Die Rote Armee vor Berlin - Brandenburgische Landeszentrale für

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Kurt Arlt
Die Rote Armee vor Berlin
Kritische Anmerkungen zu Kampfführung, Machtausübung
und Verhalten mit dem Abstand von 60 Jahren
Wenn bei der heutigen Veranstaltung ein Vortrag speziell der Roten
Armee gewidmet wird, hat dies aus zweierlei Gründen seine besondere
Berechtigung:
Zum einen brach die Rote Armee gerade in dieser Region in der Endphase des Zweiten Weltkriegs den Widerstand der in einem sinnlosen
Kampf stehenden Wehrmacht. Die von hier ausgehende Offensive zur
Einnahme Berlins leitete die bedingungslose Kapitulation Deutschlands
ein. Die Streitkräfte der Sowjetunion haben in einem langen Ringen
unter unsäglichen Opfern einen entscheidenden Beitrag geleistet, um
den von Deutschland entfesselten verheerendsten aller Kriege zu beenden und die Welt, unser Land eingeschlossen, vom Nationalsozialismus
zu befreien, eine Tat, die auch nach sechzig Jahren nichts von ihrer
geschichtlichen Bedeutung eingebüßt hat.
Zum anderen, weil sich die blutigen Kämpfe, der Einmarsch und der
dem Kriegsende folgende nahezu fünfzig Jahre andauernde Aufenthalt
dieser Armee auf deutschem Boden mit positiven Erfahrungen, aber
auch mit nur langsam verwachsenden Wunden tief in das Gedächtnis
unseres Volkes eingebrannt haben. Die Rote Armee stand für Neubeginn, Hilfe und Unterstützung, aber auch für, Leid, Unrecht und Willkür, für einschneidende, gewaltsam vorgenommene gesellschaftliche
Veränderungen. Mit ihrer militärischen Macht bildeten die Streitkräfte
der Sowjetunion hier ein halbes Menschenleben lang den Fels, an dem
sich alle Bestrebungen nach Demokratie und Selbstbestimmung brachen.
Heute mit dem Abstand von 60 Jahren, zumeist der Generation
angehörend, die den furchtbaren Krieg nicht mehr kennen und fürchten
gelernt hat, mit dem Wissen um den Ausgang der Geschehnisse und
vielfach im Besitz der Dokumente dieser Zeit, fällt es uns leichter, die
damaligen Ereignisse zu bewerten. Und trotzdem bergen die Geschehnisse jener Jahre noch immer viele Widersprüche, werden kontravers
diskutiert und können nicht auf eine einzige Aussage, etwa gar die
Wahrheit, reduziert werden. Die Rote Armee und ihr Soldat verhielten
sich in diesem Krieg besonders auf deutschem Boden nicht so, wie es
hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit suggeriert wurde und wie
es uns die Heldenepen und Denkmäler wahrmachen wollen. Auch diejenigen, die man am 22. Juni 1941 überfallen und mit einem blutigen,
verbrecherischen und die Vernichtung ganzer Völker verfolgenden Krieg
überzogen hatte, vermochten es aus den unterschiedlichsten Motiven
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und Gründen heraus vielfach nicht, den Krieg nach „Kriegsrecht”,
„human”, unter Schonung menschlichen Lebens, zu führen. Während
sich der Soldat als Individuum der mit dem Krieg einhergehenden
Verrohung nur schwer entziehen konnte, stellten die Streitkräfte in ihrer
Gesamtheit ein Werkzeug und Mittel zur Durchsetzung politischer
Interessen dar. Diese Konflikte und Widersprüche ließen sich auch Roten
Armee nicht auflösen, wie im Folgenden näher dargestellt werden soll.
Obwohl Perestroika in der Sowjetunion und die Wende in der damaligen DDR für die jüngere Generation beinahe schon zu historischen
Begriffen geworden sind, bleiben Aufarbeitung und Auseinandersetzung
mit diesem Abschnitt unserer Geschichte eine notwendige und jederzeit
aktuelle Aufgabe.
1. Die Kampfführung der Roten Armee in der letzten Kriegsphase
und der Einfluss der Politik
Betrachten wir aus sowjetischer Sicht die militärische Lage, wie sie sich
vor 60 Jahren zeigte, so waren tiefe Genugtuung und Optimismus
durchaus am Platze: Nach den bitteren ersten Kriegsjahren hatte die
Rote Armee der Wehrmacht schwere Niederlagen zufügen können; die
gemeinsamen Anstrengungen der Alliierten ließen Deutschland keinerlei
Chance auf einen siegreichen Ausgang des Krieges. Die Oder-WeichselOffensive der Roten Armee, die am 12. Januar 1945 einsetzte, hatte die
deutschen Hoffnungen auf ein Halten der Verteidigung im Osten
zunichte gemacht. In kürzester Zeit überrannte die Rote Armee die
Verteidigungsstellungen an der Weichsel und an den Reichsgrenzen.
Nachdem es der Roten Armee am 31. Januar gelungen war, einen
Brückenkopf nördlich und wenige Zeit später einen zweiten südlich von
Küstrin auf dem Westufer der Oder zu bilden, war der Oberbefehlshaber
der 1. Weißrussischen Front Marschall der Sowjetunion Shukov zuversichtlich, am 1. oder 2. Februar auf breiter Front die Oder forcieren und
den Angriff weiter auf Berlin führen zu können. Er beabsichtigte von hier
aus zur entscheidenden Offensive anzutreten, denn die sowjetische
Führung erwartete von einer Einnahme Berlins nicht mehr und nicht
weniger als das Kriegsende in Europa. Diese Erwartungen erfüllten sich
jedoch nicht, die sowjetischen Truppen konnten zwar die beiden
Brückenköpfe halten, aber trotz größter Anstrengungen vorerst nicht
erweitern.
Die deutsche Führung hingegen war bemüht, die Brückenköpfe zu
liquidieren bzw. als dies nicht mehr möglich war, den Raum zwischen
Oder und Berlin zu befestigen und zu verteidigen, um einen Durchbruch
der Roten Armee in das Zentrum des Reiches zu vereiteln. Sie versuchte,
alle zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Kräfte und Mittel aufzubieten, allerdings kaum noch mit Aussicht auf eine siegreiche Entscheidung
an der Oder. Ihre Anstrengungen, den Krieg im Osten so lange wie mög-
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lich zu führen, klammerten sich an die Illusion, vielleicht doch noch eine
wie auch immer geartete Vereinbarung mit den Westmächten erzielen
und damit – ähnlich dem vermeintlichen Wunder, wie es BrandenburgPreußen im Siebenjährigen Krieg erlebt hatte – aus dem Krieg ohne die
vollständige Niederlage herauskommen zu können.
