Die schrumpfende und alternde Gesellschaft Sozialdiagnostische Erkundungen und sozialethische Schlussfolgerungen von Axel Bohmeyer, Berlin Axel Bohmeyer Die schrumpfende und alternde Gesellschaft – sozialdiagnostische Erkundungen und sozialethische Schlussfolgerungen1 Lange Zeit hat der demografische Wandel Deutschlands keinerlei Erwähnung in den medialen, politischen und auch nicht in den ethischen Diskursen gefunden. Vielmehr wurde über die drohende Überbevölkerung der Erde diskutiert, über die Grenzen des Wachstums und der ökologischen Tragekapazität.2 Doch mittlerweile ist die gleichzeitig schrumpfende und alternde Bevölkerung zum Spitzenthema der öffentlichen Diskurse herangewachsen. In Deutschland ist dieser Diskurs mit vielen Ängsten und fast panischen Zügen verbunden. Am 16. Januar 2007 sendete das Zweite Deutsche Fernsehen zur besten Fernsehzeit um 20.15 Uhr einen Spielfilm über unsere Zukunft. Der Titel: 2030 – Aufstand der Alten. Im Film werden die gesellschaftlichen Folgen des demografischen Wandels in Deutschland drastisch beschrieben: Die Situation der Sozialversicherungssysteme und die Angst vor einer Gerontokratie bringt die politisch Verantwortlichen dazu, die alten Menschen kostensparend zu entsorgen. Es geht um Euthanasie und Sterbehilfe, denn das Risiko eines langen Lebens erscheint gesellschaftlich nicht länger tragbar. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, widmete der Besprechung des Films und seiner kritischen Würdigung immerhin eine halbe Seite im Feuilleton.3 In derselben Ausgabe der Zeitung benennt der Leiter des Max-PlanckInstituts für demografische Forschung in Rostock, der US-Amerikaner James Vaupel, angesichts der Ausstrahlung dieses Films zugleich eine deutsche Besonderheit: In keinem anderen Land hätten die Menschen so große Angst vor dem demografischen Wandel wie in Deutschland. Diese Beobachtung wird vom Institut für Demoskopie Allensbach bestätigt: Die Bevölkerung reagiert Umfrageergebnissen zufolge zunehmend besorgt auf die demografische Entwicklung in Deutschland. Die Frage, ob der prognostizierte Rückgang der Bevölkerung zu einem großen Problem werden wird, bejahen 50 Prozent der Befragten, während ein Drittel darin kein großes Problem sieht und 17 Prozent unentschieden sind.4 Alle Prognosen deuten darauf hin, dass wir im Zuge des demografischen Wandels irgendwann in einer Gesellschaft leben werden, in der mehr ältere als junge Menschen leben werden. Diese Voraus1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die schriftliche Ausarbeitung und Erweiterung des Vortrags, gehalten am 26. Mai 2007 auf dem Christophorus Bundestreffen Pfingsten 2007 in Vierzehnheiligen. 2 Das weltweite Bevölkerungswachstum soll hier nicht zum Gegenstand gemacht werden. Nur zur Information und besseren Einordnung: Das Bevölkerungswachstum ist über Jahrtausende hinweg gestiegen und stieg um 1800 erstmals über eine Milliarde. Zwischen 1950 und dem jetzigen Zeitpunkt hat sich die Weltbevölkerung von 2,5 Milliarden auf über 6,5 Milliarden Menschen mehr als verdoppelt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird die Bevölkerungszahl 2050 bei etwa 9 Milliarden liegen und wird mit dem Jahre 2070 dann rückläufig sein. Im weltweiten Vergleich bringt jede Frau durchschnittlich 2,6 Kinder zur Welt. Dieser Wert wird im Jahr 2050 voraussichtlich auf 2,0 Kinder absinken. Vgl. United Nations – Department of Economic and Social Affairs (UN/DESA): World Population Prospects: The 2004 Revision, World Urbanization Prospects: The 2003 Revision. In der Europäischen Union wird zwischen 2005 und 2050 mit einem Bevölkerungsrückgang um 2,1 Prozent gerechnet. Durch massive Migrationsbewegungen wird dabei Osteuropa zum Verlierer der Bevölkerungsentwicklung werden, während Nordeuropa von dieser Entwicklung profitieren wird. 3 Vgl. Schirrmacher, Frank (2007): Alte, wollt ihr ewig leben?