gab es offenbar schon seit Monaten, und sie wurden vom Zivilschutz wohl auch ernst genommen. «Aufgrund der wissenschaftlichen Daten war es nicht möglich, ein Beben solcher Stärke vorherzusehen», wird
dessen Chef Bertolaso später sagen. Da
fordern die Ersten bereits seinen Kopf. Die
meisten Bewohner der Stadt wurden von
dem Beben im Schlaf überrascht.
So wie auch die uralten Frauen, die in
Rollstühlen auf der Piazza del Duomo sitzen. Seitdem sie aus einem nahen Altersheim evakuiert worden sind, harren sie auf
dem grossen Platz vor der Kathedrale aus.
Neben zerstörten Palästen und Kirchen
sitzen sie in der Sonne, versorgt von Mitarbeitern des Roten Kreuzes. Still verfolgen sie das Geschehen. Das Alter hat wohl
einen gnädigen Schleier über vieles gelegt,
lässt sie nicht mehr alles so ganz genau
wahrnehmen. Auch die Nachbeben nicht,
welche die Stadt erschüttern.
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