1 Moralische Rechte, Menschenrechte, Bürgerrechte

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 1 Moralische Rechte, Menschenrechte, Bürgerrechte (Markus Stepanians, RWTH Aachen University) I. Der Begriff eines subjektiven Rechts i. Das objektive Recht und subjektive Rechte ii. Die Analyse Hohfelds iii. Willens‐ vs. Interessentheorie II. Drei mögliche Quellen subjektiver Rechte III. Der Menschenrechtsbegriff: moralisch oder positiv? IV. Die Entwicklung der Menschenrechte zu Bürger‐ und Grundrechten I. Der Begriff eines subjektiven Rechts i. Das objektive Recht und subjektive Rechte. Dass moralische Rechte, Menschenrechte und Bürgerrechte besondere Typen von Rechten sind, ist unkontrovers. Aber was sind Rechte? Jeder Klärungsversuch muss mit der Feststellung beginnen, dass der deutsche Ausdruck „Recht“ mehrdeutig ist. Er kann eine Menge praktischer und allgemeiner Re‐
geln (im weiten Sinne von lat. regula: Maßstab, Standard; darunter allgemeine Gesetze, Prinzipien, Grundsätze u. Ä.) bezeichnen oder eine normative Eigenschaft eines Indivi‐
duums. Um hier für Eindeutigkeit zu sorgen, unterscheiden deutschsprachige Rechts‐
wissenschaftler spätestens seit Ende des 18. Jh. zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Rechten. Das „objektive“ Recht besteht aus Regeln, die sich an die Individuen ihres Gel‐
tungsbereichs richten und beanspruchen, deren Verhalten zu leiten. Die Anwendung mancher Regeln des objektiven Rechts auf ein Individuum – auf ein „Subjekt“ wie Juri‐
sten sagen – hat berechtigende Kraft. Die Regel verleiht ihm ein „subjektives“ Recht in Gestalt eines normativ vorteilhaften Status „vis‐á‐vis“ oder „gegenüber“ einem anderen Individuum. ii. Die Analyse Hohfelds. Als Anfang, wenn auch nicht als Ende aller Weisheit in der Ana‐
lyse des Begriffs eines subjektiven Rechts gilt vielfach ein Aufsatz des amerikanischen Juristen Wesley N. Hohfeld von 1913 (= dt. Hohfeld 2007). Hohfeld kritisiert die Neigung vieler Rechtswissenschaftler, jeden durch eine Regel des objektiven Rechts gestifteten normativen vorteilhaften Status eines Individuums als dessen „Recht“ zu bezeichnen. Dieses „generische und undifferenzierte“ Begriffsverständnis verwische bedeutsame Unterschiede zwischen verschiedenen Typen vorteilhafter normativer Status. In einem ersten Klärungsschritt schlägt Hohfeld vor, innerhalb des undifferenzierten Begriffs ei‐
nes subjektiven Rechts vier elementare Typen normativer Vorteile zu unterscheiden: 2 Ansprüche (claims), Freiheiten (privileges), Kompetenzen (powers) und Immunitäten (immunities). In einem zweiten Schritt plädiert er dafür, nur Ansprüche als subjektive Rechte im eigentlichen, strikten Wortsinn zu bezeichnen. Gemäß Hohfelds ersten Analyseschritt, seinen Differenzierungsvorschlag bilden alle Instanziierungen dieser vier elementaren Status‐Typen – Ansprüche, Freiheiten, Kompetenzen und Immunitäten – den vorteilhaften Pol eines bipolaren Rechtsverhält‐
nisses zwischen zwei Individuen. Nennen wir sie Jim und Jill. Unter welchen Bedingun‐
gen hat Jim einen dieser vier normativen Status? Allgemein dann und nur dann, so Hoh‐
feld, wenn Jill den jeweils korrelativen normativ nachteiligen Status hat. Im Einzelnen: Jim hat genau dann einen Anspruch darauf, dass Jill etwas für ihn tut oder unterlässt, wenn Jill eine entsprechende Pflicht hat. Das begriffliche Korrelat eines Hohfeldschen Anspruchs ist eine Pflicht. Jim hat genau dann eine Freiheit, selbst etwas zu tun oder zu lassen, wenn Jill keinen Anspruch darauf hat, dass Jim es unterlässt oder tut. Hohfeldsche Freiheiten korrelieren begrifflich mit dem Fehlen eines Hohfeldschen Anspruchs, d. h. mit einem Nicht­Anspruch. Jim hat genau dann eine Kompetenz gegenüber Jill, wenn er die normative Macht besitzt, Jills normativen Status in einer durch den Inhalt der Kom‐
petenz bestimmten Hinsicht zu verändern. Das begriffliche Korrelat einer Hohfeldschen Kompetenz ist eine normative „Unterworfenheit“ unter Jims normative Macht: eine Sub­
junktion. Wenn Jim jedoch nicht die Kompetenz hat, Jills normativen Status zu verän‐
dern, dann ist Jill in der relevanten Hinsicht gegenüber etwaigen Versuchen Jims, Jills normativen Status zu ändern, immun. Jims normative Unfähigkeit korreliert mit einer Immunität seitens Jill. Hohfeld unterscheidet zwischen vier Typen normativer Vorteile und vier Typen normativer Nachteile. Gepaart mit ihren jeweiligen Korrelaten bilden diese acht Hohfeldschen Elemente vier Typen elementarer, bipolarer Rechtsverhältnisse zwischen genau zwei Individuen. (1) Ein Anspruch/Pflicht‐Verhältnis, (2) ein Frei‐
heit/Nicht‐Anspruch‐Verhältnis, (3) ein Kompetenz/Subjunktion‐Verhältnis und (4) ein Unfähigkeit/Immunität‐Verhältnis (s. Hohfeld 2007, 60f.). Ein illustrierendes Alltagsbeispiel: Angenommen, Jim böte Jill an, sie vom Bahn‐
hof abzuholen. Durch das Angebot schafft Jim für sich selbst eine Hohfeldsche Subjunkti­
on, der seitens Jill eine Hohfeldsche Kompetenz entspricht. Denn Jill ist nun in der Lage, durch Annahme von Jims Angebot dessen normativen Status zu ihren Gunsten zu verän‐
dern. Solange Jill mit der Ausübung ihrer Kompetenz zögert, d. h. solange sie Jims Ange‐
