Teil II Allgemeine und spezielle Infektionslehre

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Teil II Allgemeine und spezielle Infektionslehre
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Zur Bedeutung übertragbarer Krankheiten
beim Menschen
K. A. E. Weber
Freilich stellen sich viele so an, als merkten sie nicht,
daß mit dem bloßen Nachweise eines Bacterium oder
eines Micrococcus noch wenig gewonnen ist.
R. Virchow (1885)
Auch in der Bundesrepublik Deutschland haben nach wie vor übertragbare Krankheiten (Infektionskrankheiten) einen wesentlichen Anteil am Erkrankungsgeschehen in der Bevölkerung.
In diesem Buchkapitel werden übertragbare Krankheiten des Menschen unter den Aspekten
ihrer mikrobiologischen Problemstellung, der medizinischen Herausforderung, des modernen
(gesetzlichen) Infektionsschutzes und ihrer Geschichte bei großen Seuchen kursorisch beleuchtet.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts konnten bedeutende Fortschritte bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erreicht werden, insbesondere durch Verbesserungen des allgemeinen
Lebensstandards, in der Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung, bei der individuellen Hygiene sowie durch den Einsatz wirksamer Schutzimpfungen und antibakterieller Wirkstoffe (Antibiotika) gegen bestimmte Krankheitserreger.
Spätestens seit dem Auftreten von HIV-Infektionen und AIDS zu Beginn der 1980er Jahre,
dem „Import“ einzelner hoch kontagiöser und lebensbedrohlicher Infektionskrankheiten und
von BSE ist auch in Deutschland die zuvor über Jahrzehnte durch rückläufige Inzidenzen genährte relative „Unbekümmerheit“ gegenüber Infektionskrankheiten und ihrem großen Bedrohungspotenzial für den Menschen allmählich gewichen.
Es wird heute geschätzt, dass es sich bei 25 – 30 % aller Diagnosen und Behandlungen in der
ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Deutschland um Infektionskrankheiten oder infektiöse Komplikationen bei anderen Krankheiten handelt. Im Jahr 2002 haben
die Gesundheitsämter in Deutschland rund 7700 Krankheitsausbrüche identifiziert und übermittelt und damit deutlich mehr als noch im Jahr zuvor.
Eine Reihe von Infektionskrankheiten treten neu oder vermehrt auf. In den zurückliegenden Jahrzehnten konnte durchschnittlich ein Krankheitserreger pro Jahr neu identifiziert
werden.
Zudem konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass vormals als nicht durch Erreger bedingt
eingestufte Krankheiten in ihrer Entstehung durch Krankheitserreger begünstigt oder gar erst
durch sie ausgelöst werden. In medizinischen Studien wird seit längerem Hinweisen nachgegangen, die auf einen möglichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Blutgefäßveränderungen (Atherosklerose) und Infektionen hindeuten. So soll beispielsweise eine Infektion mit
Influenzaviren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall triggern können.
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Auch können bekannte oder unbekannt gebliebene Krankheitserreger neue und zudem für
Menschen aggressivere Varianten entwickeln, die eine veränderte Risikokonstellation für die
Bevölkerung darzustellen vermögen (z. B. HIV, SARS bzw. EHEC).
Insbesondere in Folge von Katastrophen können Infektionskrankheiten gehäuft (Ausbrüche)
auftreten. Sie können aber auch durch ihre epidemische Ausbreitung selbst zu Katastrophen
führen, wie die großen Leitepidemien (Seuchen) der Menschheitsgeschichte eindrucksvoll demonstrieren. Heute werden etwa 50 Krankheitserreger katastrophenmedizinisch berücksichtigt.
Wechselwirkung zwischen Mensch und infektiösem Agens. Der Mensch lebt seit seiner Existenz in der globalen Evolution in dem komplexen ökologischen System seiner Umwelt, wobei
er individuell in wechselseitiger natürlicher Beziehung zu einer Vielzahl von biologischen
übertragbaren Agenzien steht, die als Krankheitserreger (humanpathogene Erreger) bei ihm
Infektionen und übertragbare Krankheiten verursachen können.
