Wenn dem eigenen Kind alles zu viel wird

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Panorama
Zürichsee-Zeitung
Mittwoch, 29. April 2015
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Wenn dem eigenen Kind alles zu viel wird
ten gut sein in der Schule, uns keinen Kummer bereiten.» Doch in
der heutigen Kleinfamilie kon­
zen­trie­ren sich viele Hoffnungen
und Erwartungen auf jeden einzelnen Sprössling.
BURNOUT KIDS Erschöpfungsdepressionen erreichen
die Kinderzimmer. Schon
jeder fünfte Schüler könnte
betroffen sein, warnt der
Jugendpsychiater Michael
Schulze-Markwort. Er
diagnostiziert überforderte
Familien und Leistungsdruck
am falschen Platz.
Burnout bei Kindern kann viele
Gesichter haben: Schulverweigerung, Schlaflosigkeit und sogar
Suizidgedanken. Phänomene, die
für den Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort
(Foto) Alltag sind. In seine Ambulanz in der Universitätsklinik
Hamburg-Eppendorf kommen seit circa
fünf Jahren immer mehr ausgebrannte Jugendliche, berichtet er. Zunächst
hätte er sich der Diagnose Burnout
bei Kindern verweigert, schreibt
er in seinem soeben erschienenen
Buch «Burnout Kids». Er ist kritisch eingestellt ge­
gen­
über Erwachsenen, die seiner Meinung
nach zum Teil einfach mal eine
Auszeit wollten. Und auch über
seine Patienten sagt er: «Anfangs
war ich davon überzeugt, überempfindliche Jugendliche mit zu
hohem Selbstanspruch vor mir zu
haben. Bei denen muss ich mich
heute entschuldigen.»
Mütter sind sensibilisierter
Dabei haben Kinder und Jugendliche eigentlich gute Karten,
wenn es dar­um geht, Belastungen
wegzustecken. Sie haben (noch)
ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene, können sich viel
schneller ablenken, vergessen,
verdrängen. Dennoch seien 20 bis
25 Prozent der Jugendlichen laut
Statistik psychisch auffällig, führt
er an. Drei bis fünf Prozent hätten
Burnout-Symptome. Er folgert:
In einer Schule mit 1000 Schülern
sollten mindestens 200 einmal
dem Psychologen vorgestellt werden, damit nichts übersehen wird.
Rund die Hälfte davon sei effektiv
behandlungsbedürftig, berichtet
er aus 30-jähriger Praxis.
Während man früher argumentiert hätte, «das wachse sich aus»,
seien die Eltern heute dem Psychologentermin ge­gen­über weitaus aufgeschlossener. Die Mütter
eher als die Väter, differenziert er.
Diese bagatellisierten die Leiden
des Nachwuchses – so wie ihre
eigenen – eher. Schulte-Markwort bringt das Vordringen des
DIE SYMPTOME
Kinder reagieren oft
psychosomatisch
Verändertes Verhalten Die
Sym­pto­me eines Burnouts
­können bei Kindern und Jugendlichen vielfältig sein, auch
weil ihr Wahrnehmungsempfinden noch nicht vollständig
ausgeprägt ist. Die Beschwerden reichen von diffusen
Bauch- oder Rückenschmerzen,
über Einschlafprobleme und
nächtliches Zähneknirschen bis
hin zur Flucht in eine «No Fu­
ture»-Existenz. Gedrückte Stimmung und Antriebslosigkeit
können die Zeichen einer
­Erschöpfungsdepression sein.
Die Depression sei eine Reaktion auf die andauernde Erschöpfung – und nicht umgekehrt, betont der Arzt Michael
Schulte-Markwort und appelliert, Kinder ernst zu nehmen,
die sich depressiv «fühlen»
würden. gsp
Es ist ein Teufelskreis aus Überforderung, Reizüberflutung und Schlaflosigkeit. Immer mehr Schulkinder zeigen Burnout-Symptome.
Burnouts im Untertitel seines ersten Buches auf den Punkt; das
Prinzip Leistung überfordere
unsere Kinder. Wie passt das zusammen mit verständnisvollen
Eltern, die ihm ge­
­
gen­
über oft
genug betonten, wegen ihnen
­
müsste das Kind nicht die besten
Noten haben, sie liebten es auch
so? Vor allem Mädchen erliegen
dem Schularbeits- und Prüfungsdruck. Sie lernen dann jeden Tag,
vernachlässigen den gesunden
Ausgleich mit Freundinnen und
entwickeln Versagensängste und
Minderwertigkeitsgefühle.