bot (noch) nicht angenommen hat, hat Jill keinen Anspruch darauf, dass Jim sie abholt. In Hohfelds gekünstelter Terminologie: Jill hat vor Annahme des Angebots einen Nicht­
3 Anspruch, und daher steht es Jim zu diesem Zeitpunkt (noch) frei – Jim hat eine korrela‐
tive Freiheit – Jill nicht vom Bahnhof abzuholen. Macht Jill jedoch von ihrer Kompetenz Gebrauch, indem sie Jims Angebot annimmt, dann erzeugt sie für Jim eine Hohfeldsche Pflicht, sie vom Bahnhof abzuholen, und dieser Pflicht Jims entspricht ein Hohfeldscher Anspruch seitens Jill, von Jim abgeholt zu werden. Diese Beschreibung unterstellt, dass Hohfelds ursprünglich für die Beschreibung juridischer Rechtsverhältnisse entwickelte Begrifflichkeit auf nicht‐juridische, insbe‐
sondere moralische Verhältnisse übertragbar ist. Die Ansprüche, Pflichten, Freiheiten, etc., die im Bahnhofbeispiel durch den normativen Austausch zwischen Jim und Jill ent‐
stehen und vergehen, sind unter normalen Umständen keine juridischen Status, die ge‐
richtlich einklagbar oder sonstwie justiziabel wären. Vielmehr beruht sowohl der schließlich resultierende Anspruch Jills als auch Jims korrelative Pflicht auf einem mora‐
lischen Prinzip der Fairness oder Gerechtigkeit, das schon in der Antike anerkannt war: „Pacta sunt servanda“. Auch die wechselnden normativen Beziehungen zwischen Jim und Jill sind keine Rechtsverhältnisse im juridischen Sinne. Da sie auf einem Gerechtig‐
keitsprinzip beruhen, liegt es nahe, sie in terminologischer Abgrenzung zu juridischen Rechtsverhältnissen als „Gerechtigkeitsverhältnisse“ zu bezeichnen. Auch die acht Hoh‐
feldschen Elemente im Bahnhofbeispiel sind keine juridischen, sondern moralische Sta‐
tus. Betrachten wir nun Hohfelds zweiten Analyseschritt, seinen Vorschlag, das von ihm monierte „generische und undifferenzierte“ Verständnis des Begriffs eines subjekti‐
ven Rechts durch ein spezifiziertes und differenziertes zu ersetzen. Ohne nähere Be‐
gründung plädiert Hohfeld dafür, von seinen vier Typen normativ vorteilhafter Status – Anspruch, Freiheit, Kompetenz und Immunität – allein Ansprüche als subjektive Rechte „im strikten Wortsinn“ zu betrachten. Entsprechend gebraucht er „subjektives Recht“ und „Anspruch“ synonym. Vielleicht war für diese Stipulation aus Hohfelds Sicht ent‐
scheidend, dass dem Pflichtbegriff in Recht und Moral eine grundlegende Bedeutung zu‐
kommt und nur Hohfeldsche Ansprüche direkt und unmittelbar die Existenz entspre‐
chender Pflichten implizieren. Ein Anspruch verpflichtet seinen Adressaten, während eine Freiheit nur mit der Abwesenheit eines Anspruchs, eine Kompetenz mit einer Sub‐
junktion und eine Immunität mit einer normativen Unfähigkeit korreliert. Dennoch greift Hohfelds Vorschlag möglicherweise zu kurz, weil nicht nur Hoh‐
feldsche Ansprüche, sondern auch Hohfeldsche Immunitäten die Interessen ihrer Inha‐
ber wirksam schützen können. Ein Beispiel ist eine Bestimmung des Ersten Zusatzes zur 4 US‐Verfassung von 1789: „Congress shall make no law … abridging the freedom of speech“. Sie verleiht US‐Bürgern keinen Hohfeldschen Anspruch auf Meinungsfreiheit, sondern eine Hohfeldsche Immunität gegen Zensur, der seitens des Staates eine rechtli‐
che Unfähigkeit entspricht, Zensurgesetze zu verabschieden. Hingegen scheint das Recht auf Meinungsfreiheit, das Art. 5 des Deutschen Grundgesetzes (GG) von 1949 – „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“ einen Hohfeld‐
schen Anspruch zu verleihen, der mit einer staatlichen Pflicht korreliert, nicht zu zensie‐
ren. So verstanden schafft der Erste Zusatz der US‐Verfassung öffentliche Rechtsver‐
hältnisse des Typs Immunitäts/Unfähigkeit, während Art. 5 GG Anspruch/Pflicht‐
Verhältnisse zwischen Bürger und Staat erzeugt. Trotz dieser Unterschiede der norma‐
tiven Technik befinden sich sowohl amerikanische als auch deutsche Bürger dem Er‐
gebnis nach im Besitz genuiner Abwehrrechte gegen staatliche Zensur. Ähnliche Überle‐
gungen ließen sich mit Blick auf Hohfeldsche Kompetenzen anstellen. Wie wir sehen werden, ist besonders unter Juristen die Auffassung verbreitet, dass genau genommen nur Hohfeldsche Kompetenzen zur zwangsweisen Durchsetzung eines Anspruchs sub‐
jektive Rechte im eigentlichen Sinne sind. iii. Willens­ vs. Interessentheorie. Die Frage nach dem historischen Ursprung des Begriffs eines subjektiven Rechts wird oft so formuliert: Wann wurde aus dem „objektiven“ Ver‐
ständnis von Rechten als Inbegriffen von Regeln, über das schon die Antike verfügte, der Begriff eines „subjektiven“ Rechts, das Individuen „haben“? Ihre Beantwortung spaltet die Rechtshistoriker in zwei Lager. Während die einen nicht zögern, auch prämodernen Autoren wie Aristoteles, Ulpian oder Aquin den Begriff eines subjektiven Rechts zuzu‐
schreiben, erklären andere ihn für eine Errungenschaft der Neuzeit. Ursache dieser hi‐
storischen Meinungsverschiedenheit ist häufig ein Dissens bezüglich einer Frage, die Hohfelds Unterscheidung von acht Status‐Typen für sich genommen offen lässt: Wie werden elementare Hohfeldsche Rechtsverhältnisse gebildet? Angenommen, Jill hat eine Pflicht. Unter welchen Umständen hat Jim auf ihre Erfüllung ein Recht? Auch hier stehen sich seit Mitte des 19. Jh. zwei Auffassungen gegenüber: die Willens‐ und die Interessen‐