Shukov hielt an seiner Planung fest: Bereit am 10. Februar legte er
Stalin einen Plan für den Angriff auf Berlin vor, wonach seine Truppen nach entsprechender Verstärkung auf Kosten der rechts und links von
ihm handelnden Fronten und durch Zuführung von Reserven - am 20.
Februar zum Angriff antreten sollten. Das Hauptquartier und insbesondere Stalin aber bremsten Shukovs Elan und lehnten ab. Warum wohl?
Nun, erstens wurden militärische Gründe ins Feld geführt. Das
Hauptquartier, die „Stavka”, wollte das damit verbundene Risiko nicht
eingehen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch Schlesien, Pommern,
das Gebiet bis Danzig und Teile Ostpreußens in deutscher Hand.
Es rechnete mit einem deutschen Zangenangriff aus Schlesien und
Pommern, der zu einer erheblichen Beeinträchtigung oder unter Umständen gar zu einem Misslingen der eigenen Angriffsoperation hätte
führen können. Es entschied daher, sich längerfristig und sorgfältig auf
den Vorstoß nach Berlin vorzubereiten. Die vorbereitenden Maßnahmen
sollten Angriffe in Richtung Schlesien und Pommern zur Beseitigung der
Gefahren an den Flanken, Bereitstellung starker Reserven, Abstimmung
mit den anderen Fronten u. a. beinhalten.
Zweitens – so wissen wir heute – spielten auch politische Gründe eine
gewichtige Rolle: Inzwischen hatte bekanntlich die Krim-Konferenz
stattgefunden (4.-11. Februar 1945). Hier waren wichtige Entscheidungen zur politischen und territorialen Nachkriegsgestaltung Deutschlands
und Europas getroffen worden. Nicht zuletzt hatten sich die Alliierten zu
den Nachkriegsgrenzen Deutschlands und seiner Einteilung in Besatzungszonen, zu den Westgrenzen der Sowjetunion und damit zu einer
Entschädigung Polens durch Übergabe deutscher Territorien, zu deutschen Reparationsleistungen u. a. geeinigt. Sollten die hierin enthaltenen
sowjetischen Forderungen tatsächlich nach Kriegsschluss durchsetzbar
sein, mussten die zu diesem Zeitpunkt teilweise noch von der Wehrmacht besetzten Gebiete unter sowjetische Kontrolle gebracht werden.
Ein hastig geführter und misslungener Angriff auf Berlin hätte zudem die
politische Position der Sowjetunion unweigerlich erschüttert. Für den
Stoß auf die Reichshauptstadt verblieb also Stalin noch ausreichend Zeit,
denn die Alliierten waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht wesentlich
über die Westgrenze des Reiches hinaus vorgedrungen.
Dann aber gewannen die anglo-amerikanischen Truppen Raum, bis
zum 23. März erreichten sie auf breiter Linie den Rhein. Die Rote Armee
hatte inzwischen die vom Hauptquartier geplanten Offensiven erfolgreich vorgetragen und Pommern, ganz Ostpreußen und große Teile
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Schlesiens (mit Ausnahme der Städte Danzig, Königsberg und Breslau)
eingenommen. Sie stand aber immer noch in den - zwar erheblich ausgebauten und befestigten - Brückenköpfen am Oderufer, so dass die
Entfernung bis Berlin keinen Kilometer kürzer geworden war.
Am 5. April hatten die westlichen Alliierten das Ruhrgebiet eingeschlossen und erhebliche Teile Südwestdeutschlands besetzt. Nunmehr
konnten die amerikanischen und englischen Panzer zügig in der norddeutsche Tiefebene vorrollen. Vor allem jedoch bestand dadurch aus
sowjetischer Sicht die reale Gefahr – was auch dann eintrat –, dass die
westlichen Verbündeten in die der Sowjetunion zugesprochenen Besatzungsgebiete einmarschieren würden. Die Rote Armee hatte zwar inzwischen Danzig einnehmen können, trat aber vor Berlin immer noch auf
der Stelle
Jetzt drängte Stalin, er befürchtete, dass die Deutschen die Alliierten
durch die Hintertür nach Berlin lassen könnten und er mit leeren Händen
dastehen würde. Er brauchte aber unbedingt die Einnahme Berlins!
Berlin hatte für ihn einen außerordentlichen moralischen und propagandistischen Wert, es verkörperte schlechthin das Ziel des von der
Sowjetunion geführten Krieges. Die Reichshauptstadt konnte aber auch
das Faustpfand für die von den Alliierten besetzten Gebiete in Thüringen, Sachsen-Anhalt und/oder Mecklenburg darstellen. Stalin misstraute seinen Verbündeten und vor allem Churchill zu sehr, als dass er die getroffenen Vereinbarungen nicht durch vollendete Tatsachen untermauert
hätte.
Am 2. April erließ die „Stavka” die Direktive zum Angriff auf Berlin.
Der Termin für die Offensive der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Shukov – seine Truppen sollten die Reichshauptstadt einnehmen –
und der 1.Ukrainischen Front unter Marschall Konev wurde dann auf
den 16. April festgelegt, obwohl die letzten Vorbereitungen noch nicht
abgeschlossen waren und die 2. Weißrussische Front unter Marschall
Rokossovskij erst fünf Tage später angreifen konnte.
Stalins Eile wird bei einem Blick auf die Lagekarte deutlich: Bereits am
11. April hatten amerikanische Panzerspitzen bei Schönebeck die Elbe
erreicht und weiter südlich die Saale. Am 15. April standen sie auf breiter Front an der Elbe mit einem Brückenkopf bei Barby und hatten weiter südlich bei Grimma die Mulde erreicht (beide Flüsse waren als Haltelinie von den drei Alliierten vereinbart worden). Berlin war damit für die
westlichen Alliierten nicht mehr unerreichbar; entsprechende Überlegungen für eine Offensive in Richtung Berlin wurden zwar angestellt, dann
aber doch fallengelassen. Shukov aber stand unter dem Zeitdruck Stalins.
