Alltag+Wiss+Geogr

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Alltag, Wissenschaft und Geographie
Zur Konzeption einer reflexiven Sozialgeographie
Roland Lippuner
Ein Gemeinplatz der aktuellen Humangeographie besagt, dass diese mit Geographien (im Plural) zu tun hat. Die Geographien, um die es der Humangeographie
heute hauptsächlich geht, sind nichts, »was schon als Gegenstand oder Struktur in
der physisch-materiellen Welt herumstünde« (Hard 1999, 131). Sie werden von sozialen Akteuren mit unterschiedlichen Absichten und ungleichen Vermögensgraden hergestellt. Geographien werden auf vielfältige Weise ›gemacht‹, als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folge des täglichen Handelns (re-)produziert, in und
durch Kommunikation erzeugt, aufrecht erhalten und verändert. Im Blickpunkt
humangeographischer Betrachtung steht also nicht die vermeintlich objektiv gegebene Anordnung der Dinge auf der Erdoberfläche, sondern die Produktion von
kontingenten Ordnungen und (Welt)Ordnungsbeschreibungen.
Welches Problem tritt nun bei der wissenschaftlichen Beobachtung dieses
Geographie-Machens auf? Kann man dieses »alltägliche Geographie-Machen«
(Werlen 1997) nicht mit geeigneten Methoden der Sozialwissenschaften beobachten und beschreiben? Schließlich beobachten und beschreiben doch Soziologinnen
und Soziologen schon seit Generationen gesellschaftliche Prozesse. Auch verfügen
sie über ein beeindruckendes Arsenal von Methoden und Techniken, derer man
sich bedienen könnte. Nun, ganz so einfach ist es nicht – in der Soziologie ebenso
wenig wie in der Sozialgeographie oder anderen Sozialwissenschaften.
Bei der Beobachtung von Geographien der Praxis fallen Probleme an, die den
Unterschied von Wissenschaft und Alltag betreffen. Denn der wissenschaftliche
Beobachter steht seinem Forschungsgegenstand, dem Alltag, nicht als passiver Rezipient gegenüber. Der Standpunkt und die Einstellung seiner wissenschaftlichen
Perspektive bestimmen nicht nur, welche Aspekte der Alltagspraxis in seinem Fokus liegen. Sie legen auch fest, was überhaupt als Praxis beobachtet wird.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es möglich ist, bei der Beobachtung von alltäglichem Geographie-Machen einen reflexiven Umgang mit
dem Verhältnis von Wissenschaft und Alltag zu finden. Konkret: Welche sozialwissenschaftliche Theorie erlaubt es, auch die Bedingungen der eigenen Beobachtung zu reflektieren, ohne dabei den Gegenstand aus den Augen zu verlieren? An
welchen Theorien könnte sich eine wissenschaftliche Beobachtung geographischer
Praktiken orientieren, der es darum geht, auch die Konstruktionsleistungen explizit
zu machen, die ihre wissenschaftliche Sicht vollbringt?
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In diesen Fragen klingt an, dass es im folgenden nicht um einen empirischen
Gegenstand, sondern um eine theoretische Auseinandersetzung gehen wird. Ihr
Ziel besteht darin, Bedingungen der Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Forschung sichtbar zu machen. Das ist nicht etwa einer zweckfreien Vorliebe für
Theorie geschuldet, sondern vielmehr der Auffassung, dass diese Bedingungen die
wissenschaftliche Forschung – auch oder gerade die empirische – umso mehr beeinflussen, wenn sie unsichtbar bleiben.
Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen sollen zuerst in groben Zügen
Gegenstand, Perspektive und Erklärungsweise einer kulturtheoretischen Sozialgeographie dargestellt und die spezielle Problemlage in Bezug auf das Verhältnis von
Wissenschaft und Alltag präzisiert werden. In einem zweiten Schritt ist zu zeigen,
wie sich aktuelle Ansätzen der Sozialgeographie in Bezug auf dieses Problem verhalten. Dabei beziehe ich mich auf zwei anerkanntermaßen innovative Theoriestränge der deutschsprachigen Sozialgeographie: auf den handlungstheoretischen
Ansatz der »Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen« (Werlen 1995 u.
