Elementare Teilchen Vom antiken Atomismus zu den Atomen der

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Elementare Teilchen
Vom antiken Atomismus zu den Atomen der Physiker
Rudolf Klein
Berlingen, 10.9.2014
Ist die Materie diskret oder kontinuierlich?
Die Natur ist von einer überwältigenden Vielfalt. Die Biosphäre besteht aus einer riesigen
Zahl unterschiedlicher Exemplare an Tieren und Pflanzen, die durch ständiges Werden und
Vergehen gekennzeichnet sind. In der unbelebten Natur finden sich viele verschiedene Materialien, und der Kosmos scheint durch die stete Wiederkehr der Erscheinungen am Himmel
ewig zu sein. So jedenfalls muss die Wahrnehmung der Menschen gewesen sein, die in grauer
Vorzeit begannen, diese Vielfalt zu realisieren.
Belegt sind Überlegungen griechischer Philosophen zu dieser Problematik, beginnend in der
Zeit vor fast 2500 Jahren. Eine der Grundfragen war: Kann alles Materielle beliebig in Teile
zerlegt werden? Kann ein beliebig kleiner Teil, z.B. eines Steins, nochmals geteilt werden?
Dann wäre die Materie kontinuierlich. Oder hört dieser Prozess des immer weiter Teilens irgendwann auf? Wenn das zutrifft, besteht die Materie aus kleinsten, nicht weiter teilbaren,
elementaren Korpuskeln; sie wäre diskret. Das griechische Wort für nicht-teilbar lautet atomos, woraus unsere Bezeichnung Atom entstand. Diese zweite Sicht der Dinge, wonach
alles Materielle aus kleinsten, nicht weiter teilbaren Atomen besteht, wird als antiker Atomismus bezeichnet.
In der Antike existierten zwei konkurrierende Schulen der Naturphilosophie. Der Atomismus
wurde von Leukipp und seinem Schüler Demokrit (460-400 v.Chr.) begründet. Das Gegenteil,
die Lehre von der kontinuierlichen Materie, wurde insbesondere von Aristoteles vertreten. Er
war Anhänger der Lehre von den vier Elementen, wonach alle Materie aus unterschiedlichen
Gemischen der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht. Die beiden ersten sind
schwer. Damit war gemeint, dass sie in sich die Tendenz tragen, dem Zentrum der Erde, in
dem man sich das Zentrum des Kosmos dachte, zuzustreben. Die beiden anderen, Luft und
Feuer, dagegen sind leicht, d.h. sie besitzen die entgegengesetzte Tendenz, sie streben weg
vom Zentrum des Kosmos. Nach dieser Hypothese ist ein Stein schwerer als ein gleich großes
Stück Holz, weil der Stein fast ausschließlich aus dem schweren Element Erde besteht, während sich im Holz ein größerer Anteil der leichten Elemente befindet. Ein anderer wichtiger
Aspekt der Lehre des Aristoteles ist, dass der ganze Raum erfüllt ist, zumindest mit den leichten Elementen; ein Vakuum, ein Teil des Raums, in dem sich nichts befindet, gibt es nicht.
Das Nicht-Seiende, und das wäre ein Vakuum, wurde von Platon und Aristoteles abgelehnt.
Bis in die frühe Neuzeit sprachen die Gelehrten vom horror vacui, der Abscheu der Natur vor
der Leere.
1 Ganz anders dagegen vertritt der Atomismus die Auffassung, dass es nur Atome gibt, die sich
durch den ansonsten leeren Raum bewegen. Es gehört zu den faszinierenden Merkmalen der
antiken Naturphilosophien, dass sie ganzheitliche Lehren sind, die Naturlehre, also Physik,
mit Erkenntnislehre und Ethik, also der Verhaltenslehre, verbinden. Würde sich die Philosophie des Demokrit allein auf seine Hypothese von der Existenz der Atome reduzieren, so wäre
das im Kontext der Wissenschaftsgeschichte zwar eine erwähnenswerte Tatsache, die allerdings nicht auf experimentellen Beweisen basierte. Erst die ganzheitliche Theorie, die mit
dem Atomismus verbunden ist, macht sie unter allgemeiner kulturhistorischer Betrachtung so
interessant und macht es verständlich, weshalb es mindestens bis zur Zeit der Renaissance
dauerte, um diese antiken Vorstellungen wieder in das Bewusstsein der Gelehrten zurück zu
bringen. Es ist daher angebracht, auf diese Aspekte etwas einzugehen.
Antiker Atomismus
Demokrit lebte im fünften vorchristlichen Jahrhundert und sein bedeutendster Nachfolger
Epikur (341 – 270 v. Chr.) knapp 150 Jahre später. Von ihren Schriften sind nur Fragmente
erhalten; sie werden jedoch von späteren Philosophen zitiert und kommentiert, wodurch Aspekte ihrer Lehren indirekt überliefert sind. Die umfassendste Darstellung des antiken Atomismus stammt von Epikurs wohl wichtigstem antiken Anhänger, dem römischen Dichter
und Philosophen Lukrez (ca. 95 – ca. 55 v. Chr.), der im ersten vorchristlichen Jahrhundert
lebte. Auch dessen grandioses Lehrgedicht, das aus ca. 7800 Versen besteht, war verschollen
und wurde erst von einem Teilnehmer am Konstanzer Konzil nach 1500 Jahren wieder entdeckt. Doch zu dieser speziellen Geschichte später.