Wenn hier nicht das eigentliche Ziel der Schlacht um die Seelower
Höhen – die Einnahme Berlins – im Mittelpunkt stehen soll und ausschließlich auf die Kämpfe im Raum Seelow eingegangen wird, gibt es
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durchaus Gründe dafür: Seelow stand immer im Schatten der Einnahme
Berlins und des Sieges der Alliierten über Deutschland, dies wird sich
auch nicht ändern. Über die Eroberung Berlins ist in Ost und West hinreichend publiziert und sinniert worden. Aber - und das macht es eben
gerade interessant - es gibt bis heute keine gründliche sowjetische oder
russische Untersuchung zur Schlacht um die Seelower Höhen. Über die
Gründe lässt sich nur spekulieren: Seelow war kein Ruhmesblatt der
sowjetischen Kriegskunst; es gab fehlerhafte Entscheidungen mit Auswirkungen in einer Größenordnung, die in einem demokratischen Staat
möglicherweise kriegsgerichtliche Untersuchungen nach sich gezogen
hätten.
Greifen wir drei Probleme der sowjetischen Kriegführung vor Seelow
heraus:
- den Einsatz der Panzerverbände,
- die Verwendung von Flakscheinwerfern als „Überraschungsmittel” und
- die Wirksamkeit der sowjetischen Aufklärung.
Die Rote Armee hatte für den Angriff auf die Seelower Höhen eine
ungeheure militärische Macht bereitgestellt, der die Wehrmacht nur
wenig entgegensetzen konnte. Ich will die Überlegenheit an Kräften und
Mitteln nicht im Detail auflisten, sondern nur drei Zahlen nennen: Pro
Frontkilometer standen 1.282 Mann Infanterie und 280 Geschütze
bereit (natürlich entsprechend in der Tiefe gestaffelt). Über 4.000 Panzer
und Sturmgeschütze sollten auf den wenigen geeigneten Straßen –
sowjetische Panzergeneräle bezeichneten vier Straßen im Oderbruch als
panzergängig – vormarschieren. Die hier zusammengeballten militärischen Kräfte und Mittel ließen sich kaum noch beherrschen, sie behinderten sich gegenseitig in ihrer Wirksamkeit. Die extreme Dichte an militärischem Gerät verkehrte sich nun schon beinahe in militärischen
Unsinn, sie ließ kaum noch Manövrieren zu und musste zu entsprechenden Verlusten auch durch eigene Waffenwirkung führen.
Der Angriff der 1. Weißrussischen Front war so geplant: Die Infanterie sollte mit Artillerieunterstützung angreifen, nach dem Durchbruch
durch die erste Verteidigungsstellung des Gegners war vorgesehen, die
bereitstehenden zwei Panzerarmeen einzuführen, um den Durchbruch
zu erweitern und nach Berlin vorzustoßen. Ein gewaltiger Frontalangriff
sollte dabei auf einem ungewöhnlich breiten Abschnitt von 44 km (entsprach einem Viertel des gesamten Abschnittes der 1. Weißrussischen
Front) den Durchbruch erzwingen. Dies stand im Widerspruch zu den
militärischen Normen, die einen möglichst schmalen Durchbruchsabschnitt vorsehen, um entsprechende Wirkung zu erzielen (so hatte der
Durchbruchsabschnitt an der Weichsel nur 1/7 der Handlungsbreite der
Front betragen). Shukov erklärte später zu seiner Rechtfertigung, er
habe mit diesem Großangriff möglichst viele gegnerische Truppen schon
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auf den Seelower Höhen binden und zerschlagen, sie also aus Berlin heraus in das offene Gelände ziehen wollen.
Der Angriff blieb aber stecken, weil sich die deutschen Verteidiger
ihren Möglichkeiten entsprechend optimal auf die Abwehr eingerichtet
hatten, die Angreifer nicht konzentriert geführt wurden und weitere
Fehler auf sowjetischer Seite wie mangelhafte Aufklärung der deutschen
Feuermittel, schematisches Anrennen u. a. hinzutraten. Shukov beschloss daher bereits am Nachmittag des 16. April, die beiden Panzerarmeen einzusetzen. Aufgrund der Geländebedingungen verfügten aber
die Panzer kaum über die notwendige Bewegungsfreiheit, sie bewegten
sich durch die Gefechtsordnung der Infanterie hindurch und behinderten
in der ersten Zeit eher die Führung der Truppen, als dass sie die
Angriffswucht erhöht hätten. Da der Einsatz der Panzer so nicht geplant
gewesen war, mussten die Panzerkolonnen zum Teil an zerstörten
Brücken wieder umkehren und sich neue Übersetzstellen suchen. Die
Meldungen des 12. Garde-Panzerkorps (Sollbestand von 207 Pan-zern
und 63 Sturmgeschützen und der 47. Panzerbrigade (Sollbestand von 65
Panzern) belegen, welche fatalen Auswirkungen dieses „Umherirren”
mehrerer Panzerkolonnen haben musste – es gab Meldungen, wonach
Panzer die eigenen Infanterie überrollten. Erst am dritten Tag, als die
sowjetischen Verbände den Höhenzug erreicht hatten, konnten die
Panzer ihre Wirksamkeit entfalten – allerdings waren bereits viele im
Feuer deutscher Geschütze gestoppt worden.