1997) und auf die systemtheoretische Konzeption von »Raum als Element sozialer
Kommunikation« (Klüter 1986 u. 1987) bzw. auf deren Rezeption durch Hard
(1986 u. 1999). Es wird sich zeigen, dass in beiden Theorierichtungen eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Alltag
umgangen wird. Im dritten und letzten Teil geht es darum zu untersuchen, welche
Handhabung dieses Problems in einer Theorie der Praxis denkbar ist. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seinem Werk einen Entwurf vorgelegt,
der, so die These, bei konsequenter Anwendung seiner Prämissen einen Ausgangspunkt für eine theoretisch-praktische Forschungsarbeit bietet, die auch die Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit mitreflektiert.
Humangeographie als kulturtheoretische Sozialwissenschaft
Mindestens seit Bobek und Hartke ist die Sozialgeographie thematisch auf das
Verhältnis von Gesellschaft und Raum ausgerichtet. Vor allem Bobek hat versucht
zu zeigen, dass gesellschaftliche Gruppen ein anthropogenes Kräftefeld bilden, welches für die Struktur und die Physiognomie einer Landschaft mitverantwortlich ist.
Das Erkenntnisinteresse dieser Sozialgeographie galt aber zweifelsfrei der Landschaft. Dementsprechend entfaltete sie sich als Raumbetrachtung, die gesellschaftliche Verhältnisse in ihre Untersuchung mit einbezog, soweit hieraus Einflüsse auf
das Landschaftsbild nachweisbar waren.
In den aktuellen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Geographie wird das Verhältnis von Gesellschaft und Raum anders konzeptualisiert. Diese Ansätze gehen
davon aus, dass Räume nicht einfach (da) sind, sondern im und durch den Alltag
gemacht werden. Sie teilen damit die konstruktivistische Prämisse der kulturtheoretischen Sozialwissenschaft, die besagt, dass die soziale Welt das Produkt von kul-
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turellen und symbolischen Praktiken ist. Kulturtheoretische Sozialwissenschaften
haben es, wie es Giddens für die Soziologie formuliert, »mit einer vor-interpretierten Welt zu tun, in der die Bedeutungsrahmen, die von aktiven Subjekten
entwickelt werden, tatsächlich in die reale Konstitution oder Produktion jener
Welt Eingang finden« (Giddens 1984, 179).
Dies erfordert auf der Seite der Sozialwissenschaften eine Methodik der Sinndeutung und einen verstehenden Zugang zu alltäglichen Praktiken. Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung ist es, diese Praktiken nach den Verfahrensregeln
ihrer Theorien zu untersuchen und die Bedeutungsrahmen zu durchdringen, mit
denen gesellschaftlich Handelnde die Welt für sich und für andere verstehbar machen.
Damit wird deutlich, dass der Alltag, in Form kultureller Alltagspraktiken der
eigentliche Forschungsgegenstand einer Sozialgeographie ist, die sich der kulturtheoretischen Ausrichtung zuordnet. Dieser Gegenstand wird heute von unterschiedlichsten Standpunkten aus erforscht. Ergebnis davon ist eine Vielzahl von sozialgeographischen Studien, in denen die soziale Konstruktion von (symbolischen
oder signifikativen) Geographien »vom Klassenzimmer bis zu Kanzleramt« (Lossau
2002, 131) beobachtet und beschrieben wird.
Ein spezielles Problem wird in diesen Ansätze jedoch oft übersehen. Streng
genommen schlägt die Auffassung, dass die soziale Welt das Produkt von kulturellen Praktiken ist, auf die Sozialwissenschaften zurück. Streng genommen sind auch
wissenschaftliche Beschreibungen kulturelle Praktiken. Dadurch geraten auch die
wissenschaftlichen Beschreibungen in Bewegung. Denn die Sozialwissenschaften
müssen einsehen, dass sie die Gegenstände, die sie beschreiben, perspektivisch
konstruieren. Sie unterliegen letztlich »dem gleichen Verdikt der selbsttragenden
Konstruktion« (Nassehi 1999, 359) wie ihre Gegenstände. Unter diesen Vorgaben
wird dass Verhältnis von Wissenschaft und Alltag zu einem fundamentalen Problem für jene Wissenschaften, die sich mit dem Alltag befassen. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler müssen sich fragen, welchen Anteil sie selber an der Formierung der Verhältnisse haben, die sie beobachten und beschreiben wollen.