Epikur entwickelte die auf Demokrit zurückgehenden atomistischen Vorstellungen zu einem
philosophischen Gesamtbild, das seit seinen Anfängen zwischen Anhängern und Gegnern
polarisierend wirkte. Das sollte über viele Jahrhunderte so bleiben. Er war ein Zeitgenosse
Alexander des Großen und erlebte die Niederlage Athens gegen die Eroberung durch die Makedonier. Als Athen wieder zur Demokratie zurückkehren konnte, gründete Epikur dort eine
Schule, die bis in die Zeit des 2. Jh. n. Chr. fortbestand und z.B. durch den gelehrten Kaiser
Marc Aurel gefördert wurde. Es war die Schule des Epikureismus. Am Eingang zu dem Versammlungsort der Epikureer wurde der Gast mit der Inschrift begrüßt: „Tritt ein, Fremder!
Ein freundlicher Gastgeber wartet dir auf mit Brot und mit Wasser im Überfluss, denn hier
werden deine Begierden nicht gereizt, sondern gestillt.“ Das klingt nach einer ganz auf das
diesseitige Leben konzentrierten Philosophie, und genau das ist es, was rund 250 Jahre später
Lukrez beschreibt.
Zu einem umfassenden Bild von der Welt hat wohl Epikur die Hypothesen Demokrits entwickelt, und einige der wichtigsten Lehrsätze der epikureischen Schule sind die folgenden:
Jegliche Materie (belebt oder unbelebt) besteht aus unsichtbaren, nicht-teilbaren Teilchen
(Atome).
Die Atome sind ewig, aber jedes Objekt im Universum ist vergänglich. Alles Beobachtbare ist
nur flüchtig: Atome eines bereits vergangenen Objekts mischen sich neu. Daher gibt es keine
Schöpfung und keine endgültige Zerstörung. Dazu heißt es bei Lukrez: „Und so können die
zerstörenden Kräfte niemals den endgültigen Sieg erringen, nie das Seiende auf immer ver2 nichten; noch können die Bewegungen, die Leben erzeugen und Wachstum, die geschaffenen
Dinge auf ewig erhalten. Es waltet Krieg seit Anbeginn der Zeiten, ein stets unentschiedener
Kampf zwischen den Elementen, bald hier, bald da sind die lebensspenden Kräfte im Vorteil,
bald hier, bald da unterliegen sie auch, und Totenklage mischt sich in den Schrei der Neugeborenen, die eben erst das Licht der Welt erblicken; niemals folgt die Nacht dem Tag, und
keine Morgendämmerung der Nacht, ohne dass sie nicht Kindergeschrei vernähmen, das vermischt ist mit dem Jammer, der schrill tönend Tod und schwarzes Begräbnis begleitet“.
Es gibt im unendlich grossen Kosmos unendlich viele Atome. Aber es existieren nur endlich
viele Atomarten, die sich in Größe und Gestalt unterscheiden. Die Atome bewegen sich in
einer unendlichen Leere (Vakuum).
Es wird nicht behauptet, die Gesetze der Materie zu kennen; die Atomisten sind jedoch überzeugt, dass es solche Gesetze gibt und dass sie von Menschen aufgespürt werden können. Das
erinnert stark an Galileis „Buch von der Natur“. Aber Galilei geht davon aus, dass Gott das
Buch von der Natur so wie auch das Buch von der Offenbarung diktiert habe. Galilei argumentiert, dass Gott den Menschen mit einem Intellekt ausgestattet habe, der es ihm ermögliche, die Gesetze der Natur zu erkennen. Das ist bei den antiken Atomisten anders, sie bemühen nicht die Götter.
Die Atome sind nicht geschaffen. Was als Ordnung oder Unordnung wahrgenommen wird,
folgt keinem göttlichen Plan. Bei Lukrez heißt es dazu: „Doch weil unzählige Atome seit
ewigen Zeiten von Stößen durchs Universum hin und her geschleudert werden, sich dabei auf
zahllose Weisen verändern, haben sie jede Art der Bewegung und Verbindung erprobt, sind so
wohl auch in jenen Gestaltungen gekommen, deren unser Universum zu seiner Entstehung
bedurfte.“ Damit hat das Sein weder Ziel noch Zweck; Werden und Vergehen werden allein
durch den Zufall bestimmt.
Die sich chaotisch durch die Leere bewegenden Atome stoßen aufeinander und können sich
dabei verbinden, müssen es aber nicht. Dadurch entstehen die sichtbaren Objekte, die aber
auch wieder vergehen: Die Natur experimentiert ständig. Es gibt keinen großen Plan; vielmehr „schafft sich das Geschaffene seine Funktion erst selbst“. Augen und Zunge wurden
nicht geschaffen, um zu sehen und zu schmecken, sondern in dem sie sich bildeten, ermöglichten sie den Geschöpfen zu überleben und ihre Art zu erhalten. Das sind Gedanken, die
stark an Darwins Evolutionstheorie erinnern.
Menschen sind nicht einzigartig; ihre Art kann auch wieder aussterben. Damit haben sie keinen privilegierten Platz. Auch die Seele ist sterblich; auch sie besteht aus Atomen, die nach
dem Tod ihren Verband untereinander lösen. Daher gibt kein Leben nach dem Tod; das irdische Leben ist alles, was Menschen haben.
Der Glaube an Götter entsteht durch Ängste vor einer ungewissen Zukunft und dem Wunsch
nach vollkommener Sicherheit.