Das Oberkommando der Front ließen die hohen Verluste gleichgültig, immer wieder wurde von den unterstellten Kommandeuren gefordert, die befohlenen Linien „um jeden Preis” zu erreichen. Für den
schnellen Erfolg und zum Ruhm der militärischen Führung spielten
Verluste an Menschenleben selbst in den letzten Tagen des Krieges nur
eine untergeordnete Rolle:
„... Ja, wir haben damit gerechnet, dass wir dabei Panzer einbüßen werden. Aber wir wussten, selbst wenn wir dabei die Hälfte [der Panzer]
verlieren, werden wir immer noch mit zwei Tausend Panzerfahrzeugen
bis Berlin kommen; und das reicht, um Berlin einzunehmen. …”
Aus dem Referat des Mitgliedes des Militärrates der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Generalleutnant Telegin
während der wissenschaftlichen Konferenz zur Auswertung der Berliner
Operation (9. bis 12. April 1946, Babelsberg):
Als ein zweifelhaftes Unterstützungsmittel für den bereits auf die frühen Morgenstunden festgesetzten Angriff sollte sich der Einsatz zahlreicher Flak-Scheinwerfer erweisen. Shukov hatte die Scheinwerfer zur
Ausleuchtung des Gefechtsfeldes und Blendung des Gegners aufbauen
lassen und sich von dieser „wirksamen Neuheit” größte Effektivität versprochen. Die Praxis sah jedoch anders aus: Ein Teil der Scheinwerfer fiel
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bereits durch deutsches Maschinengewehrfeuer aus. Außerdem war die
Sicht durch Granateinschläge und die Rauchentwicklung so stark beeinträchtigt, dass die angreifenden Rotarmisten auf dem Gefechtsfeld nicht
mehr als üblich sahen, andererseits aber als angestrahlte Silhouetten für
den Gegner ein deutlich wahrnehmbares Ziel boten. Zudem gelang es
nicht, die Scheinwerfer so zu steuern, dass sie Ziele für die nachfolgende Bekämpfung durch Artillerie erfassen konnten. Im Übrigen ist die
sowjetische Kriegführung in der Nachkriegszeit nie mehr auf einen
Einsatz von Scheinwerfern bei einem Nachtangriff zurückgekommen.
Die sowjetische Aufklärung hatte während der Vorbereitung und im
Verlaufe der Schlacht um die Seelower Höhen im Grunde genommen
ihre Aufgaben nur mangelhaft erfüllt. Obwohl ausreichend Zeit für die
Aufklärung der deutschen Positionen, der Artilleriestellungen und der
Bereitstellungsräume für die Reserven zur Verfügung gestanden hatte
und die Luftaufklärung angesichts der kaum noch vorhandenen Gegenwehr der deutschen Luftwaffe ungehindert tätig werden konnte, blieben
die Aufklärungsergebnisse dürftig. Offensichtlich – in der Memoirenliteratur findet sich gelegentlich diese Aussage – waren nach den vorangegangenen erfolgreichen Offensiven eine gewisse Selbstzufriedenheit und
Unterschätzung der unterlegenen Wehrmacht eingetreten. Beteiligte
sowjetische Kommandeure haben später eingeschätzt, dass die Luftaufklärung unzureichend gewesen sei, man habe vielfach die gegnerischen
Stellungen und Verteidigungsabschnitte auf dem Höhenzug und vor
allem in der Tiefe nicht gekannt. Auf die schwache Aufklärung war dann
zurückzuführen, dass die gegnerischen Feuermittel nicht niedergehalten
wurden und sich die deutsche Infanterie bei der sowjetischen Artillerievorbereitung in der Masse zurückziehen konnte. Da die Artillerievorbereitung des Sturmangriffs bei Dunkelheit erfolgte, war auch eine
Korrektur des Feuers nur sehr schwer möglich. Mit den gleichen
Schwierigkeiten hatten die Bombenflugzeuge zu kämpfen, die ihre
Bombenlast zum Teil sogar über den eigenen Truppen ausklinkten.
Verhängnisvoll für den einfachen Kämpfer wirkte sich die in der russischen Literatur als „Wettlauf der Marschälle” bezeichnet Rivalität von
Shukov und Konev aus. Es sei hier nur kurz erwähnt, worum es sich
dabei handelt: Stalin hatte bei der Durchsprache der Berliner Operation
Shukov die Einnahme Berlins übertragen, wobei Konevs Front
Unterstützung geben sollte. Er hatte der Rivalität der beiden Marschälle
allerdings insoweit freien Raum gegeben, indem er die Trennungslinie
zwischen beiden Fronten nur bis Lübben festlegte und weinige Tage später noch nachsetzte: „Wer als erster Berlin erreicht, soll es auch einnehmen!” Dies veranlasste beide, ihre Truppen ohne Rücksicht auf Verluste
anzutreiben, um sich den Siegesruhm auf seine Fahnen heften zu können. Da Konev im Süden mit den Truppen seiner Front schneller die
deutsche Verteidigung durchbrach und seine beiden Panzerarmeen
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zügig vorstoßen konnten, hätte er diesen Wettlauf gewonnen, wenn
nicht Stalin eingegriffen hätte – so musste Konev seine Truppen aus
Berlin abziehen. Shukov sollte der Sieger von Berlin sein.
Diese Begleiterscheinungen der sowjetischen Kriegführung in den
letzten Kämpfen konnten nicht ohne Auswirkungen bleiben. Trotz
erdrückender Überlegenheit auf allen Gebieten erlitt insbesondere die 1.
Belorussische Front ungeheure Verluste. Die Frage nach den Ursachen ist
zwar in internen Untersuchungen vorsichtig gestellt worden (auf jener
militärinternen wissenschaftlichen Konferenz von 1946), aber die tatsächlichen Zahlen wurden viele Jahre lang unter Verschluss gehalten. Sie
sind erst 1995 veröffentlicht worden und lösten wegen ihrer Brisanz
sowohl unter den Militärs, die ausnahmslos als Shukov-Anhänger auftreten, ebenso wie in der kritisch eingestellten Öffentlichkeit einen Sturm
der Entrüstung aus. Wir wissen aber auch heute nur ungefähr, wie hoch
die Verluste waren:
Die Berliner Operation (16.4. bis 8.5.1945, ohne Prager Operation)
forderte insgesamt 361.367 Tote und Verwundete aus den Reihen der
Roten Armee (dazu kamen noch 8.892 Tote und Verwundete bei den an
der Seite der Roten Armee kämpfenden polnischen Verbänden). Die
durchschnittlichen Ausfälle betrugen 15.712 Mann pro Tag (allerdings
lagen dazwischen Tage mit geringerer Gefechtsintensität - nach dem
Durchbruch durch die Stellungen vor Seelow, nach der Einnahme
Berlins), sie waren damit weit höher als bei allen Angriffsoperationen der
Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, höher als bei Moskau, Stalingrad
oder Kursk. An Toten werden offiziell 81.000 Mann angegeben, allerdings sprach Generaloberst Gorbatow – damals Befehlshaber der 3.