theorie. Savigny formuliert den Grundgedanken der Willenstheorie so: Ein subjektives Recht ist eine „der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht“ (1840, 333). Der Willenstheorie zufolge hat ein Individuum genau dann ein Recht auf Jills Pflichterfüllung, wenn es über die normative „Macht“ – d. h. die Hohfeld‐
sche Kompetenz – verfügt, Jills Pflichterfüllung zu kontrollieren, d. h. sie von Jill einzu‐
fordern oder Jill von ihr zu entbinden. Allein von Jims Willen hängt es ab, ob Jill ihrer 5 Pflicht nachkommt oder nicht. In der Ausübung dieser normativen Kontrollkompetenz besteht aus Sicht des Willenstheoretikers die Ausübung des Rechts. Folglich ist der Be‐
sitz eines Hohfeldschen Anspruchs für den Rechtsinhaber weder notwendig noch hin‐
reichend. Entscheidend ist allein die Kontrollkompetenz. Angenommen, Jim hat einen Anspruch darauf, dass Jill ihn nicht körperlich verletzt. Und ferner, dass nicht Jim, son‐
dern ein drittes Individuum Jack die Kompetenz hat, Jills korrelative Pflicht zu kontrol‐
lieren, d. h. ihre Erfüllung ggf. durchzusetzen. Unter diesen Umständen hat aus Sicht der Willenstheorie nicht Jim, sondern allein Jack ein subjektives Recht darauf, dass Jill Jim nicht verletzt. Für den Willentheoretiker ist dies die Situation im Strafrecht. Denn im Strafrecht hat nicht der Träger des Anspruchs, sondern der Staat die Kontrollkompetenz in Gestalt der normativen Fähigkeit, die Pflichterfüllung gerichtlich geltend zu machen. Das aber heißt aus Sicht der Willenstheorie, dass nur der Staat ein subjektives Recht ge‐
genüber allen Privatpersonen hat, dass sie einander nicht verletzen. Die Privatpersonen selbst haben keine strafrechtlichen subjektiven Rechte, sondern nur Ansprüche. Interessentheoretiker wie Jhering widersprechen: „Kein Recht ist […] des Willens wegen da. Jedes Recht findet seine Zweckbestimmung und seine Rechtfertigung darin, dass es das Dasein oder Wohlsein fördert […]. Nicht der Wille oder die Macht bildet die Substanz des Rechts, sondern der Nutzen“ (1865, 350). Wie alle Interessentheoretiker betrachtet Jhering elementare Hohfeldsche Ansprüche als genuine subjektive Rechte. Es genügt, dass Jills Pflichterfüllung Jim aufgrund eines legitimen Interesses geschuldet ist, so dass Jim einen Anspruch hat. Gewiss ist die Kontrollkompetenz eine moralisch und politisch wünschenswerte Ergänzung des Anspruchsrechts, weil sie normalerweise die Effektivität des Rechts und die Autonomie seines Inhabers erhöht. Aber diese Ergänzung ist aus interessentheoretischer Sicht für die Existenz eines subjektiven Rechts nicht kon‐
stitutiv. Im Gegensatz zur Willenstheorie erkennt die Interessentheorie auch die Exi‐
stenz strafrechtlicher Rechte von Privatpersonen an. Die Privatperson Jim hat ein Recht darauf, dass Jill ihn nicht körperlich verletzt. Dass nicht Jim, sondern nur der Staat Jims Anspruch gegenüber Jill ggf. gerichtlich geltend machen kann, ist für Jims Status als Rechtsträger unerheblich. Rechtshistoriker, die von der Korrektheit der willenstheoretischen Analyse über‐
zeugt sind, gehen meist von einer relativ späten Entstehung des Begriffs eines subjekti‐
ven Rechts aus. So sieht z. B. Ernst‐Wolfgang Böckenförde die Grundlagen „der (heute selbstverständlichen) Denkform des subjektiven Rechts“ im 16. Jh. von Francisco de Vi‐
toria gelegt. Denn Vitoria begreife Recht nicht (wie noch Aquin) „als objektiv Geschulde‐
6 tes […], sondern als eine dem Rechtsinhaber zukommende Bestimmungsmacht, eine fa­
cultas, etwas zu tun oder zu lassen, soweit das Gesetz es erlaubt“ (2006, 354). Böcken‐
fördes historische These unterstellt, dass die „heute selbstverständliche Denkform des subjektiven Rechts“ im Sinne der Willenstheorie zu explizieren sei, da nur für sie eine solche „Bestimmungsmacht“ – eine facultas im Sinne einer Hohfeldschen Kompetenz – konstitutiv ist. Aus Sicht der Interessentheorie scheint es jedoch nicht minder plausibel, auch Aquin den Begriff eines subjektiven Rechts zuzuschreiben. Denn die für Aquins Ge‐
rechtigkeitstheorie zentrale, schon im Justinianischen Corpus Juris Civilis formulierte Regel, jedem das Seine zu geben (suum cuique tribuere), enthält alle wesentlichen Ele‐
mente einer interessentheoretischen Explikation dieses Begriffs: Das Jim objektiv (d. h. aufgrund der Suum­cuique‐Regel) Geschuldete (debitum) ist ein Tun oder Lassen, zu dem Jill gegenüber Jim verpflichtet ist. Jim und Jill stehen in einem bipolaren Gerechtig‐
keitsverhältnis, in dem Jim den normativen Status eines Gläubigers innehat, Jill den normativen Status eines Schuldners. Wenn überdies gilt, dass Jills Pflichterfüllung (wie Jhering im Namen der Interessentheorie fordert) Jims „Dasein oder Wohlsein fördert“, dann ist sie (in Aquins Worten) Jims ius suum, d. h. sein subjektives Recht im Sinne der Interessentheorie. In Deutschland gilt der Streit zwischen Willens‐ und Interessentheorie vielfach als überwunden, weil er schon im 19. Jh. zugunsten einer Kombination von willens‐ und interessentheoretischen Elementen geschlichtet worden sei (s. Coing 2007, 47). Eine oft zitierte Formulierung der Kombinationstheorie lautet: „Das subjektive Recht ist begriff‐