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Januar 2007, Nr. 13, S. 31. 4 Vgl. gegen den Trend des publizistischen Mainstream den Artikel von Babier, Hans D. (2007): Warum ist die Überalterung unser Glück?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11. März 2007, Nr. 10, S. 10. 1 sage ist deshalb so erwähnenswert, weil es eine solche gesellschaftliche Zusammensetzung historisch noch niemals zuvor gegeben hat. Die Bevölkerung wird sich dann gegenüber dem jetzigen Zeitpunkt halbiert haben und sie wird sich in der Mehrzahl aus Menschen zusammensetzen, die älter als fünfzig Jahre sind. Die Minderheit der Bevölkerung wird sich aus Menschen zusammensetzen, die jünger als fünfundzwanzig Jahre alt sein wird. Doch wenn die öffentliche Diskussion über den demografischen Wandel nicht von Horrorszenarien überformt werden soll, dann bedarf es weiterer – möglichst nüchterner – sozialdiagnostischer Erkundungen. Die komplexe demografische Entwicklung in Deutschland kann an dieser Stelle nicht abschließend dargestellt werden.5 Aber es sollen zumindest die wesentlichen Tendenzen vermittelt werden. Dazu gehört neben einer Bestandsaufnahme auch der Versuch, die umfangreichen prognostischen Studien aufzugreifen und ihre Erkenntnisse gebündelt darzulegen. Im Anschluss an die sozialdiagnostischen Erkundungen zur schrumpfenden und alternden Gesellschaft sollen also die politischen Herausforderungen des demografischen Wandels benannt und auch sozialethisch verantwortbare Lösungsvorschläge skizziert werden. Der demografische Wandel in Deutschland Die schrumpfende Gesellschaft Seit 1972 sterben in Deutschland mehr Menschen, als geboren werden. Zu einem tatsächlichen Rückgang der Bevölkerung ist es aber erstmals im Jahre 2003 gekommen. Im direkten Vergleich zum Vorjahr hat sich die Gesamtzahl der Bevölkerung um 5000 verringert. Die bisherigen Verluste sind durch Zuwanderung kompensiert worden. Das wiederum hat dazu geführt, dass jeder fünfte Bewohner der Bundesrepublik entweder ausländischer Staatsbürger ist oder aber eine Migrationsgeschichte hat. Es ist weiterhin von einer langfristigen Nettozuwanderung von jährlich etwa 200.000 Menschen auszugehen. Um den tatsächlichen Rückgang der Bevölkerung aufzuhalten, müssten jährlich 3,5 Millionen Menschen zuwandern. Ein solches Szenario ist aber unwahrscheinlich. Somit wird sich der tatsächliche Rückgang der Bevölkerung aller Voraussicht nach fortsetzen, weil sich der Bevölkerungsrückgang aus sich selbst heraus beschleunigt. Die absoluten Bevölkerungszahlen werden weiter zurückgehen, da sich die Jahrgänge der gebärfähigen Frauen immer weiter ausdünnen. Damit muss dann auch die Gesamtgeburtenrate notwendigerweise zurückgehen. Der Rückgang der Gesamtgeburtenrate ist kein neuer Trend, sondern ist schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Seit nunmehr drei Jahrzehnten ist die Kinderzahl in Deutschland allerdings unter den Wert gefallen, der für eine dauerhaft stabile Bevölkerungsentwicklung notwendig ist. Mitte der 1980er Jahre wurde mit 1,3 Kindern pro Frau der historische Tiefstand erreicht.6 Derzeit liegt der Wert bei 1,4, damit aber weit unter der „Erhaltungsquote“ von 2,1 Kindern pro Frau. Eine Rate von 2,1 Kindern pro Frau führte langfristig zu einer konstanten Bevölkerungsentwicklung, weil dann jede Elterngeneration durch die gleiche Zahl an Nachkommen ersetzt werden würde. Eine Rate von 1,4 5 Vgl. dazu auch Lampert, Martin (2007): Demographischer Wandel in Deutschland. Analyse – Folgen – Handlungsempfehlungen, in: Amos, 1. Jg. , Heft 1, S. 22–30; und Keil, Tobias (2007): Der demografische Wandel als Grenze des Wirtschaftswachstums?, in: Deutscher Studienpreis (Hrsg.): Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer begrenzten Welt, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 115–137. 6 Der historische Höchststand wurde 1964 erreicht: In diesem Jahr wurde für die Frauen im gebärfähigen Alter eine durchschnittliche Zahl von 2,5 Kinder pro Frau ermittelt. 