Armee in der 1. Weißrussischen Front – von mehr als 200.000 Toten.
Diese Zahl dürfte der Wahrheit eher nahe kommen.
Immense Verluste waren auch bei militärischem Gerät zu verzeichnen: 1.997 Panzer und Sturmgeschütze sowie 917 Kampfflugzeuge gingen verloren. Zum Vergleich: Deutschland produzierte auf dem
Höhepunkt seiner Rüstung im Juli 1944 1.647 Panzer und Sturmgeschütze, die Sowjetunion 2.534 Stück). Die hohen sowjetischen Flugzeugverluste überraschen, da die deutsche Luftwaffe im April 1945
kaum noch Einsätze fliegen konnte, die Flak-Artillerie aber offensichtlich
recht wirksam agierte.
Der Angriff auf die Seelower Höhen war in der Tat keine Meisterleistung sowjetischer Kriegskunst. Shukov – und mit ihm das Hauptquartier – wollten unter Ausnutzung einer drückenden Überlegenheit in kürzester Zeit im Frontalangriff die deutsche Verteidigung durchbrechen.
Direkte Fehler bei der Planung und Führung der Kämpfe um die
Seelower Höhen hat Shukov nie zugegeben. Er erklärte nach dem Kriege
lediglich, er habe sich vom erfolgreichen Durchbruch der deutschen Verteidigung an der Weichsel leiten lassen und daher wohl die Schwierig-
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keiten an den Seelower Höhen „etwas unterschätzt”. Und weiter kreidet er einigen seiner unterstellten Kommandeure an, nach den schnellen
Operationen bis zur Oder sowie in Ostpreußen und Pommern habe sich
eine gewisse Sorglosigkeit und Siegesgewissheit breitgemacht. Deutlich
wird aber, dass die sowjetische militärische Führung auch angesichts des
sicheren Sieges nicht willens war, das Leben der eigenen Soldaten zu
schonen. Immer wieder tauchen diese Wendungen in den Befehlen auf:
„um jeden Preis” oder „koste es, was es wolle”.
2. Das Individuum „Rotarmist”
und sein Verhalten in den letzten Kriegstagen
Wir wissen, wie außerordentlich schwierig es ist, ein Gesamtbild der
Soldaten zu zeichnen. Wie sah es also um den sowjetischen Soldaten an
der Oderfront im Frühjahr 1945 aus, war er motiviert, wie und wofür
kämpfte er? Die Spanne der Empfindungen, Gefühle und Wahrnehmungen ist – trotz einer straff geführten Propaganda und der Arbeit der
Politorgane - durchaus nicht einheitlich. Lassen wir an dieser Stelle
Soldatenbriefe sprechen, die ein recht guter Indikator dafür sind, ein
weitaus genauerer jedenfalls als die in regelmäßigen Abständen verfassten Stimmungs- und Meinungsberichte der Politoffiziere. Zwei Beispiele
mögen das belegen:
Aus dem letzten Brief des Offiziers B. (geb. 1905, gefallen bei Küstrin
am 18. April 1945) an seine Familie:
14. April 1945
„… Ich lebe noch und bin gesund. Zina, heute ist für mich und uns alle
ein feierlicher Tag – ein Zustand besonderer Gefühle, eines besonderen
Gemütszustandes. Heute nacht beginnen wir den Angriff – gegen eine
stark befestigte Verteidigungsstellung der Deutschen. Von der Stunde
unseres Sturmes an stehen uns grausame, schwere Kämpfe bevor …
Vieles möchte ich gerade jetzt sagen, weil man nicht weiß, ob dies nicht
der letzte Brief ist. Aber ich kann es nicht, aus Angst, dass mein Brief
wie ein Testament klingt, weil ich zu sterben nicht gestimmt bin und
dies nicht vorhabe. In den Kampf nehme ich eure Fotografien mit und
stecke sie in die Tasche über meinem Herzen, und das Sternchen von
meinem Söhnchen, das er für mich von seiner Mütze abnahm, steckt an
meinem Käppi …
Die Führung sagt uns, dass dies der letzte entscheidende, furchtbarste
Schlag für den Feind sein wird. Die Hitlerhorden wehren sich an unseren Fronten mit einem verzweifelten Wahnsinn und überlassen fast
kampflos unseren Verbündeten das Territorium im Westen Deutschlands …“
Brief des Rotarmisten Vladimir P. (geb. 1923, nach dem Krieg Schlosser)
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27. März 1945
„… Jetzt ist schon ordentlich viel Zeit vergangen, seit wir durch
Deutschland marschieren. Mir kommt die Ostsee in den Sinn, wo wir
die Fritzen ertränkt haben. Das alles liegt schon hinter uns. Jetzt befinde ich mich an einem der großen Flüsse Deutschlands, von Berlin nur 65
km entfernt. Wir setzen über die Oder, und von dort ist es nur noch ein
Katzensprung …”
Versucht man das Besondere zu erfassen, dass den Rotarmisten gerade in der Zeit an der Oderfront bewegte, lassen sich in den Feldpostbriefen und anderen Dokumenten zwei Faktoren festmachen: Es ist dies
einmal die Widerspiegelung des Zusammentreffens mit der deutschen
Zivilbevölkerung und zum anderen das sich nähernde Ende des Krieges.
Wenig verwunderlich unter den Rotarmisten ist die als Ergebnis einer
der faktisch seit Kriegsbeginn geführten Hasspropaganda, des im Krieg
erfahrenen vielfältigen individuellen Leids und des blutigen, abstumpfenden Kriegshandwerks zu beobachtende Mitleidslosigkeit gegenüber
den Deutschen schlechthin, die nun zu Recht Not und Entbehrungen am
eigenen Körper kennen lernen. Mit Erreichen deutscher Gebiete lässt sich
direkt beobachten, wie „der Deutsche” leidet, und dieses Leid kann aus
Rache durch eigenes Agieren sogar noch gesteigert werden. Dabei sind
nur selten Unterschiede zwischen der Wahrnehmung und Behandlung
des deutschen Soldaten auf der einen Seite – wie man ihn bereits seit
1941 zu kennen glaubte und wie er in der Propaganda dargestellt wurde
– und der deutschen Frau und dem deutschen Kind auszumachen. In vielen Briefen – aber ab welcher Menge sind hier Zahlen repräsentativ? –
steht der Vergeltungsgedanke im Vordergrund. Freilich darf dabei nicht
außer Acht gelassen werden, dass einer verbalen Äußerung im Brief
nicht in jedem Fall die Tat folgen musste, und umgekehrt – nicht jeder
Racheakt auch nach Hause berichtet wurde: Brief des Rotarmisten S.