Als Konsequenz aus dieser Weltsicht folgen als höchstes Ziel menschlichen Lebens die Steigerung des Genusses und die Verringerung des Leidens. Das Streben nach Glück für sich
3 selbst und die Mitmenschen ist der höchste ethische Zweck des Lebens. Der Dienst am Staat
und das Lob der Götter und weltlichen Herrscher sind sekundär.
Damit sind einige der wichtigsten Aussagen der epikureischen Lehre genannt. Sie stellen eine
strenge materialistische Auffassung der Welt dar; neben Atomen und Leere ist für nichts anderes Platz. Es ist klar, dass dieses Bild der Welt auf heftige Ablehnung bei all denen traf, die
an Vorsehung und die Macht von Göttern glaubten. Deshalb wurde Lukrez schon in der Zeit
vor der Zeitenwende kritisiert, und nach dem Entstehen des Christentums wurden die atomistischen Lehren heftig bekämpft. Die Gründe sind offensichtlich: Es gibt kein Leben nach dem
Tod, und daher ist die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts sinnlos. Noch zu Galileis Zeiten,
also in der ersten Hälfte des 17. Jh. gab es Auseinandersetzungen über die Verwandlung von
Brot und Wein in Leib und Blut Christi. Dieses Dogma der römisch-katholischen Theologie
ist mit der aristotelischen Unterscheidung von Akzidenz, d.h. den Eigenschaften, und Substanz der Materie verträglich. Für den Menschen mit seinen Sinnen wahrnehmbar sind nur die
Akzidenzien, also Geschmack und Geruch des Brotes, nicht aber die Substanz. Diese mit der
aristotelischen Physik vereinbare Interpretation der Wandlung von Brot und Wein war beim
Glauben an den Atomismus nicht aufrecht zu halten.
Dieser Streit zwischen Theologen und Atomisten fand erst im 16.Jh. statt, nachdem die Lehre
Epikurs breiteren Kreisen bekannt geworden war. Dazu trug die Entdeckung des Werks von
Lukrez wesentlich bei, und der Buchdruck verbreitete die gefundene Schrift. Von der Existenz des brillanten Lehrgedichts wusste man im ausgehenden Mittelalter nur durch Erwähnungen bei anderen römischen Schriftstellern und vor allem durch die Ablehnung des Atomismus durch die christlichen Kirchenväter. Um 1300 begann in Italien der Humanismus.
Einer der ersten war wohl Petrarca. Die Anhänger dieser Bewegung und Denkschule waren
glühende Verehrer des alten römischen Schrifttums, und so setzte eine regelrechte Jagd nach
solchen Texten ein. Die Suche erstreckte sich vor allem auf die Klosterbibliotheken, in denen
nicht nur christliche Bücher immer aufs Neue abgeschrieben wurden. Geschrieben wurde auf
Pergament, und das war rar und teuer. Aber Pergament hat keine unendliche Lebensdauer;
nicht nur der Zahn der Zeit, sondern auch die Zähne von Mäusen führten zur Zerstörung der
alten Pergament-Rollen und Codices. Deshalb wurden in klösterlichen Scriptorien einmal
vorhandene Schriften immer wieder abgeschrieben. Und so konnte ihr Inhalt die eineinhalb
Jahrtausende seit der Antike überliefert werden.
Poggio Bracciolini findet De rerum natura
Einer der bedeutendsten Humanisten, der einige der wichtigsten Werke der römischen Antike
wieder entdeckte, war Poggio Bracciolini (1380-1459). Er war Sekretär mehrerer Päpste und
kam mit seinem Dienstherren Papst Johannes XXIII im Jahr 1414 zum Konzil nach Konstanz.
Im Mai 1415 wurde dieser Papst abgesetzt, und Poggio wurde „arbeitslos“. In dieser Zeit zog
er, teils mit einem Humanisten-Kollegen, teils allein durch die Klöster der Umgebung, so z.B.
nach St. Gallen. Dort fand er 1416 eine Kopie des bedeutendsten Werks über antike Architektur von Vitruv. Dieser Fund war jedoch nicht besonders spektakulär, denn andere Kopien waren bereits bekannt. Dann unternahm er eine größere Reise nach Norden. Vermutlich im Kloster Fulda, vielleicht auch im Elsass, der exakte Ort ist nicht überliefert, fand er dann das Werk
De rerum natura (von der Natur der Dinge) des Lukrez. Die Geschichte Poggios, das Auffin4 den von De rerum natura und die Bedeutung dieses Werks für die Renaissance ist der Inhalt
des sehr lesenswerten Buches von Stephen Greenblatt mit dem deutschen Titel „Die Wende –
wie die Renaissance begann“. Der Originaltitel „The swerve – how the world became modern“ unterstreicht noch deutlicher den großen Einfluss von Lukrez und damit der Lehre des
Epikur für die Gelehrten der frühen Neuzeit. Der antike Atomismus, der trotz der großen Widerstände, die ihm das frühe Christentum entgegengesetzt hatte, wurde nun einer breiteren
Schicht zugänglich, und er beinhaltet Gedanken, die für die Entwicklung des Zeitalters der
wissenschaftlichen Revolution und letztlich auch der Aufklärung wichtig wurden. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigen Staaten von Amerika ist im Geiste der Aufklärung formuliert. Einer ihrer Mitverfasser war Präsident Thomas Jefferson, und in seiner Bibliothek
fand man mehrere Exemplare von De rerum natura.