Die natürlichen Interaktionen zwischen „Mensch“, „infektiösem Agens“ (Krankheitserreger) und „Umwelt“ (z. B. Luft, Wasser, Flora und Fauna) haben sich im Laufe der
Menschheitsgeschichte hinsichtlich sowohl ihrer Art als auch Intensität teilweise stark verändert, da „Mensch“, „infektiöses Agens“ und „Umwelt“ permanent in einem dynamischen
biologischen Anpassungsprozess und Konkurrenzverhältnis stehen (Determinanten, siehe
Abb. 8-1).
Für Infektionen, Infektionskrankheiten und ihre Entstehung gilt, dass sowohl äußere, aus der
belebten oder unbelebten Umwelt (exogen) oder dem Körper (endogen) selbst kommende
Faktoren (→ Exposition) als auch innere, dem menschlichen Organismus selbst zuzuordnende
Merkmale und Faktoren (genetische Faktoren, Immunitätslage) für die Erregerempfänglichkeit (→ Disposition, Suszeptibilität) zu unterscheiden sind. Dabei können die üblichen Desinfektionsmaßnahmen nur äußere Faktoren und Einflussgrößen der Umwelt und damit das
individuelle exogene Expositionsrisiko gegenüber dem „infektiösen Agens“ wirksam beeinflussen.
Die Entstehung einer Infektion als Vorstufe und Bedingung für das Vorhandensein einer Infektionskrankheit und deren klinische Ausprägung setzt stets eine individuelle Veränderung
oder gar Störung in der Interaktion des „Biosystems Mensch“ mit ökologischen und sozialen
Systemen seiner Umwelt, speziell seiner mikrobiologischen Umwelt („Biosystem Agens“),
voraus. Formelhaft dargestellt bedeutet dies:
individuelle Disposition/Suszeptibilität + Umweltexposition + Krankheitserreger = Infektion → Infektionskrankheit
oder verkürzt
Krankheitserreger + Cofaktoren = Infektion → Infektionskrankheit
Dabei kommt dem „Biosystem Agens“, dem Krankheitserreger, typischerweise die Rolle des
„Gastes“ zu, der sich, wie jeder gebetene oder ungebetene Gast, begünstigend oder störend
verhalten kann. Der menschliche Organismus hat dabei die Rolle des aktiven oder passiven
„Wirtes“.
Hierdurch entsteht eine Wechselwirkung im Interaktionsnetzwerk „Umwelt – Gast – Wirt“
(„epidemiologische Triade“). In dieses Gefüge direkt und gezielt eingreifen kann der Desinfektor mit den ihm fachlich zur Verfügung stehenden Methoden (Mittel und Verfahren) nur am
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8 Zur Bedeutung übertragbarer Krankheiten beim Menschen
Abb. 8-1
Determinaten für die Entstehung von Infektionen und Infektionskrankheiten beim Menschen
aus: Robert Koch-Institut: Neu und vermehrt auftretende Infektionskrankheiten. Heft 18, Gesundheitsberichterstattung des Bundes. November 2003
„Biosystem Agens“ und/oder indirekt an anderen infektionsträchtigen Komponenten der belebten oder unbelebten Umwelt (Gegenstände, Vektoren).
Da in Deutschland die Anzahl immungeschwächter Menschen immer mehr zunimmt (→ individuelle Disposition), kommt es zum Anstieg opportunistischer Infektionen, die in der Regel
für Personen mit ungestörtem Immunstatus kein oder nur ein geringes Gesundheitsrisiko darstellen.