(geb. 1910, gefallen im April 1945 an der Oder):
8. Februar 1945
„... Ich kämpfe jetzt auf feindlichem Territorium irgendwo an der Oder.
Wie erfreulich ist es doch, dass alle diese schrecklichen Gefechte nicht
in unserem heimatlichen Gebiet stattfinden, sondern auf feindlichem
Territorium. Deutschland brennt, ist ganz im Feuer. Unsere Soldaten
rächen sich jetzt für all das, was in der Zeit der deutschen Okkupation
über unser Volk kam, für all das rechnen wir ab. [...]
Hier in Deutschland geht es uns noch besser als den Deutschen bei uns,
und wir lassen uns nichts bieten. Wir nehmen uns, was das Herz
begehrt, denn die Deutschen haben während des Angriffs alles liegengelassen und versuchen nur, unserem Gericht zu entkommen. Aber weit
kommen sie nicht, überall findet sie unser Soldat und rechnet mit ihnen
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ab, wie es das Soldatengesetz befiehlt: Rache, Blut für Blut ... Ich schlage die Deutschen gnadenlos und treffsicher und habe mit keinem einzigen der lausigen Fritzen Mitleid ...“
Daneben stehen wiederum Aussagen, die belegen, dass es durchaus
Angehörige der Roten Armee gab, die diese blinde Rache ablehnten –
stellvertretend seien hier die Schriftsteller Kopelev und Solschenizyn
genannt. In verhaltener Form angesichts allgegenwärtigen Militärzensur
spiegelt sich dies auch in nachfolgendem Brief wider:
Aus den Fronttagebüchern des Schriftstellers David Samojlov (1920 1990)
10. Februar 1945
„… Ungeachtet des panischen Rückzugs der Deutschen haben wir nicht
das Gefühl, dass die Einnahme Berlins das Ende des Krieges bedeutet.
Hitler konnte der Bevölkerung Deutschlands einhämmern, dass der
Einmarsch der Russen für jeden Einzelnen den Tod bedeutet. Und man
muss schon sagen, dass sich unsere Soldaten kaum bemühen, diese
Behauptung zu widerlegen.”
Die sowjetische militärische Führung hat diese mit Erreichen deutschen
Gebietes auftretenden Erscheinungen von individueller Vergeltung hingenommen, solange nicht die Erfüllung der militärische Ziele dadurch
gefährdet war. Sie versuchte zwar, mit entsprechenden Weisungen
gegen Plünderungen, sinnlose Zerstörungen, Vergewaltigungen und
willkürliche Erschießungen vorzugehen, behandelte jedoch alle diese
Fälle unter dem Siegel strengster Geheimhaltung, als Ausnahmeerscheinungen und als der sowjetischen Moral und der Ethik des Sowjetsoldaten fremd. Aber allein die Tatsache, dass Dokumente der militärischen
und politischen Führung diesen Problemen ihre Aufmerksamkeit schenken mussten, belegt, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte, auch
wenn sich Zeitzeugen derartiger Exzesse in den Reihen ehemaliger
Rotarmisten kaum finden lassen. Der aus niedrigen Instinkten handelnde einfache Soldat konnte relativ sicher sein, seine Vorgehensweise unter
Verweis auf die gegenüber Deutschen erlassenen Bestimmungen des
Oberkommandos – dazu anschließend noch einige Bemerkungen –
gegenüber sich selbst und nach außen zu rechtfertigen. Es sollte auch
nicht verkannt werden, dass gerade die Befreiung der Konzentrationslager des Dritten Reiches und der Zwangsarbeiter seit Jahresbeginn 1945
eine neue Welle der Vergeltung auslösten.
Aus dem Protokoll einer Beratung der Politverwaltung der 2.
Weißrussischen Front zum politisch-moralischen Zustand der sowjetischen Truppen auf dem Territorium des Gegners vom 6. Februar 1945:
„… Selbstverständlich ist das Gefühl der Rache bei unseren Leuten
gewaltig, aber dieses Rachegefühl hat unsere Kämpfe in die Höhle des
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faschistischen Untiers geführt und wird uns weiter nach Deutschland
hineinbringen. Man darf Rache nicht mit Trunkenheit und Brandstiftung
gleichsetzen … Wir müssen dem Soldaten klarmachen, dass er, wenn er
im Hinterland irgendein altes deutsches Weib totschlägt, den Untergang
Deutschlands dadurch nicht beschleunigt. Der deutsche Soldat hingegen
ist zu vernichten, aber wenn er sich ergeben hat, ist er nach hinten zu
bringen. Die Hassgefühle der Menschen sind auf die Vernichtung des
Feindes auf dem Gefechtsfeld zu richten …”
Hinsichtlich des nahenden Kriegsendes konnte der einzelne Soldat zweifellos nicht überblicken, wie lange noch der Krieg gehen würde und welches Schicksal ihn noch erwarte. Aber aus der Masse der Feldpostbriefe
jener Tage wird doch deutlich, dass neue Gefühle und Erwartungen in
den Briefen ihren Niederschlag finden. Weitgehend einig waren sich alle
Rotarmisten, dass der Krieg sich langsam seinem Ende zuneigte. Ilja
Erenburg traf genau die Gefühle der einfachen Soldaten, als er formulierte: „Für jeden Kämpfer klingt 'Berlin' wie 'Nach Hause'.” Während der
Soldat verstandesmäßig erfasste, dass es noch einer letzten, besonderen
Kraftanstrengung bedurfte, keimte parallel dazu erstmals die Hoffnung,
dass man den Krieg vielleicht auch überleben könne. Und vorsichtig wird
überlegt, wie sich wohl das Leben ohne Krieg gestalten werde – was
kommt nach dem Krieg? Freilich war nicht zu erwartet, dass ein
Soldatenbrief zum Ausdruck bringt, man werde sich jetzt schonen, nicht
mehr viel riskieren – das hätte der Zensur auffallen und das Kriegsgericht
zur Folge haben können. Auch wenn die offiziöse Armeepresse und die
Flugblätter derartige Stimmungen der Soldaten glatt in Abrede stellen,
wird aus den Aufgabenstellungen an die Politoffiziere und die
Komsomol-Funktionäre sichtbar, dass derartige Tendenzen sehr wohl
auftraten. Es dürfte in den Einheiten auch für einzelne Kommandeure
eine größere moralische Last bedeutet haben, das Leben ihrer Soldaten
noch in den letzten Kriegstagen in sinnlosen Aktionen aufs Spiel setzen
zu müssen – was vielleicht auch beim Tode eines eigenen Mannes durch
die unbedachte Handlung eines einzelnen Deutschen unangemessene,
ungerechte Antwortreaktionen ausgelöst haben mag und in gewisser
Weise erklärt. Bald würde die im Krieg täglich, ja stündlich drohende
Gefahr für das eigene Leben und das der eigenen Leute nicht mehr ständiger Begleiter sein.