Doch zurück zur Renaissance in Italien. Durch die Beschäftigung mit antiken Texten ist diese
Zeit in vieler Hinsicht durch neues Denken gekennzeichnet. In der Malerei z.B. entstanden
vorher nicht bekannte Sichtweisen auf Mensch und Natur. Es bildeten sich die Stadtrepubliken, in denen Kunst und Wissenschaft gefördert wurden, und die Architektur zu den Bauten
führte, die wir heute bewundern. Dazu waren neue Entwicklungen in Ingenieurstechniken
notwendig. Beispiele sind die Kuppel des Doms in Florenz von Brunelleschi, der Transport
des 360 t schweren Obelisken zu seinem heutigen Ort auf dem Petersplatz, aber auch der
Wiederaufbau und die Erweiterung antiker Wasserversorgungen, der Bau von Kanälen, etc. In
der Naturphilosophie hingen noch lange viele Gelehrte an Aristoteles, aber allmählich deutete
sich eine Trennung von Wissenschaft und Theologie an. Mehr noch, langsam kamen Zweifel
an den überlieferten Hypothesen auf. Von großer Bedeutung ist, dass damit begonnen wurde,
die Voraussagen antiker Theorien experimentell zu hinterfragen. In der Astronomie waren es
die umfangreichen genauen Messungen Tycho de Brahes, die Kepler nach 1600 zu den elliptischen Planetenbahnen brachten, und die etwa gleichzeitig durchgeführten Fallversuche von
Galilei ergaben erste quantitative Resultate über Bewegungen makroskopischer Körper, die
dann am Ende des 17. Jhd. von Newton in eine mathematische Form gegossen wurden. In der
frühen Neuzeit erkannte man langsam, dass man in der Naturlehre Experimente machen konnte, aus denen physikalische Gesetzmäßigkeiten folgten. Gleichzeitig erkannte man aber auch,
dass für andere Bereiche eines allgemeinen Philosophiegebäudes wie Ethik und Religion solche Vorgehensweisen nicht möglich sind. Das bedeutete für den antiken Atomismus, über den
man ja jetzt ausführlich informiert war, dass die Vorstellung vom Aufbau alles Materiellen
aus Atomen vielleicht experimentell überprüft werden könnte, dass aber all die anderen Folgerungen Epikurs über das Nicht-Materielle jenseits solcher Überprüfungen liegen; sie waren
nicht Gegenstand der Naturlehre.
Das Vakuum existiert!
Wie bereits erwähnt, spielten Bauten von Kanälen und Fontänen eine gewisse Rolle. Dazu
musste man Wasser pumpen. Dabei wurde festgestellt, dass Wasser aus einem Brunnen mit
einer Saugpumpe nicht höher als etwa 10 m gepumpt werden kann. Weshalb ist das so? Diese
Frage brachte Torricelli auf die Idee für ein folgenreiches Experiment. Er war während der
letzten drei Monate vor dem Tod Galileis dessen letzter Assistent und wurde sein Nachfolger
als Hofmathematiker bei den Medici in Florenz. Im Jahr 1644 erfand er, was wir heute Baro5 meter nennen. Er nahm ein über 10 m langes Rohr, füllte es mit Wasser und schloss es an
beiden Enden. Dann stellte er das Rohr senkrecht in einen mit Wasser gefüllten Behälter und
öffnete den unteren, im Wasser stehenden Verschluss des Rohrs (s. Abb.1). Er beobachtete
einen gewissen Ausfluss des Wassers aus dem Rohr, aber nur so lange, wie der Wasserstand
im Rohr fast 10 m höher als derjenige im Behälter war. Der Versuch wurde dann mit Quecksilber wiederholt. Dann ist der Höhenunterschied nur noch 76 cm, weil Quecksilber fast
14fach schwerer als Wasser ist. Torricelli deutete das Ergebnis richtig: die Luft der Atmosphäre drückt mit ihrem Gewicht auf die Flüssigkeitsoberfläche des offenen Behälters und mit
dem gleichen Gewicht drückt die Quecksilbersäule. Die beiden Gewichte halten sich im
Abbildung 1 Bei dem zunächst an beiden Enden geschlossenen Rohr (rechts) wird der untere Verschluss geöffnet (rechts). Wird Quecksilber verwendet und ist das Rohr ca. 1 m lang oder länger, steht der Flüssigkeitsspiegel nach Öffnen 76 cm höher als im Behälter.
Gleichgewicht die Waage.
Wie konnte man das Resultat beweisen? Hier kommt ein französischer Zeitgenosse ins Spiel,
der Mathematiker und Theologe Blaise Pascal (1623 – 62). Er schickte seinen Schwager mit
einem Torricelli-Rohr auf einen 1000 m hohen Berg, wo er fand, dass die Quecksilbersäule
um über 7 cm niedriger war. Also hatte der Luftdruck abgenommen. Das Prinzip von Barometer und Höhenmesser war erfunden.
Wichtiger für unsere Geschichte ist die Frage, die damals heftig und kontrovers diskutiert
wurde, was befindet sich in dem oberen Teil der geschlossenen Glasröhre, in der ursprünglich
die Flüssigkeit war? Torricelli und seine Anhänger behaupteten, darin befinde sich nichts, d.h.
das sei Vakuum. Kurze Zeit später entwickelte Otto von Guericke (1602 – 86) eine Pumpe,
mit der aus einem geschlossenen Gefäß Luft herausgepumpt werden konnte. Von Guericke
war Jurist und Festungsbauer und wurde Bürgermeister von Magdeburg. Durch die von ihm
gebauten Magdeburger Halbkugeln und den mit ihnen ausgeführten spektakulären Experimenten wurde er berühmt. Es handelt sich um zwei große Halbkugeln aus Kupfer, die dicht
aufeinander schließen, und aus denen die Luft abgepumpt werden konnte. Der Druck der umgebenden Luft der Atmosphäre ist dann so groß, dass selbst Pferde die Halbkugeln nicht voneinander trennen können. Dieses Experiment wurde 1654 auf dem Reichstag in Regensburg
gezeigt.