2 bedeutet hingegen, dass jede Generation um ein Viertel bis ein Drittel kleiner sein wird, als die jeweilige Generation davor. Die Bevölkerung schrumpft also in Zukunft immer schneller und der Überschuss der Sterbefälle gegenüber den Geburten kann nun auch nicht mehr durch die Zuwanderungen aus dem Ausland ausgeglichen werden. Der Hauptgrund dieser Entwicklung liegt darin, dass derzeit ein Drittel der Frauen der Jahrgänge ab 1965 zeitlebens kinderlos bleibt. Die Gruppe der Frauen mit zwei Kindern ist in geschichtlicher Perspektive hingegen konstant geblieben. Nochmals: Seit 2003 nimmt die Bevölkerung in Deutschland ab und damit setzt auch der starke Alterungsprozess der Bevölkerung ein. Das heißt, dass mit den heutigen Geburtenzahlen, bei der derzeitig vorausgesagten Lebenserwartung, und der derzeitigen Zuwanderung die Bevölkerungszahl im Jahr 2030 bei etwa 70 Millionen liegen wird. Jeder dritte Mensch wird dann in Deutschland älter als 60 Jahre sein, jeder zwölfte Bundesbürger älter als 80 Jahre. Selbst wenn die „Erhaltungsquote“ von 2,1 Kindern pro Frau plötzlich erreicht werden würde, dennoch setzt sich der Schrumpfungsprozess bis zum Jahr 2060 fort. Laut dem Demografen Herwig Birg sitzen wir in einer „demografischen Falle“, in der wir mindestens 50 Jahre verbleiben werden. Die vorherige Abbildung zeigt deutlich die abnehmende Bevölkerungsentwicklung. Dunkelblau eingefärbte Regionen schrumpfen derart stark, dass die Bevölkerung über 5 Prozent abnehmen kann. Die dunkelroten Regionen weisen hingegen eine positive Entwicklung auf. Hier nimmt die Bevölkerung um 7,5 Prozent und mehr zu. Die anderen Gebiete bewegen sich zwischen einer Abnahme von 1,5 bis 5 Prozent (hellblau) und einer Zunahme 1,5 und 7,5 Prozent (in Abstufungen rötlich eingefärbt). Wichtig ist, dass die Abbildung nicht die Geburtenrate der Regionen widerspiegelt, sondern ausschließlich die gesamte Bevölkerungsabnahme oder aber eben ihre Zunahme. Mit Blick auf die Geburtenrate ist festzustellen, dass es auch den demografisch prosperierenden Regionen, Gemeinden und Städten nicht gelingt, die Geburtenrate zu steigern und den Anstieg des Durchschnittsalters aufzuhalten. Alle Kommunen Deutschlands werden älter, auch wenn nicht alle Kommunen in Deutschland schrumpfen (werden). 3 Die alternde Gesellschaft Es ist festzuhalten, dass sich der Altersaufbau in Deutschland über einen langen Zeitraum verändert hat. Im Jahre 1910 konnte die Altersstruktur des Deutschen Reiches mit dem Begriff der „Pyramide“ beschrieben werden, während die Altersstruktur am Anfang der Bundesrepublik Deutschland mit dem Bild der „zerzausten Tanne“ plastisch dargestellt werden konnte. Derzeit sprechen die Demografen von einer „Zwiebel“. Für das Jahr 2050 wird dagegen das Bild einer „Urne“ verwendet. Während im Jahre 1900 nur wenige Menschen sehr alt wurden, wurden hingegen sehr viele Menschen geboren (das Verhältnis von Jungen und Mädchen ist hierbei ungefähr gleich). Daraus entsteht eine Figur mit einer breiten Basis, die sich dann nach oben hin zuspitzt (die „Pyramide“). Diese Altersstruktur verwandelte sich infolge der beiden Weltkriege zu einer „zerzausten Tanne“, weil die Kriegsverluste tiefe Einkerbungen hinterlassen haben. Auf die Figur der „Zwiebel“ und die Figur der „Urne“ hat nun die sinkende Geburtenrate einen entscheidenden Einfluss. Die „Zwiebel“ entsteht, weil die mittleren Jahrgänge derzeit sehr stark sind, während die Basis durch den Rückgang der Geburtenrate schmaler ausfällt. Diese „Zwiebel“ verwandelt sich infolge der Geburtenrate dann bald in eine „Urne“. Im Jahr 2050 wird erwartet, dass diese Basis der Neugeborenen im Verhältnis zu den älteren Personen noch schmaler ausfällt, es also in der Gesamtzahl mehr ältere als jüngere Menschen geben wird. Besonders stark sinken die Umfänge der