Typisch ist für Jugendliche mit
Burnout, dass sie sich ihre Erschöpfung selbst zuschreiben. Sie
Haben Sie im Zürcher Kinderund Jugendpsychiatrischen
Dienst auch schon Jugendliche
mit Erschöpfungsdepressionen?
Dagmar Pauli: Ja, der Befund ist
bekannt, das ist kein seltenes
Thema in der Schweiz. Ich beobachte das aber schon länger,
seit über zehn Jahren. Die Jugendlichen fühlen sich überfordert im Alltag, sind ausgebrannt. Das kann dann bis hin
zu Depressionen, Schlaflosigkeit, starken Ängsten und
Schulabsentismus führen. Diese
Problemstellungen sehen wir
bei geschätzt zehn Prozent
unserer Patienten. Wir bezeichnen es nicht als Burnout, weil
dies kein definiertes Krankheitsbild ist. Unsere Fallzahlen
sowie nationale Untersuchungen zeigen, dass Depressionen,
Selbstverletzungen und Suizidalität auf bereits hohem Ni­
veau im letzten Jahrzehnt noch
weiter zugenommen haben.
Wie läuft bei Ihnen eine
Behandlung ab?
Keystone
werfen sich vor, dass sie sich nicht
genügend anstrengen, und heizen
damit einen Teufelskreis an.
In dieser komplexen Si­tua­tion
hilft eine Familienanalyse, empfiehlt der Autor. Welche Werte
geben die Eltern vor: Sind es
­
Arbeit und Leistung, die als Existenzberechtigung gelten? Dabei
blickt er auch auf die Grosselterngeneration, die durchaus noch auf
die Enkel abfärbt.
Ein ganz wichtiger Aspekt sind
auch Scheidungen und Trennungen, die in fast jeder zweiten Familie vorkommen. Die Kinder schlittern nicht nur in einen kräftezehrenden Loyalitätskonflikt. In ungünstigeren Verläufen werden sie
geradezu zum Spielball der Eltern,
die über Jahre mit sich selbst
­beschäftigt sind.
Auch wenn der Streit nicht offen ausgetragen wird, merken die
Kinder ganz genau, was abläuft.
Sie wünschen sich, dass die Eltern
zusammenbleiben, sind mental
mit dem Zusammenhalt der Familie beschäftigt – und überfordert.
Gerührt erwähnt Schulte-Markwort mehrmals, dass «ProblemKinder» im Einzelgespräch in der
Regel liebevoller von ihren Eltern
reden würden als umgekehrt.
Kinder beziehen viel auf sich
Auch in Familien, die «harmonisch» zusammenleben, können
sich die Kinder unbewusst als Belastung empfinden. Erwähnt die
Mutter ge­gen­über Dritten, dass
sie wegen der Kinder zu Hause
bleibt oder weniger (qualifiziert)
arbeitet, als sie möchte? Erscheint sie abgehetzt aus ihrem
Teilzeitberuf? Wird das tägliche
Herumfahren des Nachwuchses
zu ausserschulischen Aktivitäten
zur zusätzlichen Belastung? Vermitteln die Eltern, dass der Beruf
ständigen Druck bedeutet? Hat
ein Ernährer den Job verloren,
und finanzielle Sorgen werden
zum täglichen Gesprächsthema?
«Die Kinder haben sich nicht verändert», sagt Schulte-Markwort
aus 30-jähriger Praxis, «sie möch-
Nachgefragt
richtigen Ort ist: Muss es wirklich das Gymnasium sein? Oder
ist das Kind im Gegensatz dazu
unterfordert? In der Therapie
setzen wir auf den Aufbau von
Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen. Negative Selbstbeschreibungen und passives Verhalten versuchen wir in aktives
Handeln umzuwandeln. Bei einigen Fällen mit Depression oder
starken Ängsten setzten wir
auch Medikamente ein, wobei
wir solche ohne Suchtpotenzial
verwenden.
Was sind Ihrer Meinung
nach die Ursachen?
Gerade in der Schweiz ist die Belastung durch Schule und zusätzliche Freizeitaktivitäten besonders hoch wegen des langen
Schultages. Der Nachmittagsunterricht, aber auch der Druck
in der Schule fordern ihren Tribut. Der Schock ist beim Wechsel
von der Primarschule zur Oberstufe besonders gross. Die Anforderungen steigen schlagartig,
und das Kind hat bis zu fünfmal
nachmittags Unterricht. Auch
bei meinen eigenen Kindern
hiess es in dieser Phase manchmal: «Ich schaffe das alles nicht
mehr.»