6 Mit diesen Experimenten von Torricelli, Pascal und von Guericke war gezeigt, dass es das
Vakuum, von dem schon Demokrit, Epikur und Lukrez in ihrer Lehre vom Atomismus gesprochen hatten, tatsächlich gibt, und dass man es sogar herstellen kann. Platon und Aristoteles, die die Existenz eines Vakuums ablehnten, waren widerlegt.
Erste systematische Experimente mit Gasen
Die Pumpe, mit der man Luft aus einem Gefäß entfernen kann, diente sehr bald als Hilfsmittel
für wissenschaftliche Untersuchungen von Gasen. Robert Boyle (1627 – 91) war der jüngste
Sohn des reichsten Mannes in England und hatte alle Möglichkeiten, als Privatgelehrter in
London wissenschaftlich zu arbeiten. Er untersuchte, wie eine Kerze langsam aufhört zu
brennen und wie das Ticken einer Uhr nicht mehr zu hören ist, wenn die Luft evakuiert wird.
Damit war gezeigt, dass die Luft etwas enthalten muss, was für den Brennvorgang wichtig ist;
heute wissen wir, dass das Sauerstoff ist. Und es war auch gezeigt, dass man für die Wahrnehmung des Tickens der Uhr, also für die Fortpflanzung von Schall, Luft (oder ein anderes
Gas) benötigt.
Für die Entwicklung der Physik waren weitere Experimente von Boyle und anderen wichtig.
Sie wussten jetzt, wie man auf kontrollierte Weise die Menge eines Gases in einem Gefäß
verändern kann, wie man das Volumen einer Gasmenge durch Druck verändern kann und wie
das Volumen einer Gasmenge von der Temperatur abhängt. Diese Zusammenhänge zwischen
Druck, Volumen und Temperatur eines Gases gehören auch heute noch zum Lehrstoff von
Physikern, Chemikern und Ingenieuren. Sie sind als sog. Boylesche Gasgesetze bekannt und
bilden z.B. die Grundlage für das Funktionieren von Dampfmaschinen.
Qualitativ sind uns diese Phänomene aus dem Alltag bestens vertraut: Nehmen wir eine mit
Luft gefüllte Flasche; wenn wir sie in die Sonne legen, also die Temperatur erhöhen, steigt der
Druck, und wenn die Flasche aus Plastik ist, bläht sie sich auf, d.h. auch das Volumen nimmt
zu.
Wie sollte man diese Phänomene erklären? Boyle wirkte in der Mitte des 17.Jh., einer Zeit, in
der die Alchemie allmählich zur Chemie wurde. Seit der Antike hatte man viele Versuche zur
Umwandlung von in der Natur vorkommenden Materialien unternommen. So ist Bronze eine
Legierung aus 90% Kupfer und 10% Zinn, ein Material, das viel härter als Kupfer ist und eine
ganze Periode der Menschheitsgeschichte, die Bronzezeit, geprägt hat. D.h. es gibt Stoffe wie
Kupfer und Zinn (heute nennt man sie chemische Elemente), die jedes für sich bestimmte
Eigenschaften haben, aus denen man durch Mischen oder chemische Reaktionen neue Stoffe
erhält, die andere Eigenschaften besitzen.
Während die Alchimisten weitgehend eine Geheimwissenschaft, umgeben von einer mystische Aura, betrieben und z.B. Gold aus Blei herzustellen versuchten, postulierte Boyle ganz
im Sinne des antiken Atomismus, das alle Materie aus Teilchen besteht, die sich durch Größe
und Form unterscheiden. Liegt nur eine Sorte dieser Teilchen vor, ist das ein chemisches
Element, also z.B. Kupfer oder Sauerstoff. Zusätzlich können sich nach Boyle aber manche
Sorten dieser Teilchen miteinander verbinden und einen neuen Stoff bilden. Damit war die
antike Hypothese von den Atomen neu belebt, aber natürlich noch nicht bewiesen.
7 In der Folgezeit fragte man sich, ob diese Hypothese einfache Erklärungen für bestimmte experimentelle Beobachtungen liefern könnte. Einer der ersten, der diese Hypothese in der Mitte
des 18. Jh. aufgriff, war der Basler Gelehrte Daniel Bernoulli. Er nahm an, dass die Luft aus
kleinsten Korpuskeln besteht, die im Gefäß herumsausen, und der Druck im Gefäß durch das
Aufprallen auf die Wände entsteht. Nimmt man dann noch an, dass die Geschwindigkeit dieser Teilchen steigt, wenn das Gas eine höhere Temperatur besitzt, kann man zwanglos erklären, dass der Druck bei Temperaturerhöhung zunimmt. Damit war 1738 eine Erklärung der
Boyleschen Gasgesetze durch Eigenschaften der kleinsten Bausteine des Gases gegeben.
Dieses Vorgehen ist typisch für das Gebiet der Atomphysik. Atome kann man nicht sehen.
Man muss daher ihre Existenz und ihre Eigenschaften mit indirekten Methoden erschließen.
D.h. man stellt Hypothesen auf, so wie Boyle das tat, und prüft, ob die Annahmen über die
Eigenschaften der unsichtbaren Teilchen zu Ergebnissen führen, die mit Experimenten übereinstimmen.