Alterskohorten der bis zu 39-Jährigen, während die absolute Zahl der über 80-Jährigen ansteigen wird. Zur Veränderung des Altersaufbaus der Bevölkerung hat aber nicht ausschließlich der Rückgang der Geburtenrate, sondern auch die Veränderung der Sterberate beigetragen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit liegt bei derzeit 5,2 (auf 1000 Neugeborene), während die Lebenserwartung in Deutschland seit 1900 um über 30 Jahre gestiegen ist. Lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer im Jahr 1920 noch bei 44,8 und für Frauen bei 48,3 Jahren, so liegt die derzeitige durchschnittliche Lebenserwartung bei heute geborenen Jungen bei 74,8 Jahren, während heute geborene Mädchen durchschnittlich 80,8 Jahre alt werden. Für das Jahr 2050 für vorausgesagt, dass Jungen durchschnittlich 81,1 und Mädchen 86,6 Jahre alt werden. 4 Bezogen auf die Gesamtbevölkerung bedeutet das, dass der Anteil der 65-79-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bis 2020 um 5 Prozent zunehmen wird, während der Anteil der über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bis 2020 sogar um 60 Prozent zunehmen wird. Diese gesellschaftliche Entwicklung lässt sich nochmals regional ausdifferenzieren (vgl. die vorherige Abbildung). Es kommt zu einer überproportionalen Zunahme (dunkelrot eingefärbt) der Alten in den dünn besiedelten Regionen der neuen Länder. Auch die Umlandregionen der großen Städte altern stärker. Dieser Alterungsprozess von Regionen ist langfristig unumkehrbar. Der demografischen Wandel und die Regionen7 Durch den demografischen Wandel verfestigen sich der Wettbewerb und die Konkurrenz um die (jungen und produktiven) Menschen zwischen den Gemeinden und Regionen. Der demografische Wandel führt so zu einer gesellschaftlichen Spaltung, weil die demografischen Probleme ökonomische Probleme mit sich bringen, die wiederum zu demografischen Problemen führen – sie münden also in einer Abwärtsspirale. Auf der regionalen Ebene kommt es zur Spaltung in wirtschaftlich prosperierende Regionen, mit guter Sozialstruktur und überdurchschnittlichem Bruttosozialprodukt und wirtschaftlich schwachen Regionen, die sich durch Einkommens- aber auch Bildungsarmut auszeichnen. Deutschland zerfällt in Schwund- und Boomregionen, das heißt, in ein Nebeneinander von schrumpfenden und wachsenden Gemeinden. Während in den letzten 6 Jahren etwa 3000 Gemeinden um 3,2 Prozent der Bevölkerung angewachsen sind, ist die Bevölkerung in circa 1760 Gemeinden um 3 Prozent geschrumpft. Dabei gehören ländliche Regionen fast überall in Deutschland zu den Verlierern der Bevölkerungsentwicklung und werden damit auch wirtschaftlich von den anderen Regionen abgekoppelt. Diese Entwicklung liegt oftmals geografisch dicht beieinander. Doch durch eine Binnenmigration kommt es insbesondere zu einer verfestigten Spaltung zwischen West und Ost. Binnenmigration: Verfestigte West-Ost-Spaltung Die demografische Situation in den neuen Ländern stellt sich besonders dramatisch dar. Die Abwanderung der Bevölkerung hat mit der Wende im Jahre 1989 begonnen und konnte seitdem nicht gestoppt werden. Insgesamt sind rund 1,5 Millionen Menschen aus Ostdeutschland abgewandert und haben sich dauerhaft in den ökonomisch starken Regionen des Westens niedergelassen. Angeführt wird diese Wanderbewegung von jungen qualifizierten Menschen, mehrheitlich von Frauen (63 Prozent).8 Die Bevölkerung im Osten dünnt sich auch weiter aus. Stabil sind in den neuen Bundesländern ausschließlich die Regionen im Umfeld wichtiger Großstädte und auch die Bevölkerungszunahme im Osten konzentriert sich auf die suburbanen Räume der größeren Städte, zum Beispiel Leipzig und Dresden. Dazu zählt auch der Wirtschafts- und Technologiestandort Jena. Die brandenburgische Kommune Ahrensfelde im Nordosten Berlins profitiert von der Randlage zur Hauptstadt, ist somit ein Beispiel für eine Gemeinde im „Speckgürtel“ einer Metropole. Und auch die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam weist eine stabile, ja sogar steigende Entwicklung vor. 7 3 Vgl. hierzu folgende ausführliche Studie: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.) ( 2007): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München: Deutscher Taschenbuch Verlag; vgl. auch den Raumordnungsbericht des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung aus dem Jahre 2005, dem die hier abgedruckten Abbildungen entnommen sind. 8 Vgl. Berlin-Institut, Die demografische Lage der Nation, S. 36. 