lich eine Rechtsmacht, die dem einzelnen durch die Rechtsordnung verliehen ist, seinem Zwecke nach ein Mittel zur Befriedigung menschlicher Interessen“ (Enneccerus, Nipper‐
dey 1952, 272 f.). Entgegen dem, was die Bezeichnung „Kombinationstheorie“ fälschlich suggeriert, ist dies jedoch nur eine Reformulierung der Willenstheorie. Denn auch sie identifiziert subjektive Rechte mit Hohfeldschen Kompetenzen („Rechtsmächten“). Der Zusatz, dass die kluge Ausübung dieser Kompetenz der Interessenbefriedigung dient, ändert daran nichts. Die verbreitete, aber irrtümliche Überzeugung, dass die Kombinati‐
onstheorie einen tragfähigen Kompromiss zwischen Willens‐ und Interessentheorie dar‐
stellt, hat die Debatte in Deutschland im 20. Jh. zum Erliegen gebracht und die Dominanz der Willenstheorie hierzulande zementiert (zur angelsächsischen Diskussion, s. Kramer & al. 1998). II. Drei mögliche Quellen subjektiver Rechte 7 Wir können verschiedene Typen subjektiver Rechte anhand der Quellen unterscheiden, die ihre Zuschreibung rechtfertigen. Manche Rechte sind Folgerungen aus Regeln, die in rechtssetzender Absicht erlassen wurden und zur positiven Rechtsordnung eines Staa‐
tes gehören. Juridische oder positiv­rechtliche subjektive Rechte entspringen paradigma‐
tisch nationalen und transnationalen Rechtsordnungen oder internationalen Verträgen. Aber nicht alle Rechte und Pflichten, die wir im Alltag anerkennen, fließen aus Regeln, die mehr oder weniger umfangreiche und ineinander verschachtelte positive Systeme bilden. Auch ungeordnete Regelmengen (wie z. B. im Gewohnheitsrecht) oder Regeln der Gerechtigkeit („Pacta sunt servanda“, die Goldene Regel, etc.) sind unserem Alltags‐
verständnis nach in der Lage, Pflichten zu erzeugen, die mit subjektiven Rechten in Ge‐
stalt Hohfeldscher Ansprüche korrelieren. Auch das Lügenverbot stiftet eine moralische Pflicht, andere Individuen nicht zu belügen, der seitens unserer Kommunikationspart‐
ner ein moralisches Recht entspricht, nicht belogen zu werden. Viele Menschen betrach‐
ten sich nicht nur als Inhaber eines moralischen Rechts auf Wahrhaftigkeit, sondern auch als Träger eines Rechts auf faire Behandlung, eines Rechts auf Hilfeleistung in Not, eines Rechts auf ein Mindestmaß an Loyalität und Toleranz, etc. – und zwar aus rein mo‐
ralischen Gründen, unabhängig davon, welche positiven subjektiven Rechte die Gesetze des Landes, in dem wir uns zufällig aufhalten oder dessen Bürger wir sind, uns de jure gewähren. Von Gerechtigkeitsprinzipien gestiftete subjektive Rechte sind moralische Rechte. Die Zweiteilung in positiv‐rechtliche und moralische subjektive Rechte und die analoge Unterscheidung zwischen moralischen und positiv‐rechtlichen Inbegriffen von Regeln erscheint für einige Klassifikationszwecke zu grob. Manche subjektive Rechte, deren Existenz wir im Alltag unterstellen oder zumindest für möglich halten, lassen sich nur gewaltsam der einen oder anderen Klasse zuordnen. Haben königliche Häupter vie‐
lerorts nicht das Recht, mit „Majestät“ angesprochen zu werden? Haben Väter in man‐
chen Kulturen kein Recht darauf, dass ihr Erstgeborener nach ihnen benannt wird? Ist das schon im Alten Testament erwähnte Erstgeburtsrecht, das die Geschwister eines Erstgeborenen vom Erbe ausschließt, kein subjektives Recht im hier relevanten Sinne? Wer in diesen oder ähnlichen Fällen mit „ja“ oder auch nur „möglicherweise“ antwortet, räumt die Möglichkeit von subjektiven Rechten ein, die aus den mores einer Gemein‐
schaft – ihren Sitten, Gebräuchen und Traditionen – fließen und nicht immer von ihrer positiven Rechtsordnung (sofern sie eine hat) anerkannt sind. 8 Sind dies also weitere Beispiele für moralische Rechte? Das hängt davon ab, was man unter „Moral“ und „moralisch“ versteht. Wir müssen zwischen „positiver“ und „kri‐
tischer“ Moral unterscheiden. Die positive Moral einer Gesellschaft besteht aus sozialen Regeln, die den in ihr praktizierten Sitten, Gebräuchen und Traditionen entspringen. Die Inhalte dieser sozialen Regeln können, aber müssen nicht durch die positive Rechtsord‐
nung anerkannt sein. Ist dies nicht der Fall, sind sie „bloß“ soziale Regeln, die jedoch in‐
sofern „positiv“ genannt werden können, als sie Standards darstellen, die breite gesell‐
schaftliche Anerkennung genießen und gewohnheitsmäßig befolgt werden. Dieser Begriff einer „positiven“ Moral im Sinne der mores einer Gesellschaft kon‐
trastiert mit dem Verständnis von „Moral“ im Sinne eines normativen Ideals, dessen Re‐
geln sich inhaltlich bestenfalls zum Teil mit den in einer Gesellschaft de facto anerkann‐
ten positiv‐moralischen oder positiv‐rechtlichen Regeln decken. Eine kritische Moral – z. B. Aquins rationales Naturrecht, Kants Moral gleicher Achtung oder Benthams Utilita‐
rismus – besteht aus Regeln, die (in den Augen ihrer Befürworter) idealiter befolgt wer‐
den sollten, gleichgültig, ob ihre Inhalte in einer Gemeinschaft konventionell oder juri‐
disch anerkannt und positiviert sind. Im Unterschied zu positiv‐moralischen Regeln ist die Geltung kritisch‐moralischer Regeln von sozialer Anerkennung unabhängig. Moral‐