Die Atome der Chemiker
Wichtig für die weitere Entwicklung der Atomhypothese waren Ergebnisse, die man der
Chemie zurechnen muss. Wenn zwei Elemente miteinander reagieren, um eine Verbindung zu
bilden, bleibt von den Ausgangssubstanzen nur dann nichts übrig, wenn die Mengenverhältnisse „richtig“ gewählt werden. So kann sich Zinn auf genau zwei Arten mit Sauerstoff verbinden: 100 g Zinn verbinden sich mit 13,5 g Sauerstoff zu Zinnoxid oder mit 27 g Sauerstoff
(also der doppelten Menge) zu Zinndioxid. Wählt man die Ausgangsstoffe in anderen Gewichtsverhältnissen, bleibt von einem von ihnen ein Rest übrig.
Dieses Ergebnis lässt sich so erklären, dass 100 g Zinn aus einer gewissen (unbekannten) Anzahl von Zinnatomen und 13,5 g Sauerstoff aus der gleichen Anzahl von Sauerstoffatomen
bestehen. Jedes Zinn-Atom verbindet sich dann genau mit einem Sauerstoffatom zu einem
Zinnoxid–Molekül. Im zweiten Fall, der doppelten Menge Sauerstoff, verbindet sich jedes
Zinn-Atom mit genau zwei Sauerstoffatomen. Man erkennt weiter: wenn sich 100 g Zinn mit
13,5 g Sauerstoff verbinden und in dem entstehenden Zinnoxid jeweils ein Zinn-Atom mit
einem Sauerstoffatom verbunden ist, müssen 100 g Zinn gleich viele Atome enthalten wie
13,5 g Sauerstoff. Das bedeutet aber, dass ein Zinn-Atom deutlich schwerer ist, als ein Sauerstoffatom. D.h. Atome verschiedener Elemente unterscheiden sich durch ihre Masse. Auf diese Weise konnte man die seinerzeit bekannten Elemente nach ihren Massen ordnen. Als leichtestes Element fand man Wasserstoff. Setzt man dessen Masse gleich Eins, erhält man z.B. für
Sauerstoff die Masse 16. Das schwerste natürlich vorkommende Element ist Uran; es ist
238mal schwerer als ein Wasserstoffatom.
Die Atome der Physiker
Durch die Untersuchungen einer Vielzahl von Reaktionen hatten die Chemiker im Laufe des
19.Jh. den Atombegriff weitgehend etabliert. In der Physik war jedoch die Existenz von Atomen nach wie vor umstritten; angesehene Gelehrte wie Mach und Ostwald lehnten sie ab. Das
entscheidende Experiment, das die Physiker überzeugte, wurde erst im ersten Jahrzehnt des
20. Jh. ausgeführt, also vor gut 100 Jahren.
8 Worum handelte es sich? Der englische Botaniker Robert Brown hatte 1827 über Beobachtungen berichtet, bei denen er Pflanzenpollen in Wasser unter einem Mikroskop untersuchte.
Er beobachtete eine sog. Zitterbewegung oder einen Zufallsweg. Was man darunter versteht,
kann durch folgendes Modell illustriert werden: Eine völlig orientierungslose Person bewegt
sich auf einem großen Platz, in dem sie während einer gewissen Zeit in eine Richtung läuft,
dann stehen bleibt, um danach in eine andere zufällig gewählte Richtung weiterzulaufen, usw.
Abbildung 2 Drei Beispiele für Zufallswege. Das Resultat ist in Abb. 2 dargestellt. Die von Brown gemachten Beobachtungen waren während der nächsten fast 80 Jahre nicht erklärbar bis sich 1905 Einstein damit beschäftigte. Er
nahm an, dass das Wasser, in dem sich die im Mikroskop sichtbaren Pollenbestandteile so
unregelmäßig bewegen, eine riesige Ansammlung von Wassermolekülen ist. Sie bewegen
sich so ungefähr wie die Gas-Atome der Luft; da aber Wasser viel dichter als Luft ist, stoßen
die Wassermoleküle dauernd gegeneinander, aber auch gegen die im Wasser vorhandenen
Pollen. Letztere sind viel größer als die Wassermoleküle, denn sie sind im Lichtmikroskop zu
sehen, während es die Wassermoleküle nicht sind. Mal stoßen mehr Moleküle von links als
von rechts, mal mehr von unten als von oben, und im nächsten Moment ist es vielleicht umgekehrt. Das ist etwa so, als ob sich ein großer Ball von 3 m Durchmesser gerade oberhalb
einer dichten Menschenmenge befindet und jeder versucht, den Ball mit der Faust zu stoßen.
Einstein berechnete, ausgehend von diesem Modell, wie sich ein Teilchen, das noch im Mikroskop zu sehen ist, unter dem Einfluss der sehr vielen Stöße durch die Wassermoleküle bewegen sollte. Diese Vorhersagen wurden sehr bald durch den Franzosen Jean Perrin experimentell vollständig bestätigt. Die in Abb. 2 gezeigten Positionen von mikroskopischen Teilchen stammen aus seiner Publikation. Auch an diesem Beispiel erkennt man die für die Welt
der Atome typische Vorgehensweise: man kann die Atome nicht sehen und muss daher auf
ihre Existenz und ihre Eigenschaften durch indirekte Effekte schliessen.