Alltägliches Geographie-Machen
In der »Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen« (Werlen 1995 u. 1997)
werden Wissenschaft und Alltag als zwei unterschiedliche, je besondere Wissensund Handlungstypen begriffen. Charakteristisch für den alltäglichen Wissens- und
Handlungstyp ist eine weitgehende Ausschaltung des Zweifels, dass die Welt und
ihre Gegenstände anders sein könnten, als sie erscheinen (Werlen 1999). Das Alltagswissen impliziert demnach einen »naiven Realismus« (Werlen 2001), der das
routinemäßige Alltagshandeln stützt. Wissenschaftliches Wissen hingegen zeichnet
sich durch eine Systematisierung des Zweifels aus. Dabei werden Gegenstände des
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Alltagswissens und der Alltagserfahrung durch wissenschaftliche Konstruktionen
ersetzt. Nach einer Formel des französischen Wissenschaftstheoretikers Gaston Bachelard (1987) gewinnt die Wissenschaft ihre Erkenntnis deshalb gegen die alltägliche Erkenntnis, nicht mit ihr.
Diese wissenschaftliche Haltung ist aber nicht nur eine Voraussetzung für wissenschaftliche Beobachtung. Auch der Alltag selbst wird erst durch die Abgrenzung
von der Wissenschaft konstituiert. Zum Alltag zählen dann im Prinzip alle nichtwissenschaftlichen Tätigkeiten. Wissenschaft und Alltag stehen also in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Der Alltag ist nicht einfach ein empirisches Geschehen ›da draußen‹. Er wird von den Wissenschaften, die sich mit dem Alltag
beschäftigen, erst (und immer wieder neu) hervorgebracht.
Diese Konstellation ist in der Regel von der Theorie abgesichert und wird
deshalb in der Forschungspraxis kaum reflektiert. Wenn man beispielsweise Passanten über ihr Einkaufsverhalten befragt, gehen alle Beteiligten von dichotomen
Verhältnissen aus. Diese Dichotomie scheint keiner weiteren Auseinandersetzung
wert. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen Fragen, die ›Alltagsmenschen‹ beantworten sie. Die Antworten werden dann als Nachrichten aus der
Alltagwelt und als Ausdruck der ›natürlichen‹ Haltung des Alltags interpretiert. Genau besehen, fordert man durch das wissenschaftliche Frage die Befragten jedoch
auf, ihre Alltagshaltung kurz zu verlassen und einen sozialwissenschaftlichen Blick
auf ihr Tun zu werfen. Wie weit kann man dann die Antworten noch als Ausdruck der alltäglichen Einstellung auslegen? Und wie sind beispielsweise Antworten auf Fragen zu bewerten, die sich die Alltagsmenschen selbst gar nicht stellen
würden? Diese und ähnliche Problemen resultieren aus dem Versäumnis zu fragen,
was die wissenschaftlichen Beschreibungen der Tatsache schulden, dass sie sich
vom Alltag und vom Alltagswissen distanzieren.
Raum als Element sozialer Kommunikation
Helmut Klüter hat unter Bezugnahme auf die soziologische Systemtheorie von
Luhmann, einen Ansatz vorgeschlagen, bei dem nicht handelnde Subjekt im Vordergrund stehen, sondern soziale Systeme (Organisationen) und deren Kommunikationsmedien. Sein Ansatz zielt auf die Funktion von Raumsemantiken in sozialer
Kommunikation, das heißt: auf die räumliche Codierung sozialer Sachverhalte.
Laut Klüter (1986 u. 1987) können komplexe technische, soziale oder ökonomische Informationen durch räumliche Codierung in ihrer Komplexität reduziert
werden. Was damit gemeint ist, erkennt man leicht am Beispiel: Im Umgang mit
sozio-kulturellen Differenzen zwischen Individuen wird bekanntlich vieles einfacher und übersichtlicher, wenn man Interaktionspartner räumlich verorten kann –
wenn man beispielsweise weiß, dass man es mit einem Ostdeutschen, einer Westdeutschen oder einem Ausländer zu tun hat.