Vielen der einfachen Soldaten war das Kriegshandwerk nur aufgezwungen worden, sie wünschten sich nichts sehnlicher, als in die Familie,
die vertraute Umgebung und in den Beruf zurückkehren zu können. Sie
konnten allerdings nicht wissen, wie hoch der Preis sein würde, den sie
gerade in den letzten Operationen würden zahlen müssen – nicht nur,
weil sich die deutschen Streitkräfte aus Furcht vor dem Zusammenbruch
und den unausbleiblichen Konsequenzen des Krieges verzweifelt wehr-
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ten, weil inzwischen politisches Kalkül und persönliche Eitelkeit von
Marschällen anstelle nüchterner militärischer Überlegung die Entscheidungen bestimmten oder weil viele von ihnen nur wenige Tage nach der
Siegesfeier bereits die Marschbefehle zum Einsatz gegen Japan erhalten
würden. Der Sowjetsoldat aber empfand Stolz auf seine militärische
Leistung und dies zu Recht. Er hatte mit dazu beigetragen, dass ihm
seine Heimat erhalten geblieben war, dass das nationalsozialistische
Deutsche Reich mit seinen Welteroberungs- und Ausrottungsplänen
gescheitert war. Der einfache Rotarmist hatte allerdings keinen Einfluss
darauf, dass der Machtzuwachs der UdSSR einer Diktatur zugute kam
und er um die Früchte seiner übermenschlichen Anstrengungen und seiner Opferbereitschaft gebracht wurde.
3. Die Rote Armee als Mittel zur Durchsetzung staatlicher Gewalt
Die militärischen Verbände der Roten Armee repräsentierten nicht nur im
unmittelbaren Frontgebiet die vollziehende Gewalt, sondern je nach
Einsatzraum auch im tiefen rückwärtigen Heeresgebiet. Dazu verfügten
die Oberbefehlshaber der Fronten über alle dem sowjetischen Staatsaufbau entsprechenden Organe, die arbeitsteilig nahezu alle Funktionen
wahrnahmen, die auf sowjetischem Territorium ausgeübt wurden.
Hierzu gehörten Dienststellen des NKVD (= Volkskommissariat für Inönere Angelegenheiten), der Spionageabwehr und Militärgerichte,
denen die innere Sicherheit oblag, aber auch Dienststellen zur Ersatzgestellung, Rekrutierung von Personal und Gerät u. a. Mit Erreichen
deutschen Territoriums wurden insbesondere die Dienststellen zur inneren Sicherheit ausgebaut und neue Bereiche geschaffen, die den sowjetischen außenpolitischen, ökonomischen oder sicherheitspolitischen
Zielen gemäß erforderlich erschienen. Die Kommandeure der Roten
Armee setzten die hierzu erlassenen staatlichen Weisungen in ihrem
Verantwortungsbereich mit ihren Kräften und Mitteln - zumeist über
Kommandanturen - in die Praxis um. Für die deutschen Gebiete ostwärts
von Oder und Neiße bedeutete dies – allerdings bereits in einer etwas
gemilderten Form im Vergleich zur deutschen Bevölkerung in den
Balkanstaaten – die Deportation der arbeitsfähigen Bevölkerung in die
Sowjetunion zur Zwangsarbeit und mögliche Anwendung der Kriegsgerichtsbarkeit in der schärfsten Form gegenüber jedem Deutschen.
Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees Nr. 7467 ss vom 3.
Februar 1945 zur Unterbindung terroristischer Anschläge und zur
Ausweitung der Mobilisierung von Deutschen:
"... beschließt das Staatliche Verteidigungskomitee:
1. Die Oberbefehlshaber der 1. Weißrussischen Front, Gen. Shukov, der
2. Weißrussischen Front, Gen. Rokossovskij, der 3. Weißrussischen
Front, Gen. Tschernjachovskij, der 1. Ukrainischen Front, Gen. Konev,
haben - gemeinsam mit den jeweiligen Frontbevollmächtigten des
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NKVD der UdSSR [....] entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um im
Operationsgebiet der Roten Armee jegliche Versuche von feindlichen
Elementen, gleich ob Deutsche oder Angehörige anderer Nationalitäten,
zur aktiven Feindtätigkeit, gleich ob gegen Militäreinheiten oder einzelne Offiziere und Soldaten der Roten Armee gerichtet, zu unterbinden.
Durch gnadenlose Liquidierung an Ort und Stelle ist schonungslos mit
Personen abzurechnen, die terroristischer Anschläge und Diversionsakte
überführt sind.
2. Im Bereich der unter Pkt. 1 dieses Beschlusses genannten Fronten sind
alle zu körperlicher Arbeit tauglichen und waffenfähigen deutschen
Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren zu mobilisieren.
Die Deutschen, von denen festgestellt wird, dass sie in der deutschen
Armee bzw. in den Abteilungen des 'Volkssturms' gedient haben, gelten
als Kriegsgefangene und sind in NKVD-Lager für Kriegsgefangene zu
überstellen.
Von den übrigen mobilisierten Deutschen sind Arbeitsbataillone zu je
750 bis 1200 Personen für die Arbeit in der Sowjetunion [...] zu formieren ..."
