Britische Illusionen Von Dirk Heilmann Die britische Regierung unter Premierministerin Theresa May versucht, aus der Not des BrexitVotums eine wirtschaftspolitische Tugend zu machen. Ihr ist klar, dass die britische Bevölkerung am 23. Juni vor allem deshalb für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hat, weil sie die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Staaten – konkret aus den osteuropäischen Mitgliedsländern – reduzieren will. Diesen Zuwanderern hatten populistische Austrittsbefürworter die Schuld für so ziemlich alle Probleme des Landes in die Schuhe geschoben: für mangelnde Investitionen in die Infrastruktur, für überlastete Schulen und Krankenhäuser, für knappen und teuren Wohnraum und für eine wenig dynamische Lohnentwicklung. Diese Kampagne hat verfangen. Nun hat die Regierung noch ein weiteres, seit Jahren diskutiertes wirtschaftliches Problem gefunden, das sie den EU-Migranten in die Schuhe schieben kann: die schwache Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Die Arbeitsproduktivität je geleisteter Erwerbstätigenstunde hat in Großbritannien erst 2015 wieder das vor der Finanzkrise erreichte Niveau übertroffen. Der Umkehrschluss der amtierenden Regierung lautet nun wie folgt: Wenn es gelinge, den Zustrom gering qualifizierter Arbeitskräfte aus Osteuropa zu drosseln – so wie es mit Einwanderern aus den früheren Commonwealth-Ländern gelungen sei – dann würden die britischen Unternehmen dazu gezwungen, mehr Kapital und weniger Arbeit einzusetzen, sprich ihre Anlagen zu modernisieren und mehr in Automatisierung zu investieren. Diese Argumentationslinie führten Regierungsvertreter vor kurzem auf der Economic Königswinter Conference in Essen aus, einem jährlichen informellen Gedankenaustausch zwischen Vertretern von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aus Großbritannien und Deutschland. Damit gibt sich die britische Regierung jedoch einer wirtschaftspolitischen Illusion hin. Die Einwanderung gering qualifizierter Arbeitskräfte ist sicherlich nicht die einzige und auch nicht die wesentliche Ursache für die schwache Entwicklung der Arbeitsproduktivität in Großbritannien. Zum einen lässt sich eine ähnliche Tendenz seit Jahren in fast allen etablierten Industriestaaten beobachten. Diese Entwicklung wird als Produktivitäts-Paradoxon diskutiert: der gefühlte technische Fortschritt durch den verstärkten Einsatz von IT-Technologien im Zuge der 1 voranschreitenden Digitalisierung der Wirtschaft steht im krassen Gegensatz zu der in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen gemessenen Produktivität, die nahezu auf der Stelle tritt. Hinzu kommen strukturelle Besonderheiten der britischen Wirtschaft. Großbritannien ist auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft weiter vorangeschritten als viele andere europäische Staaten. Das galt lange Zeit als Vorteil, doch schon die Vorgängerregierung unter David Cameron hatte sich die Re-Industrialisierung des Landes und die Förderung von Hochtechnologie, Forschung und Exporten auf die Fahnen geschrieben. Gelungen ist das allerdings nicht. Der Industriesektor ist in Großbritannien heute nach den Zahlen der OECD sogar in absoluten Zahlen kleiner als im Jahr 2000 – während in Deutschland der gewerbliche Bereich in diesem Zeitraum um ein Viertel gewachsen ist. Die Industrie erwirtschaftet in Großbritannien einen Jahr für Jahr kleineren Anteil des BIP. Mit 11,6 Prozent lag dieser Anteil 2015 unter dem von Frankreich und Italien und war nicht einmal halb so groß wie in Deutschland. Zudem sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Großbritannien in Relation zum BIP seit der Jahrtausendwende gesunken, während sie in den anderen drei großen EU-Staaten deutlich zulegten. Die Exporte Großbritanniens sind seit 2000 zwar gestiegen, der Exportanteil am BIP liegt jedoch nicht höher als im Jahr 2006. Warum die Reindustrialisierung nun durch eine Drosselung der Immigration und einen Austritt aus der EU besser funktionieren sollte als bisher, ist nicht ersichtlich. Dies umso weniger als durch den Brexit und die auf zehn Jahre geschätzte Übergangsphase viel Unsicherheit bei Investoren entstehen wird. Jahrzehntelang war Großbritannien das mit Abstand bevorzugte Zielland ausländischer Investoren und globaler Unternehmen, die eine Europa-Zentrale suchten. Im Jahr 2005 waren die ausländischen Direktinvestitionen in Großbritannien mit 183 Milliarden Dollar fast doppelt so hoch wie die Investitionen in Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. 2015 rutschte Großbritannien mit nur noch 38 Milliarden hinter Frankreich auf den zweiten Platz. In Zukunft werden sich globale Investoren sehr genau überlegen, ob sie sich nicht doch lieber in einem Kernland des Binnenmarkts niederlassen. Die einzige Chance für Großbritannien, aus einem Brexit als Gewinner hervorzugehen, wäre ein einsetzender Verfall der EU. Dann könnte Großbritannien als sicherer Hafen à la Schweiz fungieren, von dem aus sich der europäische Markt bedienen lässt. Solch ein wirtschaftlicher Niedergang der EU insgesamt kann aber auch nicht im britischen Interesse sein. Man kann es drehen und wenden wie man will: Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird nur Verlierer kennen, und mutmaßlich wird das Vereinigte Königreich der größte sein. 2