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Ein Hauptmerkmal räumlicher Codierung ist die semantische Verschmelzung
des physisch-materiellen Raums mit dem Sozialen. Immaterielle, nicht-räumliche
Sachverhalte treten dann als materielle auf, werden räumlich verankert und gewinnen derartige Plausibilität, dass Kontingenz (das Auch-anders-möglich-sein) ausgeschlossen wird. Sozial-kulturelle Zuschreibungen werden dadurch gewissermaßen
unhintergehbar. Sie sind dann nicht mehr das Produkte des Handelns oder der
Einstellung, sondern liegen scheinbar ›in der Natur der Sache‹. Unter Bezugnahme
auf Klüter und Luhmann weist Hard darauf hin, »dass man vieles schon dadurch
überzeugend und manipulierbar identifizieren kann, indem man es verortet – also
ohne dann noch weiter über die Sache selber kommunizieren zu müssen (…).
Zum Beispiel: Wenn Sach- und Sozialinformation unterdrückt werden sollen,
kann mittels ›räumlicher Information‹ (…) der Eindruck erweckt werden, alles
Wesentliche sei damit schon gesagt und alles Weitere zumindest praktisch
überflüssig. Dergleichen kann man ja auch bei vielen politischen Problemlösungsstrategien (z.B. ‚ethnischen Flurbereinigungen’) beobachten« (Hard 1999,
158).
Eine Demystifizierung dieser Verräumlichung des Sozialen (oder Kulturellen)
setzt voraus, dass man über eine Trennung von Physischem und Sozialem, von
Gegenstand und Bedeutung verfügt. Die Verfügbarkeit dieser Unterscheidung ist
laut Hard ein Merkmal (guter) sozialwissenschaftlicher oder sozialgeographischer
Beobachtung und Beschreibung, ihre semantische Verschmelzung hingegen ein
Merkmal der Alltagssprache: »soziale Phänomene erscheinen hier auch als physischmaterielle Gegenstände (und umgekehrt). (…) In der Umgangssprache sind diese
Phänomene (…) semantisch (und in der Alltagsontologie auch ontologisch) miteinander verklebt« (ebd. 147). In der Wissenschaft und in der Wissenschaftssprache
tue sich hingegen eine Kluft auf, »die mit sozialwissenschaftlichen Mitteln kaum
mehr überbrückbar« (ebd., 139) sei: die Kluft zwischen sozialer oder kultureller
und materieller Welt. Zwar werde diese Kluft auch in den Sozialwissenschaften
zuweilen durch eine »mentale Regression in Richtung Alltagssprache« (ebd., 147)
unsichtbar gemacht, also dadurch, dass man in wissenschaftlichen Beschreibungen
auf die Alltagssprache mit ihren semantischen Verschmelzungen von Sozialem oder
Kulturellem und Physisch-Materiellem zurückgreift. Das geschieht laut Hard aber
auf Kosten der sozialwissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung, welche dadurch ihre Wissenschaftlichkeit einbüßt. Außerhalb ihrer alltagssprachlichen Verwendung, z. B. im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch entpuppten sich semantische Verschmelzungen von Physischem und Sozialem »um common senseHypothesen, die allerdings forschungslogisch die Tendenz haben, sich zu unerschütterlichen Überzeugungen auszuwachsen: ein Prototyp des obstacle épistémologique (…)« (ebd., 147). In den »nennenswerten sozialwissenschaftlichen Theorien« (ebd., 140) hingegen sei »die soziale Welt keine physisch-materielle Welt«
(ebd.) und nennenswerte sozialwissenschaftliche Theorien handelten auch nicht
von materiellen Gegenständen.
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Auf diese Weise wird nicht nur die Zuständigkeit der Sozialwissenschaften in
Erinnerung gerufen, sondern letztlich auch die Notwendigkeit einer Reflexion des
Verhältnisses von Wissenschaft und Alltag ausgeblendet. Gemäß dieser Haltung
unterscheiden sich Sozialwissenschaft und sozialwissenschaftliche Sprache vom
Alltag und von der Alltagssprache unter anderem dadurch, dass sie Soziales und
Physisches voneinander zu trennen und auseinander zu halten wissen (während im
Alltag Soziales und Physisches sowohl semantisch als auch ontologisch miteinander
verschmelzen).