5 Doch insgesamt führt die Abwanderung gen Westen dazu, dass die meisten Regionen im Osten keine positive Bevölkerungsentwicklung aufweisen können und sich höchstens so genannte Leuchttürme, Zentren oder Kerne ausbilden. Einige Ost-Städte werden bald nur noch halb so groß sein, fast jeder Ort verliert per Saldo Einwohner und somit schrumpfen und altern drei von vier ostdeutschen Kommunen. Deshalb wurde auch das Förderprogramm „Städteumbau Ost“ der Bundesregierung initiiert. Damit werden der Abriss leerstehender und die Sanierung der verbleibenden Gebäude finanziert. Der Abriss trifft insbesondere Plattbausiedlungen an den Stadträndern, damit die Städte von außen nach innen schrumpfen können. Doch trotz dieser Stadtentwicklung bleibt es bei vielen Kommunen bei einem Gebäudeleerstand. So gibt es in Ostdeutschland immer noch circa 550.000 leerstehende Altbauten. Insgesamt summiert sich der Leerstand in Ostdeutschland auf 1,5 Millionen Wohnungen, was ungefähr 16 Prozent des Gesamtbestandes entspricht.9 Und neben diesem Gebäudeleerstand ist natürlich auch die Auslastung der kommunalen Infrastruktur betroffen. Sowohl mit Blick auf die vergangene als auch mit Blick auf die zukünftige Entwicklung lässt sich festhalten, dass im Westen die Zunahme, im Osten hingegen die Abnahme der Bevölkerung überwiegt. Die Ballungsräume im Westen profitieren von dieser Abwanderung aus dem Osten. Das gilt insbesondere für die süddeutschen Regionen in Bayern und Baden-Württemberg, die zwischen 2000 und 2004 allein 60 Prozent aller Binnenmigranten aus Ostdeutschland aufgenommen haben.10 Dennoch zeigt sich, dass auch im Westen der Anteil von Gemeinden mit abnehmender Bevölkerung zunimmt. Dazu gehören altindustrialisierte Regionen (insbesondere das Ruhrgebiet) und ländliche Strukturschwache Kreise. Auch in den westlichen Bundesländern gibt es Bevölkerungswachstum nur in Großstädten und Agglomerationszentren, allerdings greift die Zunahme im Westen wesentlich weiter ins Umland aus. Im Ost-West-Vergleich ist eine weitere signifikante Entwicklung zu beobachten. Während die Geburtenrate in den 1980er Jahren in Ostdeutschland deutlich höher als die Geburtenrate in Westdeutschland war, ist sie nach 1989 eingebrochen und um über die Hälfte auf eine Rate von 0,7 gefallen. Das ist der niedrigste Wert, der jemals in einem Land gemessen wurde und erst langsam hat sich diese Entwicklung wieder angeglichen, so dass sich die gesamtdeutsche Geburtenrate sich mittlerweile wieder fast auf einem einheitlichen Niveau bewegt. 9 Vgl. Berlin-Institut, Die demografische Lage der Nation, S. 42. Vgl. Berlin-Institut, Die demografische Lage der Nation, S. 44. In Bayern ist auffällig, dass die Bevölkerung sowohl um den Spessart und die Rhön, als auch im Bayrischen Wald sowie im Donauried abnimmt. Es ist augenfällig, dass sich diese strukturschwachen Regionen insbesondere im Grenzland befinden. 