philosophen wie Aquin, Kant oder Bentham waren der Überzeugung, dass kritisch‐
moralische Regeln wie „Das Gute ist zu tun und zu fördern, das Schlechte ist zu meiden“ (Aquins Erstes Gebot der lex naturalis), „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kants Kategorischer Imperativ) oder „Das Glück der größten Zahl bildet das Maß für richtig und falsch“ (Benthams Nutzenprinzip) auch gelten, wenn wir sie (gemeinschaftlich oder individuell) ignorieren und missachten. Dieser Unabhängigkeit von faktischer Anerkennung verdan‐
ken kritisch‐moralische Regeln ihr gesellschaftskritisches Potenzial. Sie kommen typi‐
scherweise bei der Anprangerung sozialer Missstände, beim Ruf nach Reformen des po‐
sitiven Rechts und bei der Kritik der aktuell herrschenden positiven Moral zur Anwen‐
dung. Mit Blick auf die Unterscheidung zwischen positiver und kritischer Moral können wir subjektive Rechte, die aus Regeln folgen, die in Sitten, Gebräuchen und Traditionen gründen (wie z. B. das oben erwähnte königliche Recht auf die Anrede „Majestät“, etc.) als positiv­moralische Rechte klassifizieren. Wir erhalten so eine begriffliche Dreiteilung zwischen (1) positiv‐rechtlichen Rechten, (2) positiv‐moralischen Rechten und (3) kri‐
tisch‐moralischen Rechten. Positiv‐rechtliche Rechte fließen aus positiven Rechtsord‐
9 nungen, positiv‐moralische Rechte aus de facto, aber nicht unbedingt de jure anerkann‐
ten und konventionalisierten Sitten und Gebräuchen. Kritisch‐moralische Rechte folgen aus den Gerechtigkeitsprinzipien einer kritischen Moral, deren Inhalte weder zu den etablierten mores einer Gesellschaft noch zu ihrer positiven Rechtsordnung gehören müssen. Allerdings lässt die Unterscheidung dieser drei Begriffe subjektiver Rechte für sich genommen offen, ob etwas unter sie fällt. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, halten manche Philosophen den Begriff eines kritisch‐moralischen Rechts für in sich widersprüchlich und notwendigerweise leer, und für viele Juristen gilt dies auch von der Idee eines positiv‐moralischen Rechts. III. Der Menschenrechtsbegriff: moralisch oder positiv? Menschenrechte sind eine Spezies subjektiver Rechte. Innerhalb dieser Spezies haben wir mit Blick auf ihre Rechtfertigungsquellen zwischen kritisch‐moralischen, positiv‐
moralischen und positiv‐rechtlichen Rechten unterschieden. Zu welcher dieser drei Sub‐
spezies gehören die Menschenrechte? Sind Menschenrechte primär und paradigmatisch kritisch‐moralische, positiv‐moralische oder positiv‐rechtliche subjektive Rechte? i. Menschenrechte als kritisch­moralische Rechte. Für die kritischen Moralisten (wie ich sie nennen werde) beruhen die Menschenrechte paradigmatisch auf der berechtigenden und verpflichtenden Kraft von Gerechtigkeitsprinzipien. Demnach sind die Menschen‐
rechte primär kritisch‐moralische Rechte, die von sozialer Anerkennung und Positivie‐
rung unabhängig sind. Die These, dass Menschen diese Rechte haben ist die Konklusion eines Arguments, dessen entscheidende Prämisse ein Gerechtigkeitsprinzip bildet. Ihre Überzeugungskraft beruht auf denselben Gründen wie die kritisch‐moralische Regel, aus der sie folgt. In einem sekundären, explanatorisch derivativen Sinne können kritische Moralisten auch die Existenz positiv‐moralischer und positiv‐rechtlicher Menschenrech‐
te anerkennen. Solche Positivierungen sind nicht als bloße Verdopplungen, sondern als inhaltliche Konkretisierungen kritisch‐moralischer Rechte zu verstehen, die den jeweili‐
gen natürlichen und sozialen Umständen angepasst sind. Beispielsweise können zwei Gesellschaften das kritisch‐moralische Menschenrecht auf Leben mit Blick auf Abtrei‐
bung, Todesstrafe oder Euthanasie verschieden interpretieren und entsprechend unter‐
schiedlich positiv ausgestalten. Allen historischen Menschenrechtserklärungen des 18. Jh. – der Verfassung des US‐Bundesstaats Virginia, der US‐Unabhängigkeitserklärung (beide 1776) und der Fran‐
zösischen Erklärung der Menschen‐ und Bürgerrechte von 1789 – liegt das Menschen‐
10 rechtsverständnis der kritischen Moralisten zugrunde. Um den nicht‐artifiziellen, von sozialer Anerkennung unabhängigen Charakter der von ihnen proklamierten Menschen‐
rechte zu betonen, bezeichnen die Autoren dieser Dokumente – Politiker wie George Mason, Thomas Jefferson oder Maximilien Robespierre – sie bevorzugt als die „natürli‐
chen“ Rechte des Menschen. Das Attribut „natürlich“ soll vor allem ihren nicht‐
artifiziellen Charakter betonen. Natürliche Rechte sind nicht das Produkt autoritativer Setzungen, weder eines menschlichen noch eines göttlichen Gesetzgebers. Die meisten Philosophen und Politiker, die im 18. Jh. für die natürlichen Rechte des Menschen eintre‐
ten, sind keine Theisten, sondern Voltaire’sche Deisten. Sie glauben an ein nicht‐
personales göttliches Prinzip oder an einen Schöpfer, der sich von seiner Schöpfung für immer abgewandt hat. Selbst Bentham, einer der schärfsten Kritiker der Idee natürli‐