Weder die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, noch die systemtheoretische Konzeption von Raum als Element sozialer Kommunikation nimmt
also die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Alltag konsequent auf. Dementsprechend wird auch die Beobachtung der eigenen Beobachtung nicht zum Problem einer sozialgeographischen Theorie gemacht. Der abschließende Abschnitt soll zeigen, welche Handhabung dieses Problems in einer
sozialwissenschaftlichen Theorie der Praxis denkbar ist.
Theorie der Praxis
Im Zentrum von Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis (Bourdieu 1976 u.
1987) steht die Auffassung, dass soziale Praktiken von Wahrnehmungs-, Denk- und
Handlungsschemata geprägt sind, die die Akteure durch Erfahrung erworben und
verinnerlicht haben. Diese Verinnerlichung ist von der sozialen Position eines Akteurs und von seinem Lebenslauf abhängig. Bourdieu spricht daher von einem
»System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen« (Bourdieu 1996,
154). Er bezeichnet es als den Habitus der Akteure. Dieser Habitus ist die Erzeugungsgrundlage von vielfältigen Weltbildern und Praktiken. Er ist als solche aber
weder ein Steuerungsprinzip, welches die Akteure eindeutig determiniert, noch ist
er Ausdruck eines spontanen Willens oder bewusster Zielgerichtetheit.
Mit dem Konzept des Habitus versucht Bourdieu, mit zwei klassischen Einstellungen sozialwissenschaftlicher Forschung zu brechen: mit objektivistischen
Perspektiven einerseits und mit subjektivistischen Perspektiven andererseits. Das
Hauptproblem objektivistischer Perspektiven liegt laut Bourdieu (1987, 75) darin,
dass bei der Beschreibung objektiver Regelmäßigkeiten, ein heimlicher Übergang
vom Modell der Realität zur Realität des Modells stattfindet. Durch die objektivistische Beschreibung werden theoretische Begriffe, d. h. Konzepte wie Region,
Klasse, Gruppe, Lebensstil usw. unter der Hand in ›real existierende‹ Entitäten
verwandelt, die die sozialen Akteure in praxi determinieren.
Subtiler, aber nicht weniger folgenreich ist es, den beobachteten Subjekten
eine Haltung zu unterstellen, wie man sie selbst als wissenschaftlicher Beobachter in
Anschlag bringt. Genau darauf baut aber letztlich die Erklärungsweise sozialer Praxis in subjektzentrierter Perspektive auf. Subjektivistische Perspektiven gehen, ver-
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einfacht ausgedrückt, davon aus, dass Subjekte bewusst zielorientiert handeln und
dabei die Hintergrundzusammenhänge ihres Tuns deutend erschließen. Dabei wird
implizit unterstellt, soziale Praktiken würde auf ähnlichen Interpretationsverfahren
basieren, wie sie der wissenschaftliche Beobachter fortwährend durchführt. Laut
Bourdieu entspricht eine solches Vorgehen nicht der ›Logik der Praxis‹. Vielmehr
verfügen soziale Akteure über einen praktischen Sinn, über einen »Sinn für das soziale Spiel« (Bourdieu 1987, 122), der es ihnen gestattet ohne reflexive Distanz sinnvolle Praxisformen zu erzeugen. Soziale Akteure handeln meist nicht nach einem
subjektiven Kalkül, sie sind laut Bourdieu (2001, 72) »prädisponiert«, den Erfordernissen der Situation entsprechend zu handeln.