Radioaktivität: Atome sind teilbar
Mit der Analyse der Brownschen Bewegung war die Atom-Hypothese in der Physik akzeptiert. Aber die Vorstellung, dass die Atome die unteilbaren (a-tomos) Bausteine der Materie
9 sind, war kurz vorher widerlegt worden. Der Franzose Becquerel hatte 1896 gefunden, dass
Uransalze auf Fotoplatten zu Schwärzungen führen; die Radioaktivität war entdeckt worden.
Er und Marie und Pierre Curie zeigten, dass aus Uransalzen neue Teilchen und elektromagnetische Strahlung austreten, die berühmten α-, β- und γ-Strahlen (s. Abb.3). Damit waren Atome doch teilbar, sie waren nicht mehr die elementaren Teilchen; es war ein Meilenstein der
Atomphysik, der bereits 1903 durch Nobelpreise an die drei Wissenschaftler anerkannt wurde.
Es stellte sich bald heraus, dass die α-Strahlen massive Partikel sind, viermal schwerer als ein
Wasserstoffatom. D.h. Uranatome können spontan, ohne äußere Einwirkung, zerfallen. Die βStrahlen waren Elektronen, die kurz davor auf ganz andere Weise entdeckt worden waren.
Ihre Masse ist etwa 2000fach kleiner als die eines Wasserstoffatoms, und sie sind elektrisch
geladen. Da die Atome als Ganzes elektrisch neutral sind, müssen die elektrisch negativ geladenen Elektronen durch positive Ladungen im Atom kompensiert werden.
Abbildung 3 Die aus dem radioaktiven Präparat austretenden Strahlen verhalten sich in einem Magnetfeld, das senkrecht zur Bildebene gerichtet ist, verschieden. α-­‐Strahlen und β-­‐Strahlen werden in entgegengesetzte Richtungen abgelenkt, woraus man schliesst, das α-­‐Teilchen und β-­‐Teilchen entgegengesetzte Ladungen tragen. Wie sind die Ladungen in den Atomen verteilt? Zur Beantwortung dieser Frage wie auch vielen späteren aus der Kern- und Hochenergiephysik dienten und dienen Streuexperimente. D.h.
man schießt mit einer bekannten Sorte von Teilchen auf das zu untersuchende Objekt und
schaut sich an, was mit den Geschossen passiert. Dazu ein Vergleich: Wenn man mit einem
Gewehr auf einen Kirschbaum und anschließend auf einen Apfelbaum schießt, und wenn auf
beiden Bäumen gleich viele Früchte hängen, wird man mehr Äpfel als Kirschen treffen, weil
Äpfel größer als Kirschen sind. Wären die Früchte Stahlkugeln, würden hinter dem Apfelbaum weniger Geschosse einfach geradeaus fliegen. D.h. man lernt aus der Analyse der Geschoßbahnen etwas über die Größe und andere Eigenschaften der beschossenen Objekte.
Um 1910 wurde diese Streumethode von Rutherford angewendet, um Aufschlüsse über die
Struktur der Atome zu finden. Er schoss α-Teilchen auf Gold- und Platin- Folien und untersuchte, wie sie durch die Folie gestreut werden. In Metallen wie Gold und Platin sind die
Atome dicht gepackt, und die Folien hatten eine Dicke von ca. 1000 Atomen. Das Ergebnis
der Experimente war sehr überraschend: Nur ca. ein α-Teilchen von 100 000 wurde von einer
geraden Bahn durch die Folien abgelenkt. Daraus musste man schließen, dass das Innere eines
Atoms extrem leer ist. Die genaue Analyse der Ablenkungen der relativ wenigen von der Ge10 radeausbahn abweichenden Teilchen ergab, das 99,9% der Masse im Atom in einem sehr
kleinen sog. Atomkern konzentriert ist. Dazu ein Größenvergleich: Wäre ein Atom so groß
wie ein Fußballstadion, wäre der Atomkern eine 1 cm dicke Kugel am Mittelpunkt des Spielfeldes. Es zeigte sich weiter, dass dieser winzige Kern Träger der positiven Ladung ist, und
die Größe dieser Ladung konnte aus den Streuexperimenten bestimmt werden. So ist z.B. ein
Kohlenstoffatom 12mal schwerer als ein Wasserstoffatom. Der Kern wird von 6 Elektronen
umgeben. In dem Analogbild des Fussballstadions schwirren also die 6 Elektonen irgendwo
im Stadion um den zentimetergrossen Kern im Mittelpunkt. Bei den schweren Elementen gibt
es zwar mehr Elektronen, aber die Atome sind immer noch extrem leer. So ist ein Goldatom
197mal schwerer als das Wasserstoffatom, und die Zahl der Elektronen beträgt 79. Die Elektronen sind vermutlich punktförmig. Später stellte man experimentell fest, dass sie nicht grösser als der milliardste Teil eines milliardstel Meters sein können.
Vor gut 100 Jahren waren also die Atome nicht mehr die „elementaren“ Teilchen. Nach damaliger Kenntnis bestanden sie aus dem winzigen positiv geladenen Kern und den diesen
Kern umgebenden Elektronen, die im Modell des Fußballstadions bis auf die oberen Zuschauerränge verteilt sind. Auch die Kerne konnten nicht als „elementar“ angesehen werden, denn
die Radioaktivität hatte ja gezeigt, dass massive Teilchen, die α-Strahlen, ausgesendet werden
können. Und die mussten aus dem Kern kommen, da dort praktisch die gesamte Masse vereinigt ist.