cher Rechte betont: „[T]he natural rights we hear so much of under that name are of all things the farthest away from being divine rights. For in no mouths are they so frequent nor so insistent upon as in the mouths of those by whom the existence of a divine law and of a divine law giver are equally denied“ (1987, 73). Das Attribut „natürlich“ soll ferner andeuten, dass die Antwort auf die Frage, warum wir Rechte dieses Inhalts haben, auf unsere menschliche Natur verweist. Hätten Menschen eine andere Natur, dann hät‐
ten sie auch andere Rechte. Da diese Rechte Menschen inhärent sind und sie mit ihnen geboren werden, können sie von anderen Individuen (einschließlich Staaten) nur aner‐
kannt, aber nicht – wie z. B. ein Preis oder eine Ehre – zuerkannt oder verliehen werden. Man kann niemandem etwas geben, was er aufgrund seines Menschseins schon hat. Aus demselben Grund können natürliche Rechte von ihren Trägern weder veräußert (ver‐
kauft, verschenkt o. Ä.) noch durch andere Individuen aberkannt oder sonst wie ge‐
nommen werden. Selbst so mächtige Institutionen wie der Staat können die Existenz na‐
türlicher Rechte zwar verkennen, verleugnen und missachten, aber sie können diese Rechte ihren Trägern nicht entziehen. (Dieser Zug der natürlichen Rechte des Menschen legt nahe, sie nicht primär als Hohfeldsche Ansprüche zu verstehen, die mit Pflichten korrelieren, sondern als Hohfeldsche Immunitäten, denen eine Hohfeldsche Unfähigkeit entspricht.) Die natürlichen Rechte, so die Botschaft der kritischen Moralisten von Jef‐
ferson bis Robespierre, sind radikal unverfügbar: Keine Macht der Welt kann sie ein‐
schränken oder auslöschen. ii. Menschenrechte als positive Rechte. Die Gegner der kritischen Moralisten – die „Men‐
schenrechtspositivisten“ – glauben nicht an die verpflichtende und berechtigende nor‐
mative Kraft kritisch‐moralischer Regeln. Entweder stellen sie (wie Philosophen von 11 Kallikles und Thrasymachus bis Nietzsche) die Geltung kritisch‐moralischer Gerechtig‐
keitsprinzipien grundsätzlich in Frage, oder sie bezweifeln (wie Bentham, Tugendhat oder Stemmer), dass sie aus sich heraus genuine Recht/Pflicht‐Verhältnisse begründen können. Aus Sicht ihrer positivistischen Kritiker ist der Glaube an kritisch‐moralische Rechte und Menschenrechte ein Aberglaube. Ein Hauptmotiv für die Skepsis der Menschenrechtspositivisten gegenüber der Idee kritisch‐moralischer Rechte bildet ihre Überzeugung, dass von der Existenz subjek‐
tiver Rechte und Pflichten nur dann die Rede sein kann, wenn Mittel bereit stehen, ihre Achtung auch gewaltsam zu erzwingen. Kritiker wie Bentham, Tugendhat und Stemmer vertreten eine Sanktionstheorie subjektiver Rechte und Pflichten (s. die Diskussionen in Sidgwick 1907, Hacker 1973, Hart 1980, Seebass 2003). Ihr gemeinsamer Nenner ist die Annahme eines analytischen Zusammenhangs zwischen dem Begriff einer Pflicht und dem Begriff einer Strafe. Hierzulande z. Zt. besonders einflussreich sind Sanktionstheo‐
rien, die Pflichten als durch Strafen konstituiert betrachten. Der schon von Kant disku‐
tierte (und als absurd verworfene: 1978, 1326) Grundgedanke von Sanktionstheorien dieses Typs ist der einer obligatio per poenas. In Stemmers Formulierung: „Es gibt kein den Sanktionen vorgängiges, von ihnen unabhängiges [kritisch‐]moralisches Müssen. Ein Handlung wird also nicht sanktioniert, weil man sie nicht tun darf, vielmehr darf man sie nicht tun, weil sie sanktioniert wird“ (2002, 676). Ein Verhalten eines Akteurs wird erst dadurch zur Pflicht, dass seine Unterlassung bestraft wird – keine Pflichten ohne Sanktionen. Aufgrund des begrifflichen Zusammenhangs zwischen subjektiven Rechten (im Sinne Hohfeldscher Ansprüche) und Pflichten gilt ferner, dass man nur dann ein Recht auf eine Handlung eines anderen Individuums hat, wenn es zu dieser Handlung verpflichtet ist. Keine Rechte ohne Pflichten. Beispielsweise hat Jim nur dann ein Recht auf Jills Handlung, wenn Jill im Unterlassungsfall bestraft wird. Keine Rechte ohne Sanktionen. Kritisch‐moralische, von sozialer Anerkennung prinzipiell unabhängi‐
ge Rechte sind demnach begriffliche Undinge. Es kann keine Bestrafung für die Verlet‐
zung von Normen geben, die nicht anerkannt sind. Aber dann ist ein subjektives Recht, dessen Missachtung nicht sanktioniert wird, ein hölzernes Eisen. Folglich, so schon Benthams Fazit, ist der Begriff eines kritisch‐moralischen Rechts eine „contradiction in terms“ und „stark nonsense“ (1987, 72). Werden subjektive Rechte durch Sanktionen konstituiert, dann kann es nur posi‐
tive Menschenrechte geben. Aber dieser Befund lässt offen, ob die geforderte Positivität der Menschenrechte positiv‐moralischer oder positiv‐rechtlicher Natur ist. Um diesen 12 internen Streit unter Menschenrechtspositivisten geht es in der Debatte zwischen Ernst Tugendhat und Alexander Somek. Beide sind davon überzeugt, dass der Begriff eines kritisch‐moralischen Rechts notwendigerweise leer ist. Aber im Unterschied zu Somek hält Tugendhat die Existenz positiv‐moralischer Rechte für möglich: „Moralisch“ bedeu‐
tet bei Tugendhat (wie auch bei Stemmer) immer „positiv‐moralisch“. Tugendhats posi‐
tiv‐moralische Rechte werden durch Affekte der Empörung und ähnliche Formen sozia‐
ler Strafen konstituiert (Tugendhat 1993, 348 f.). Hingegen sind in Someks Augen posi‐