Auch in Deutschland kommen neue und vermehrt auftretende Krankheitserreger und von
ihnen verursachte Infektionskrankheiten vor, wie Legionellose, HIV/AIDS, Virushepatitis B,
Virushepatitis C, Pertussis, von Zecken übertragene Erkrankungen (Lyme-Borreliose, FSME,
Ehrlichiose) und lebensmittelbedingte Erkrankungen, deren Zahl zunimmt (mit Ausnahme
der enteritischen Salmonellosen), aber auch „importierte“, hoch kontagiöse lebensbedrohliche Infektionserkrankungen.
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8 Zur Bedeutung übertragbarer Krankheiten beim Menschen
Bei der „Entdeckung“ von Krankheitserregern können heute folgende Kategorien unterschieden werden:
•
•
•
•
•
neu entdeckte Erreger
neu entdeckte Mutante
Entdeckung neuer humanpathogener Aspekte eines bekannten Mikroorganismus
Entdeckung des Erregers einer seit längerem bekannten Infektionskrankheit
Entdeckung der Assoziation eines Erregers zu einer bekannten, bösartigen oder chronisch
degenerativen Erkrankung.
(aus: Kistemann, T., Exner, M.: Bedrohung durch Infektionskrankheiten? Deutsches Ärzteblatt, Jg. 97, Heft 5, 04.02.2000: 219)
Zur Erregerübertragung. Wichtig für die Kontrolle und Bekämpfung von Krankheitserregern
und übertragbarer Krankheiten sind hinreichende Kenntnisse über deren Infektionsquellen
und hauptsächlichen Übertragungswege.
Krankheitserreger unterschiedlicher Herkunft können auf recht verschiedenen Wegen und
unter unterschiedlichen Bedingungen auf den Menschen direkt oder indirekt übertragen werden.
Übertragungswege für Infektionskrankheiten beim Menschen1):
• Mensch-zu-Mensch (aerogen, intravenöser Drogenabusus, sexuell)
z. B. mit der Infektionskrankheit Tuberkulose, Hepatitis B, Hepatitis C, AIDS, Syphilis, Gonorrhoe
• Tier-zu-Mensch (aerogen, Direktkontakt, Lebensmittel, Vektor)
z. B. mit der Infektionskrankheit Q-Fieber, Campylobacter-Erkrankungen, Salmonellose,
EHEC, Lyme Borreliose, FSME, Ehrlichiose
• Wasser
z. B. mit der Infektionskrankheit Cryptosporidiose, Lambliasis, Legionellose
• nosokomial
z. B. mit der Infektionskrankheit MRSA, Vancomycin-resistente Enterokokken, Hepatitis
B, Hepatitis C
Von besonderer infektionsepidemiologischer Bedeutung ist dabei die Erregerübertragung
durch den Kontakt von Mensch zu Mensch.
Erfolgt eine klinisch manifeste Infektionskrankheit ungeachtet ihrer Infektionsquelle und
ihres Übertragungsmodus (z. B. indirekt durch Tiere oder Gegenstände), so sprechen wir allgemein von einer übertragbaren Krankheit.Wird hingegen der Krankheitserreger vom infizierten
oder erkrankten Menschen direkt auf andere, gesunde Menschen übertragen, so handelt es
sich um eine ansteckende Krankheit.
Neue Herausforderungen für den nationalen Infektionsschutz. Durch das weltweite Bevölkerungswachstum, den globalen Wandel der Lebens- und Technikbedingungen, der Transportmittel sowie bei der Tierhaltung und den dabei engen Kontakten von Mensch und Tier, aber
auch durch Vernachlässigung an sich standardisierter Hygieneregeln nehmen Infektionskrankheiten weltweit sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihrer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Relevanz für die Weltbevölkerung immer noch zu. Durchschnittlich
wird pro Jahr eine „neue“ Infektionskrankheit erstmals beschrieben. Insbesondere durch die
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nach: Robert Koch-Institut: Neu und vermehrt auftretende Infektionskrankheiten. Heft 18, Gesundheitsberichterstattung des Bundes. November 2003
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