Der Teilchenzoo und sein Ordnungsprinzip
Die α-Teilchen, die beim radioaktiven Zerfall auftreten, sind die Kerne von Helium-Atomen.
Helium ist das zweitleichteste Element. Wie erwähnt, ist Wasserstoff das leichteste Atom;
sein Kern ist ein einfach-positiv geladenes Teilchen, das sog. Proton, das von einem negativ
geladenen Elektron umgeben ist. Der Helium-Kern ist vierfach schwerer als das Proton. Dieser Kern besteht jedoch nicht aus vier Protonen, sondern nur aus zwei und zusätzlich aus zwei
Neutronen. Wie der Name sagt, sind diese Teilchen neutral; sie wurden nach 1930 entdeckt
und sind praktisch gleich schwer wie die Protonen.
Damit gab es in den 30er Jahren einen recht befriedigenden Abschluss der Kernphysik. Die
Atome waren aufgebaut aus dem Kern und die den Kern in relativ großer Entfernung umgebenden Elektronen. Der Kern selbst besteht aus Protonen und Neutronen. Dazu kannte man
aus der Höhenstrahlung noch eine Teilchensorte, die man als µ-Mesonen oder Müonen bezeichnete. Diese Situation hielt nicht lange an, denn man fand insbesondere durch Experimente mit Teilchenbeschleunigern, in denen Teilchen mit sehr hohen Energien auf andere geschossen werden, neue Teilchen. Es entstand so ein regelrechter „Teilchenzoo“, und es ergab
sich die naheliegende Frage, ob all diese Teilchen elementar sind. Ist die Natur wirklich so
kompliziert aufgebaut, dass man zu ihrer Beschreibung so viele elementare Teilchen benötigt?
In den 60er Jahren suchte man Ordnung in den Zoo zu bringen, in dem man hypothetisch annahm, dass es ein paar wenige wirklich elementare Teilchen gibt, aus denen die vielen bekannten Teilchen aufgebaut sind. Auch Proton und Neutron sollten verschiedene Kombinationen dieser hypothetischen Bausteine sein.
11 Einige Jahre später war es dann tatsächlich möglich, experimentell zu zeigen, dass Proton und
Neutron, also die Bestandteile der Atomkerne, aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt
sind, den sog. Quarks. Diese Forschungen sind Gegenstand der sog. Hochenergiephysik, die
den Einsatz großer Geräte erfordert, von denen im nächsten Vortrag die Rede sein wird. Es
geht hier nicht darum, die Hochenergie- oder Elementarteilchenphysik darzustellen; dazu
braucht man einige Semester eines ernsthaften Physikstudiums. Vielmehr ging es darum zu
zeigen, welche Wege die Idee einer aus kleinsten, nicht weiter teilbaren Bausteinen aufgebaute Materie durch 2500 Jahre hindurch genommen hat.
Die Beschränkung der Naturlehre auf das sinnlich Erfassbare
Im Rückblick auf die Geschichte des Atombegriffs sind einige der damaligen Hypothesen zu
bestaunen, denn sie sind überraschend modern. Ebenso bestaunen muss man die Tatsache,
dass ein so umfassendes materialistisches Weltbild wie jenes der Epikureer auf der Basis nicht
überprüfter Hypothesen formuliert werden konnte. Das war in anderen Gebieten der Naturlehre nicht so: Bei der Beschreibung der Planetenbewegungen in einem erdzentrierten Kosmos
war die antike Astronomie durchaus in der Lage, auf der Basis von Hypothesen mit Hilfe mathematischer Methoden Vorhersagen über Planetenpositionen mit beachtlicher Präzision zu
machen. Dieser Unterschied zwischen antiker Astronomie und antikem Atomismus lag wohl
daran, dass Sterne einfach zu beobachten sind, nicht jedoch die Atome.
Die Bedeutung der Notwendigkeit, Hypothesen empirisch zu überprüfen entwickelte sich erst
in der frühen Neuzeit, als Glauben und Wissen sich voneinander zu trennen begannen. Die
Naturphilosophie löste sich von anderen Disziplinen der Philosophie, bei denen die Überprüfung von Hypothesen durch experimentelle Untersuchungen nicht in gleicher Weise wie in
den Naturwissenschaften möglich ist. Seit dieser Zeit gilt das Experiment als Entscheidung
über die Richtigkeit einer Hypothese. Sie dient, in der Regel unter Anwendung mathematischer Methoden, zur planvollen Durchführung von Experimenten, indem sie Vorhersagen für
deren Resultate macht. Findet man Übereinstimmung, wird der Hypothese Wahrheitsgehalt
zugeschrieben; andernfalls wird sie verworfen. Erst die Beschreibung vieler Daten auf der
Basis einer Hypothese ist Wissenschaft; die Daten für sich sind es nicht, und die Hypothesen
ohne experimentelle Bestätigung ebenfalls nicht. Der Mathematiker und Physiker Henri Poincaré hat diese Sicht vor gut 100 Jahren so formuliert: Wissenschaft ist aus Tatsachen gebaut
wie ein Haus aus Steinen. Aber die Sammlung von Tatsachen ist genau so wenig Wissenschaft wie ein Haufen Steine ein Haus ist. Dieses Selbstverständnis der Physik zeigt deutlich
die Grenzen der Naturwissenschaften: Ihre Gegenstände sind das mit den Sinnen Erfassbare;
über das Transzendente macht sie keine Aussagen. Damit ist die moderne Physik, was den
Gültigkeitsbereich ihrer Aussagen betrifft, weniger anspruchsvoll als die Lehre der Epikureer.
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