tiv‐moralische Sanktionen zur Konstitution eines subjektiven Rechts weder notwendig noch hinreichend. Denn Tugendhats positiv‐moralische „Rechte“ seien Ansprüche, „die nicht zwingen, … deren Einforderung sich im schrillen Appell erschöpft, im despektier‐
lich zur Schau getragenen Groll oder in der gekonnt plazierten verächtlichen Geste“ (Somek 1995, 48; meine Hervorh.). Zu echten subjektiven Rechten würden solche An‐
sprüche nur, wenn sie mit „rechtlichem Zwang“ versehen werden: „Denn nach wie vor behauptet sich im Rechtsdenken, was Jhering in einem einprägsamen Bild festhielt: Ein subjektives Recht, das nicht zwingt, ist wie ein Licht, das nicht leuchtet“ (ibid. 49). Sub‐
jektive Rechte sind demnach notwendigerweise komplex. Sie bestehen aus einem An‐
spruch und einer Kompetenz zur Ausübung von „[positiv‐]rechtlichem Zwang“ in Gestalt einer Klagekompetenz. Folglich sind subjektive Rechte ausschließlich und notwendig positiv‐rechtlicher Natur. Für Somek ist nicht nur der Begriff eines kritisch‐moralischen, sondern auch der eines positiv‐moralischen Rechts (mit Bentham gesprochen) eine „contradiction in terms“ und „stark nonsense“. Die Auffassung, dass der Begriff eines positiv‐rechtlichen subjektiven Rechts eine Klagekompetenz einschließt, ist unter Juristen (aber auch unter Philosophen, die sie sich zu eigen machen: z. B. Habermas 1996) verbreitet. Aber entgegen dem, was Somek sug‐
geriert, war die These von der wesentlichen Einklagbarkeit positiv‐rechtlicher Rechte schon zu Jherings Zeiten umstritten, und sie ist es bis heute geblieben (s. z. B. Alexy 1985, 167; Wagner 1998, Kap. 6). Überdies ist fraglich, ob Juristen für einen Begriff, der nicht nur im positiven Recht, sondern auch in der kritischen und positiven Moral fest verankert ist, die Definitionshoheit haben. Selbst wenn – wenn – es sinnvoll und frucht‐
bar wäre, diesen Begriff für positiv‐rechtliche Zwecke so zu fassen, wäre damit noch nichts für die Moral gesagt. Vor allem aber bleibt unklar, was hier mit „Zwang“ gemeint ist. Angenommen, Zwang sei für Rechte und Pflichten konstitutiv. Warum soll nur „rechtlicher“ Zwang in der Lage sein, einen Anspruch in den Rang eines subjektiven Rechts zu erheben? Somek unterschätzt die zwingende Kraft „bloß“ positiv‐moralischen 13 Drucks und er überschätzt die zwingende Kraft positiv‐rechtlichen Zwangs. In seinen Noctes Atticae erzählt Aulus Gellius im 2. Jh. n. Chr. von dem reichen Römer Lucius Vera‐
tius, der sich einen Spaß daraus machte, seine Mitmenschen im Vorübergehen zu ohrfei‐
gen. Ihm folgte sein Sklave mit prallem Geldbeutel, der den Geohrfeigten umgehend die Strafe von 25 Assen auszahlte, die das römische Recht für Erniedrigungen dieser Art vorsah. Hat das nach Somek „zwingende“, weil positiv‐rechtliche Recht von Veratius’ Op‐
fern, nicht in dieser Weise gedemütigt zu werden, sie wirksamer geschützt als das „nicht zwingende“ positiv‐moralische Recht, das Tugendhat ihnen einräumt? Offenbar nicht. Veratius wollte nicht nur seinen Spaß haben, sondern zugleich die positive Rechtsord‐
nung verhöhnen. Vor allem aber scheint Gellius’ Geschichte Wasser auf den Mühlen der kritischen Moralisten zu sein. Zeigt sie nicht, dass Demütigungen dieser Art selbst dann moralisch verwerflich sind, wenn sie nicht bestraft werden? Entgegen der Auffassung von Sanktionstheoretikern wie Tugendhat, Stemmer und Somek ist ein solches Verhal‐
ten aus kritisch‐moralischer Sicht nicht verwerflich, weil es sanktioniert wird (contra Stemmer, s. das Zitat oben). Vielmehr wird es bestraft, weil es gute Gründe gibt, seinen Mitmenschen so etwas nicht anzutun. Als rationales, für Gründe von Natur aus empfäng‐
liches Wesen kann sich Veratius ihrer normativen Kraft zwar verschließen und sie in seinen Entscheidungen ignorieren, aber sie bleiben selbst für ihn gute Gründe. Veratius’ prinzipielle rationale Empfänglichkeit für diese Gründe zeigt, dass er es hätte besser wissen können und müssen, und daher ist sein Verhalten auch unabhängig von jeder Sanktionspraxis zumindest strafwürdig. Aber wenn Veratius es mit Blick auf diese ratio‐
nalen Gründe seinen Mitmenschen schuldet, sie nicht zu ohrfeigen, dann impliziert dies die Existenz entsprechender kritisch‐moralischer Rechte. IV. Die Entwicklung der Menschenrechte zu Bürger‐ und Grundrechten Der Dissens zwischen kritischen Moralisten und Menschenrechtspositivisten zeigt sich auch in der jeweiligen Interpretation jenes historisch‐politischen Prozesses, der in der Literatur oft als die „Entwicklung“ der Menschenrechte bezeichnet wird (z. B. Fritzsche 2004). Aus positivistischer Sicht handelt es sich dabei um einen Prozess der Menschen‐
rechtswerdung, in dem die bloße Idee der Menschenrechte in die Wirklichkeit „umge‐
setzt“ wird und die Menschenrechte ihren Trägern in Gestalt positiver Rechte verliehen werden. Im 18. Jh. geschieht dies zunächst in Frankreich und den USA durch die Verab‐
schiedung von Verfassungen, die Bürgerrechte verleihen, d. h. subjektive Rechte, die In‐
dividuen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit erwerben. In einem weiten Sinne sind alle 14 Rechte, die Bürgern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zukommen, Bürgerrechte. Oft wird dieser Ausdruck jedoch auch für Rechte reserviert, die besonders grundlegende In‐