Im Kontext des hier diskutierten Problems, besteht der Hauptverdienst Bourdieus darin, dass er eine Gemeinsamkeit von Objektivismus und Subjektivismus
sichtbar macht. Denn die blinden Flecken objektivistischer und subjektivistischer
Perspektiven beruhen so gesehen auf dem gleichen »epistemologischen Fehler«
(Bourdieu 1998, 210). Er besteht in der Neigung, theoretische Konstrukte in die
(Alltags-)Praxis zu projizieren. Dadurch wird der Beobachtungsgegenstand nach
Maßgabe der Beobachtungskriterien strukturieret; und man droht zu vergessen,
dass die so beobachtete Welt das Produkt eines theoretischen Blicks ist. Wenn es
darum geht, diesen erkenntnistheoretischen Fehler zu vermeiden, dann kann aber
auch Bourdieus Theorie nicht restlos überzeugen. Im Gegenteil: Wenn man
Bourdieus Theorie direkt auf die Praxis anwendet und ohne weiteren Zwischenschritt empirisch umzusetzen versucht, läuft man Gefahr, denselben Fehler zu begehen. Diese Inkonsistenz ist zum Teil in der Theorie Bourdieus selber angelegt,
genauer gesagt im Konzept des Habitus.
Bourdieu führt diesen zentralen Begriff zunächst kontrafaktisch ein. Er kreiert
eine »theoretische Fiktion« (de Certeau 1997), die als Konstrukt auftritt und gar
nicht vorgibt, die Realität zu repräsentieren. Bourdieu nimmt auch keine genaue
Bestimmung des Habitusbegriffs vor, sondern zeigt, was subjektivistische und objektivistische Ansätze offensichtlich übersehen. Indem Bourdieu zunächst all diejenigen Tatsachen aufführt, die der Subjektivismus und der Objektivismus verkennen,
wird das Konzept eines Habitus am Ende jedoch selbst zu einer unumstößlichen
Tatsache. Da der Habitus stets in Opposition zu subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen konzeptualisiert wird, repräsentiert er schließlich die Realität. Er
zeigt mit der Kritik dieser Ansätze letztlich die wirkliche Logik der Praxis an.
Mit dieser diskursiven Strategie, diesem rhetorischen Trick, verschleiert Bourdieu aber den theoretischen Ursprung, die zunächst fiktive Konstruktion des Habitus und letztlich die theoretische Praxis, die ihn hervorbringt. Er verwandelt das
theoretische Konstrukt des Habitus unter der Hand in ein Element der beobachteten
Praxis und in die unumstößliche Wahrheit der Übereinstimmung von Dispositionen und Strukturen.
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Reflexive theoretische Praxis
Was heißt all dies nun in bezug auf die eingangs aufgeworfenen Fragen? Die konstruktivistische Einstellung kulturtheoretische Sozialgeographie, so wurde argumentiert, schlägt auf sich selbst zurück. Wird davon ausgegangen, dass die soziale
Welt das Produkt von kulturellen Praktiken ist, dann geraten auch die wissenschaftlichen Beschreibungen in Bewegung. Die Sozialwissenschaften müssen sich
fragen, welchen Anteil sie selbst an der Formierung ihres Gegenstandes, den alltäglichen Verhältnisse, haben. Diese Frage wird jedoch nur allzu oft übergangen – mit
dem Resultat, dass die Konstruktionsleistungen sozialwissenschaftlicher Beobachtung im Dunklen bleiben.
Vor dem Hintergrund dieses Defizits wurde nach einer Theorie gesucht, die
auch die Konstruktionsbedingungen der eigenen Sicht reflektiert. Die beiden vielleicht innovativsten Theorieentwürfe der deutschsprachigen Sozialgeographie umgehen eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Alltag und
Wissenschaft. Und auch der erfolgversprechende Ansatz, die Praxistheorie Pierre
Bourdieus, führt wie gesehen nicht unmittelbar zum Erfolg.