Zum allgemeinen Leistungsprinzip, das schon lange gilt, sehe ich
als Ursache für Überforderung
die zunehmende Komplexität
unserer Gesellschaft. Die Ansprüche an Perfektion werden
immer höher beziehungsweise
werden altersmässig immer weiter vorverlagert. Das gilt auch für
die Mütter und Väter: Sie wollen
in allem perfekt sein, was Ernährung und Betreuung der Familie,
ausserschulische Aktivitäten der
Kinder und die eigene Berufs­
tätigkeit betrifft.
Sind Scheidungskinder
besonders gefährdet?
Ja, es ist eine zusätzliche Belastung, wenn die Jugendlichen
­jedes zweite Wochenende oder
noch häufiger «reisen» müssen.
Das bedeutet Organisation. Auch
viele Eltern sind überfordert,
und das färbt ab. Hinzukommen
Dr. med.
Dagmar Pauli
Chefärztin
KJPD Zürich
«Besonders hohe
Belastung in der
Schweiz»
Bevor man mit einer Psychotherapie beginnt, bespricht man mit
dem Kind, den Eltern und Lehrern die Situation: Wie ist der
Alltag organisiert? Gibt es ein ruhiges Zimmer für Aufgaben? In
einer Abklärung führen wir auch
Tests durch, ob das Kind am
Nur im Notfall Medikamente
In der Untersuchung setzt der
Facharzt neben Gesprächen mit
den Betroffenen, Familie und
Schule, Intelligenztests ein, um
abzuklären, dass keine unentdeckten Teilleistungsstörungen
im Lesen, Schreiben, Rechnen
oder der Verarbeitungsgeschwindigkeit vorliegen. Er erforscht, ob
es traumatische Erfahrungen gibt,
die das Kind vom Schulbesuch abhalten, ob es primär ängstlich ist
oder die Eltern übervorsichtig.
In schwierigen Fällen wendet
er schnell greifende, entlastende
Medikamente (Schlafmittel, Antidepressiva) an, um den krankheitserhaltenden Kreislauf aus
Schlaflosigkeit, Erschöpfung und
trüben Gedanken zu durchbrechen. Dazu kommt die psychotherapeutische Behandlung, die verhaltensorientiert sein kann und
dem Jugendlichen alternative
Handlungsoptionen nahebringt.
Gleichzeitig werden Gespräche
mit Lehrern geführt, um die individuelle Belastungsgrenze des Betroffenen abzustecken. Lern­
coaches können eingesetzt werden, die Arbeitstechniken und
Entspannung üben. Bei Bedarf
wird in tiefenpsychologischer
Therapie nach belastenden Lebensereignissen oder innerseelischen Konflikten gesucht – ganz
wie bei den Grossen.
Wenn man das Werk von Michael Schulte-Markwort zitiert,
kommt man aber auch um seine
Gesellschaftskritik nicht herum.
Er stellt die Leistungsmaximierung und die Ökonomisierung der
Welt infrage und fordert ein Umdenken bei den Werten. So blickt
er auf die psychologische Belastung der Familie und diagnostiziert häufig Hilflosigkeit als bestimmendes Lebensgefühl. Die
Familien trauten sich weniger zu
als in der Vergangenheit; dabei sei
zentral, was die Eltern vorlebten.
Gabriele Spiller
Burnout Kids
– Wie das
Prinzip Leistung
unsere Kinder
überfordert.
Michael SchulteMarkwort.
Droemer-KnaurVerlag. 272 Seiten, 29.90 Fr.
können Loyalitätskonflikte der
Kinder bei Uneinigkeiten der
­Eltern.
Welche Rolle spielen
digitale Medien?
Die wenige Freizeit, die bleibt,
wird weniger erholsam verbracht. Wir treffen auf Kinder,
die 90 Prozent ihrer Zeit vor
dem Computer verbringen. Es
entsteht keine Leere mehr, die
mit eigener Aktivität überbrückt
werden muss. Das Handy sondert immer Reize ab. Die Jugendlichen sind dadurch nie bei
sich, und die Regeneration durch
Langeweile oder durch Aktivität
im Freien entfällt.
Interview: Gabriele Spiller
Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst Zürich (in der Universitätsklinik Zürich) steht mit seinem ambulanten Dienst für Fragen unter Tel. 043 499 26 26 oder
[email protected], Montag bis Freitag von 8 bis 17 Uhr zur Verfügung.
www.kjpdzh.ch
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