teressen schützen und die deshalb „Grundrechte“ heißen. Obwohl nationale Grundrech‐
te ihren Trägern nicht aufgrund ihres Menschseins zukommen, keine universale Geltung haben und sich primär gegen den Staat richten (s. Poscher 2003), sind sie aus men‐
schenrechtspositivistischer Sicht genuine Menschenrechte, deren Geltungsbereich in der nachfolgenden historischen Entwicklung nur erweitert und universalisiert wird. Die entscheidenden Meilensteine dieser Universalisierung und Internationalisierung sind das positiv‐moralische Bekenntnis der Vereinten Nationen in Gestalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die positiv‐rechtliche Anerkennung bzw. Zuerkennung der Menschenrechte in den internationalen Pakten über Bürgerliche und Politische Rechte sowie über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte von 1966, die 1976 in Kraft treten. Für Philosophen, die nicht nur positiv‐rechtliche, sondern auch positiv‐moralische Menschenrechte anerkennen, gibt es internationale und universale Menschenrechte seit 1948, während ausschließlich positiv‐rechtliche Menschenrechts‐
positivisten die Geburt genuiner Menschenrechte auf frühestens 1976 datieren. Hinge‐
gen betrachten kritischen Moralisten die „Entwicklung“ der Menschenrechte als einen bloßen Positivierungsprozess, in dem schon geltende kritisch‐moralische Rechte posi‐
tiv‐rechtlich konkretisiert und ausgestaltet werden. Selbst wo sie inhaltlich überein‐
stimmen, sind Grundrechte keine Menschenrechte im eigentlichen Sinne. Einig sind sich Menschenrechtspositivisten und kritische Moralisten jedoch darin, dass diese histo‐
risch‐politische Entwicklung den Schutz grundlegender menschlicher Interessen ent‐
scheidend gestärkt hat. Das von Karel Vasak (1977) vorgeschlagene „Generationenmodell“ der Menschen‐
rechte ist eine inhaltliche Einteilung der Menschenrechte in Typen, die sich an den drei Grundwerten der Französischen Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ori‐
entiert. Menschenrechte, die in erster Linie individuelle Freiheiten und Eigentum schüt‐
zen sowie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sichern, bilden die Rechte der 1. Generation. Zu ihr gehört z. B. das Recht auf Meinungsfreiheit, auf Eigentum, auf Religi‐
onsfreiheit und das Wahlrecht. Bei den Menschenrechten der 2. Generation handelt es sich um sozio‐ökonomische Rechte, die Chancengleichheit und Gleichbehandlung ge‐
währleisten sollen. Dazu gehören u. a. das Recht auf soziale Sicherungen und Leistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Arbeitslosenunterstützung. Die Brüderlich‐
keitsrechte der 3. Generation sind auch chronologisch der jüngste Typ in der Geschichte 15 der Anerkennung bzw. Zuerkennung der Menschenrechte. Im Unterschied zu den Rech‐
ten der 1. und 2. Generationen sollen sie auch Gruppen (Nationen, Ethnien u. Ä.) zu‐
kommen. Sie enthalten Rechte auf Selbstbestimmung, auf eine saubere Umwelt und Gruppenrechte für Minderheiten. 1. Alexy, R. 1985: Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M. 2. Bentham, J. 1987: „Supply Without Burthen or Escheat Vice Taxation“ in: J. Waldron, ed.: Nonsense upon Stilts, London, S. 70‐76. 3. Böckenförde, E.‐W. 2006: Geschichte der Rechts‐ und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, UTB. 4. Coing, H. 2007: „Zur Geschichte des Begriffs ‚subjektives Recht’“ in: Stepanians 2007, S. 33‐50. 5. Enneccerus, L.; Nipperdey H.C. 1952: Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, Tübingen. 6. Fritzsche, K. P. 2004: Menschenrechte, UTB. 7. Habermas, J. 1996: Die Einbeziehung des Anderen, Suhrkamp. 8. Hacker, P.M.S.: 1973 „Sanction Theories of Duties“ in: A.W.B. Simpson, ed.: Oxford Essays in Jurisprudence, Second Series, Oxford. S. 131‐170. 9. Hart, H.L.A. 1980: Essays on Bentham, Oxford. 10. Hohfeld, W. 2007: „Einige Grundbegriffe des Rechts, wie sie in rechtlichen Überle‐
gungen Anwendung finden“ in: Stepanians 2007, S. 51‐85. 11. Jhering, R. von 1865: Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3. Theil, Berlin. 12. Kant, I. 1978: „Naturrecht Feyerabend“, Kants gesammelte Schriften, Hg. Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. XXVII, Hälfte 2, Teil 2, de Gruyter. 13. Kramer, M.; Simmonds N.; Steiner, H. 1998: A Debate Over Rights, Oxford. 14. Poscher, R. 2003: Grundrechte als Abwehrrechte, Tübingen. 15. Savigny, F.C. von 1840: System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Leipzig. 16. Seebass, G.: „Die sanktionistische Theorie des Sollens“ in: A. Leist, Hg.: Moral als Ver‐
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tigkeit, Berlin. 16 19. Stemmer, P.: „Moralische Rechte als Artefakte“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5, S. 673‐691. 20. Stepanians, M., Hg.: Individuelle Rechte, mentis. 21. Tugendhat, E. 1993: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 22. Vasak, K. 1977: „Human rights: A thirty year struggle. The sustained efforts to give force of law to the Universal Declaration of Human Rights”, UNESCO Courier, 30:11. 23. Wagner, G. 1998: Prozessverträge. Privatautonomie im Verfahrensrecht, Tübingen. 
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