Wie bereits auf polnischem Gebiet wurden weitere Personengruppen
verhaftet und ohne Gerichtsurteil in Lager auf dem Gebiet der Sowjetunion verbracht. Parallel dazu erfolgten unter strenger Geheimhaltung
durch die sogenannten Beuteeinheiten, deutsche Arbeitskräfte und
Fachleute aus der Sowjetunion Demontagen von Betrieben, Verkehrsanlagen, Forschungseinrichtungen u. a. So schuf Stalin in den von seinen
Streitkräften besetzten Gebieten noch bei laufenden Kampfhandlungen
und noch vor dem Inkrafttreten alliierter Vereinbarungen – oder unter
Missachtung derartiger Vereinbarungen - vollendete Tatsachen. In ähnlicher Weise wie in der Sowjetunion war auch der Deutsche im
Handlungsbereich der Roten Armee Willkür und Unrecht ausgesetzt,
denen in jenen Tagen allerdings durch die Gesetze des Krieges praktisch
keine ernsthaften Grenzen gesetzt waren. Für die deutsche Zivilbevölkerung war unter diesen Umständen kein Unterschied zwischen den
Angehörigen der kämpfenden Truppe und den NKVD-Uniformen auszumachen. Hinzu kam, dass es für die Deutschen in den Ostgebieten keinen Neuanfang mehr geben durfte, die Tage in ihrer Heimat waren
gezählt. Kann man es ihnen verdenken, wenn gerade sie sich mit einem
vorurteilsfreien Verhältnis zum "Befreier" lange schwer taten?
Erst sehr spät, nachdem die Rote Armee Oder und Neiße überschritten hatte – und wohl auch angesichts des bevorstehenden Zusammentreffens und der künftigen Zusammenarbeit mit den westlichen Alliierten
– änderte sich die Position der sowjetischen Führung gegenüber den
Deutschen – in den Gebieten, die auch weiterhin deutsch bleiben würden.
Direktive Nr. 11072 des Hauptquartiers des Oberkommandos vom 20.
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April 1945 an die Oberbefehlshaber der 1. und der 2. Belorussischen
sowie der 1. Ukrainischen Front über die Notwendigkeit eines humanen
Verhältnisses zur deutschen Bevölkerung und zu den Kriegsgefangenen:
"Das Hauptquartier des Oberkommandos befiehlt:
1. Von den Truppen ist zu verlangen, dass sie ihr Verhältnis zu den
Deutschen, sowohl den Kriegsgefangenen als auch der Zivilbevölkerung,
ändern und mit den Deutschen besser umgehen.
Ein harter Umgang mit den Deutschen ruft bei diesen Angst hervor und
treibt sie dazu, sich hartnäckig zu verteidigen und sich nicht in
Gefangenschaft zu begeben. Die Zivilbevölkerung fürchtet Rache und
organisiert sich in Banden. Eine solche Lage ist unvorteilhaft für uns.
Ein humaneres Verhältnis zu den Deutschen wird uns die Kampfführung
auf ihrem Territorium erleichtern und die Hartnäckigkeit der Deutschen
in der Verteidigung zweifellos mindern.
2. In den Gebieten Deutschlands westlich der Linie von der
Odermündung bis Fürstenberg und weiter entlang der Neiße (westliche)
sind deutsche Verwaltungen zu schaffen, in den Städten sind als
Bürgermeister Deutsche einzusetzen.
Einfache Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei sind, wenn sie sich
zur Roten Armee loyal verhalten und soweit sie noch nicht geflohen sind,
zu verschonen.
3. Die Verbesserung des Verhältnisses zu den Deutschen darf nicht zu
einer Minderung der Wachsamkeit und zu familiärem Verhalten gegenüber den Deutschen führen."
Das Kriegsende, die allmähliche Herstellung von Disziplin und Ordnung
in den sowjetischen Streitkräften und das Zurückziehen in die ehemaligen Wehrmachtskasernen schufen schrittweise die Voraussetzungen für
ein Abklingen der offenen Feindseligkeiten. Dazu trugen auch die Bildung der Militäradministration und die Übernahme der Verantwortung
für die Wiederingangsetzung des öffentlichen Lebens in der sowjetischen Besatzungszone bei. Die Maßnahmen zur Entmilitarisierung und
Entnazifizierung, die in Demontagen zahlreicher Fabriken und Verkehrsanlagen, Verhaftungen und Verurteilungen Schuldiger und Unschuldiger sowie in der Einrichtung von Internierungslagern und ihren äußeren
Ausdruck fanden, belasteten nachhaltig die Beziehungen zwischen den
Angehörigen der Roten Armee und den Deutschen. Auch die eher
zwangsweise Entwöhnung vom nationalsozialistischen Gedankengut –
später wurden dafür die Lehren von Lenin und Stalin verabreicht – fand
durchaus nicht ungeteilte Zustimmung. Die ungeliebten sowjetischen
Streitkräfte gehörten zum Alltag der sowjetischen Besatzungszone, mit
ihnen galt es sich abzufinden. Erst das Engagement vieler Militärkommandanten und ihrer Mitarbeiter für die Belange der deutschen Bürger
hat in einem mühsamen Prozess einen Wahrnehmungsumschwung aus-
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gelöst. In der DDR wurde von Beginn an die Freundschaft zur Sowjetunion und ihren Streitkräften als vorrangige Aufgabe propagiert. Leider
wurden Begriffe wie „Freundschaft”, „Befreiung” oder „Waffenbrüderschaft” in diesem Zusammenhang oft genug nur als Worthülsen angewandt, es mangelte an der kritischen Auseinandersetzung zu den Inhalten und der notwendigen Differenzierung im öffentlichen Sprachgebrauch. Es bleibt es eine bemerkenswerte Leistung, dass durch das
Bemühen vieler Beteiligter zumindest eine Normalisierung des Verhältnisses erreicht wurde, wenngleich auch in der Folgezeit dieses Verhältnis
stets ambivalent: blieb: Einerseits basierte es auf der Anerkennung der
im Krieg für uns erbrachten Leistung – der Befreiung vom Nationalsozialismus; andererseits aber war es dadurch belastet, dass die sowjetischen Truppen in Deutschland als Willensvollstrecker der politischen
Führung der Sowjetunion handelten. Und nach 1989 war die Zeit für
einen Neubeginn in den Beziehungen zwischen sowjetischem Militär und
deutscher Bevölkerung einfach zu kurz.
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