10 6 Die vorherige Abbildung mit dem Trend der Bevölkerungsentwicklung bis 2020 veranschaulicht die unterschiedliche Entwicklung zwischen Ost und West. Dunkelrot eingefärbt sind die Regionen, deren Bevölkerung stark zunimmt, dunkelblau sind die Regionen eingefärbt, deren Bevölkerungszahl stark abnimmt bzw. abnehmen wird. Es ist zu erwarten, dass es im Osten Deutschlands zukünftig gänzlich entvölkerte Landstriche geben wird. Die neue Landflucht Im Zusammenhang mit der Binnenmigration lässt sich also ein weiterer Trend beobachten: Immer mehr Menschen wandern vom Land in die Städte bzw. in die Umgebung der großen Metropolen. Dieser Trend zur Landflucht und zur Verstädterung lässt sich auch weltweit beobachten. Es gibt nun zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in den Städten als auf dem Land.11 Während die Städte in Deutschland über Jahre hinweg mit Abwanderungsverlusten konfrontiert wurden, kehrt sich dieser Trend nun um. Insbesondere die strukturschwachen ländlichen Regionen verzeichnen einen massiven Rückgang der Bevölkerungszahlen. Sozialethische Schlussfolgerungen Der demografische Wandel als politische Querschnittsaufgabe Der demografische Wandel kann die Probleme verschärfen, die derzeit auch unter dem Stichwort der Generationengerechtigkeit diskutiert werden. Eine fraktionsübergreifenden Initiative im Deutschen Bundestag versucht derzeit, eine Änderung des Grundgesetzes anzustrengen und will dort den Begriff der Generationengerechtigkeit systematisch einbinden. Die überwiegend jungen Politiker monieren, dass derzeit existierende Generationen gegenüber zukünftigen Generationen bevorzugt würden, weil deren Interessen in den politischen Lösungsansätzen nicht ausreichend berücksichtigt wür11 1950 gab es weltweit 86 Städte mit über eine Million Einwohner, mittlerweile sind es 400 und im Jahre 2015 werden es voraussichtlich 550 sein. Was diese Tendenz zur Verstädterung im weltweiten Kontext für soziale Auswirkungen hat wird geschildert in: Davis, Mike (2007): Planet der Slums, Berlin: Verlag Assoziation A. Vgl. 2 dazu auch Sassen, Saskia ( 2000): Metropolen des Weltmarkts, Frankfurt am Main – New York: Campus Verlag. 7 den. Es ist interessant, dass die Politiker zwar die temporale Dimension des Verbrauch natürlicher Ressourcen und die Schädigung natürlicher Lebensgrundlagen (Stichwort Klimawandel) nennen und auch die zeitlich verschobenen Auswirkungen der Staatsverschuldung und der Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit anführen, nicht aber die Konsequenzen, die aus dem demografischen Wandel resultieren (können).12 Mit Blick auf den demografischen Wandel ist zuerst einmal festzustellen: Mit dem Ausgangspunkt der demografischen Entwicklung – der rückläufigen Geburtenrate seit den 1970er Jahren – steht Deutschland im Vergleich mit anderen Industrienationen nicht alleine. Alle Industrienationen teilen miteinander das Schicksal, dass sie in den 1970er Jahren einen Geburtenrückgang erlebt haben. Deutschland ist also keine Ausnahme, sondern ein demografischer Normalfall. Aber die Veränderung der Altersstruktur fällt in Deutschland besonders deutlich aus (so auch in Portugal und Italien). Nicht die schrumpfende Gesellschaft, sondern die alternde Gesellschaft ist das Spezifikum der deutschen Situation. Auch ist festzustellen: Eine demografische Abwärtsentwicklung ist nur sehr schwer umzukehren, das gilt sowohl für die einzelnen Regionen als auch mit Blick auf die Entwicklung der Geburtenrate insgesamt. Sofern man aber davon ausgeht, dass der demografische Wandel ein politisch beeinflussbarer Transformationsprozess ist, handelt es sich bei der Gestaltung des demografischen Wandels um eine politische Querschnittsaufgabe.13 Davon betroffen sind die Familienpolitik, die Infrastruktur- und Wohnungspolitik, die Migrations- und Integrationspolitik, die Sozialsysteme, die Ausgestaltung der Pflege usw. Zudem müssen verschiedene Prozesse gleichzeitig politisch gestaltet werden. Einerseits müssen die Schrumpfungsprozesse gesteuert werden und die unterschiedlichen Bereiche müssen an die Veränderungsprozesse angepasst werden („demografieresistent“ gemacht werden). Andererseits muss die Politik Maßnahmen ergreifen, die zu einer dauerhaften Anhebung der Geburtenrate führen. Denn die niedrigen Geburtenraten sind in den vergangenen