Allerdings, und dies unterscheidet die Theorie der Praxis von anderen Ansätzen, beherbergt sie das Instrumentarium für eine solche Auseinandersetzung in ihrem eigenen Vokabular. Die Theorie der Praxis enthält als zentrales Element eine
Theorie des Unterschieds von Theorie und Praxis. Das ermöglicht ihr, bei der
Objektivierung von Praxis auch »den Ort der Objektivierung, diesen nicht gesehenen Gesichtspunkt, diesen blinden Fleck einer jeden Theorie, nämlich das intellektuelle Feld und seine Interessenskonflikte (…) zur objektiven Darstellung«
(Bourdieu 1982, 798) zu bringen. Wenn man die Theorie der Praxis auf sich selbst
anwendet und ihr theoretisches Rüstzeug sozusagen gegen sie selbst kehrt, dann
ermöglicht sie es, bei der Beobachtung von Alltagspraktiken Aufmerksamkeit für
die eigene Beobachtung abzuzweigen. Das heißt unter anderem, dass wissenschaftliches Wissen, strenger als gemeinhin praktiziert, als vorläufiges Wissen betrachtet
und gekennzeichnet werden muss. Denn der hypothetische Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis beruht nicht bloß auf der Möglichkeit, dass ›die Wirklichkeit‹ einen Irrtum aufdeckt. Er beruht vor allem darauf, dass Kontingenz radikal in
die wissenschaftlichen Beschreibungen eindringt; dass alles auch anders möglich
wäre. Diese Kontingenz nicht zu verdrängen, d. h. der Versuchung zu widerstehen,
auf direktem Weg zur einfachen Beobachtung der Gegenstände und damit zur
empirischen Tagesordnung überzugehen, ist die eigentliche und die schwierige
Arbeit wissenschaftlicher Beobachtung. Es gilt, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit nicht allein dem Gegenstand, sondern verstärkt der Art und Weise zu widmen,
wie dieser Gegenstand beobachtet wird.
Bezogen auf die Geographie bedeutet das gerade nicht, dass man die Beobachtung von alltäglichem Geographie-Machen unterlässt. Im Gegenteil: das bedeutet, dass man diese Beobachtung auch und vor allem dazu nutzt, Einstellungen
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der sozialgeographisch-wissenschaftlichen Praxis sichtbar zu machen. Beides zusammenzuhalten, das ist das Hauptproblem einer kulturtheoretischen Sozialgeographie. Und genau dazu braucht man eine Theorie der Praxis.
Literatur
Bachelard, Gaston (1987): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu
einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Frankfurt a. M. [1938]
Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M.
Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft. Frankfurt a. M.
Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.
Bourdieu, Pierre (1996): Pierre Bourdieu und Loïc J. D. Wacquant. Die Ziele der
reflexiven Soziologie. Chicago-Seminar, Winter 1987. In: Pierre Bourdieu &
Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M., 95-249.
Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M.
Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft.
Frankfurt a. M.
Certeau, Michel de (1997): Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse. Wien.
Giddens, Anthony (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung.
Frankfurt a. M.
Hard, Gerhard (1986): Der Raum – einmal systemtheoretisch gesehen. In:
Geographica Helvetica 41, Nr. 2, 77-83.
Hard, Gerhard (1999): Raumfragen. In: Peter Meusburger (Hg.): Handlungszentrierte Sozialgeographie. Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion.
Stuttgart, 133-162.
Klüter, Helmut (1986): Raum als Element sozialer Kommunikation. Giessener
Geographische Schriften, Heft 60, Giessen.
Klüter, Helmut (1987): Räumliche Orientierung als sozialgeographischer Grundbegriff. In: Geographische Zeitschrift 75, Nr. 2, 86-98.
Lossau, Julia (2002): Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer
ANDEREN Geographie der Welt. Bielefeld.
Nassehi, Armin (1999): Die Paradoxie der Sichtbarkeit. Für eine epistemologische
Verunsicherung der (Kultur-)Soziologie. In: Soziale Welt 50, 349-362.
Werlen, Benno (1995): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 1:
Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. Stuttgart.
Werlen, Benno (1997): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 2:
Globalisierung, Region und Regionalisierung. Stuttgart.
Quelle: http://www.uni-jena.de/Roland_Lippuner.html
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Alltag, Wissenschaft und Geographie
Werlen, Benno (1999): Handlungszentrierte Sozialgeographie. Replik auf die Kritiken. In: Peter Meusburger (Hg.): Handlungszentrierte Sozialgeographie.
Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion. Stuttgart, 247-268.
Werlen, Benno (2001): Stichwort: ›Alltag‹. In: Lexikon der Geographie, Band 1,
Berlin, 39.
Dieser Text ist die überarbeitete Version eines Vortrags vor der ChemischGeowissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schillder-Universtität Jena am
12.02.2003.
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