dreißig Jahren tief in das gesellschaftliche Selbstverständnis der Bevölkerung eingesickert. Ängste und Panik sind nun kein guter Ratgeber für die Prozesse der Urteilsbildung und der politischen Willensbildung. Aufgeregte Debatten dürften keinen besonderen Einfluss auf die derzeitige und zukünftige Geburtenentwicklung haben. Es gilt vielmehr, ein gesellschaftliches Leitbild zu entwickeln, das die Anpassungsleistungen an die demografische Entwicklung nennt, aber auch eine Perspektive für eine kinderfreundliche Gesellschaft entwickelt. Die politischen Reaktionen auf den demografischen Wandel haben sich bislang sehr stark auf die Reform der Sicherungssysteme bezogen, das heißt sie sind als Anpassungsleistungen zu verstehen. Eine nachhaltige politische Strategie zur Anhebung der Geburtenrate auf das Erhaltungsniveau ist bislang nicht aufgelegt worden. Abschließend einige (verstreute) Anmerkungen zur Ausformulierung eines solchen Leitbildes:14 12 Vgl. zum „Generationengerechtigkeitsgesetz“: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/3399 vom 09. November 2006, S. 1–5. Vgl. zum Konzept der Generationengerechtigkeit auch die Studie von Veith, Werner (2006): Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. 13 Vgl. hierzu auch Kaufmann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 14 Bestimmte sozialethische Markierungen hat auch schon Marianne Heimbach-Steins in ihrem Beitrag vorgenommen: Vgl. Heimbach-Steins, Marianne (2007): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Christlich- 8 Es bedarf einer aktivierenden Politik zur Stabilisierung der Bevölkerungszahlen. Diese Debatte wird politisch derzeit zwar heftig geführt, aber die Ergebnisse sind nicht sehr Erfolg versprechend. Die strukturelle Benachteiligung von Eltern in der Wirtschafts- und Sozialordnung muss durch eine nachhaltige Umorientierung im Steuer- und Sozialversicherungsrecht korrigiert werden und es muss mit gezielter Kinder- und Familienpolitik auf die sogenannten Opportunitätskosten von Kindern eingewirkt werden. Da eine Erhöhung der Geburtenraten aber erst mit einer Verzögerung von 15 bis 20 Jahren spürbar wirksam werden wird, muss zugleich auch das Humanvermögen der jetzigen Generationen ausgebaut werden. Das heißt, dass nachhaltige Veränderungen im Bildungswesen herbeigeführt werden müssen. „Potenzielle Wachstumseinbußen durch einen gleichzeitig abnehmenden und alternden Humankapitalbestand können in Zukunft nur dann verhindert werden, wenn einerseits die kommende Generation ein höheres Bildungsniveau erreichen und andererseits möglich Produktivitäts- und Innovationseinbußen durch lebenslanges Lernen der Beschäftigten vermieden werden.“15 Es wird aufgrund der identischen Ausgangslage der westlichen Industrienationen zu einem Wettbewerb um hochqualifizierte Einwanderer kommen. Die Forderung nach mehr Einwanderung von Hochqualifizierten ist aus ethischer Perspektive aber nicht unproblematisch. Denn diese Hochqualifizierten wandern zumeist aus Ländern ab, die aufgrund des demografischen Wandels mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. So wird der Konkurrenzkampf um junge qualifizierte Arbeitskräfte von der nationalen Bühne auf die internationale Bühne gehoben. Außerdem gerät die Debatte um die Zuwanderung in eine bedenkliche Schieflage, weil diese nicht ausschließlich unter dem Vorzeichen des demografischen Wandels geführt werden kann.16 Es gibt keine seriösen ökonomischen Prognosen, die davon Ausgehen, dass die Deutschen im Jahr 2030 im Vergleich zum jetzigen Zeitpunkt zwingend ärmer sein müssen. Allerdings setzt das einige Veränderungen der Sozialversicherungssysteme voraus. Das tatsächliche Rentenalter muss mit der offiziellen Grenze von 65 Jahren in Übereinstimmung gebracht werden und angesichts der weiter steigenden Lebenserwartung auch angehoben werden. Das setzt aber bereits jetzt ein gesellschaftliches Umdenken voraus: Die Arbeitskraft der älteren Menschen darf nicht länger als unproduktiv diffamiert werden. Es ist nicht sicher, dass sich die Kreativität, Risikobereitschaft und Innovationskraft einer Gesellschaft verringern muss, wenn das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt. „Noch nie in der Geschichte der Republik gab es so viele „junge“ 60- und 70-Jährige, die sich engagiert und leistungsfähig für die Gesellschaft einsetzten – oder dies zumindest tun könnten. Etwa drei Viertel der Lebenszeit jenseits der 65 lassen sich ohne wesentliche gesundheitliche Beeinträchtigungen ver- sozialethische Perspektiven gegen Verunsicherung und Resignation, in: Christophorus, 52. Jg., Heft 3/2007, 88– 98. 15 Keil, Der demografische Wandel als Grenze des Wirtschaftswachstums?, S. 124. 16 Vgl. dazu Bohmeyer, Axel/Kurzke-Maasmeier, Stefan (2007): Caritas als Avantgarde der Integrationsgesellschaft, in: Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Caritas 2008: Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg: Deutscher Caritasverband 2007, 141–147. 9 bringen.“17 Das Potenzial der Alten liegt derzeit noch brach. Eine mental und wirtschaftlich kreative und innovative Gesellschaft muss durch einen Alterungsprozess nicht einfach aussterben. Auch der Anstieg der Lebenserwartung im Bereich der medizinischen Versorgung muss ebenfalls nicht zum Kollaps der Krankenversicherung führen, weil die Alten und Hochbetagen nicht zwingend mehr medizinische Betreuung benötigen. Es muss gelingen, das Erwerbspotenzial insgesamt zu erhöhen und Arbeitslose zu beschäftigen. Denn die hohe Arbeitslosigkeit ist auch ein Grund, warum die Finanzierung unserer Sozialsysteme so stark unter Druck geraten ist. Neben der gezielten Wiedereingliederung der Älteren in den Arbeitsprozess muss die Vereinbarkeitsdebatte der Jüngeren noch stärker in den Vordergrund rücken. Das betrifft zum einen die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Kindern, denn in den letzten Jahrzehnten wurde die Geburt des ersten Kindes bei den Frauen hinter die Ausbildung und Berufserfahrung geschoben. Zum einen muss die Vereinbarkeitsdebatte aber auch im Zusammenhang mit der Pflege von hochbetagten Angehörigen geführt werden. In gewisser weise muss ein Umbau der Lebensläufe gelingen, was sowohl die jungen als auch die älteren Generationen betrifft. Allerdings bringt das besondere sozialethische Fragestellungen mit sich.18 Zum Autor Axel Bohmeyer, Dr. phil., geb. 1975, Studium der Philosophie (Bakkalaureat), Theologie (Diplom) und Erziehungswissenschaften (Diplom) in Frankfurt am Main, Köln und Wien. Geschäftsführer des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik (ICEP) und Dozent für Anthropologie und Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB). Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Ethik Sozialer Arbeit, Ethik des Sozialstaats, philosophischtheologische Grundlagen der christlichen Sozialethik (Anerkennungsethik, Diskursethik), anthropologische Grundfragen. Letzte Veröffentlichungen: Gesellschaftliche Integration im Modus sozialer Anerkennung, in: Eckstein, Christiane/Filipovic, Alexander/Oostenryck, Klaus (Hrsg.): Beteiligung, Inklusion, Integration. Sozialethische Konzepte für die moderne Gesellschaft, Münster: Aschendorff Verlag, S. 29–41; Jenseits der Diskursethik. Christliche Sozialethik und Axel Honneths Theorie sozialer Anerkennung, Münster: Aschendorff Verlag. Anschrift: Köpenicker Allee 39–57, 10318 Berlin. Telefon: 030/501010914. E-Mail: [email protected]. Homepage: www.icep-berlin.de 17 Berlin-Institut, Die demografische Lage der Nation, S. 34. Vgl. Baumgartner, Isidor/Wohlfarth, Albert (2005): Personale Entfaltung und soziale Bindung in den Lebensphasen und Lebensformen, in: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch. Band 2: Konkretionen, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, S. 193–227. 18 10