Paradigma und Erklärungsprinzip

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Georg Litsche
http://www.subjekte.de
2012
Paradigma und Erklärungsprinzip
Mit der Entstehung der gesellschaftlichen Erkenntnis vollzogen sich einschneidende
Veränderungen der individuellen menschlichen Psyche. Die individuellen psychischen
Bilder werden mittels der gesellschaftlichen Erkenntnis konstruiert und erhalten so
bereits bei der Konstruktion einen sozialen Inhalt. Die ideellen Bilder der
gesellschaftlichen Erkenntnis werden bereits bei der Konstruktion des individuellen
psychischen Bildes zu seiner bestimmenden Komponente.
Die gesellschaftliche Erkenntnis bildet so den Rahmen, in dem individuelle Erkenntnis
stattfinden kann, sie bildet den Erkenntnisraum der individuellen Erkenntnis.
Das gilt auch für das wissenschaftliche Erkennen, das Forschen. Auch Forschen hat seinen
Ursprung stets in der gegebenen gesellschaftlichen Erkenntnis, die sich das erkennende
Individuum durch Lernen angeeignet hat. Dieser erlernte gesellschaftliche Erkenntnisraum bildet
den Rahmen, in dem individuelle Erkenntnis gewonnen werden kann. Er ist jedem individuellen
Erkennen vorausgesetzt.
Beim Lernen kann der individuell angeeignete Bereich des gesellschaftlichen Erkenntnisraums
erweitert und der individuelle Erkenntnisrahmen durchbrochen werden, indem individuell neue
Erkenntnisse angeeignet werden. Der Rahmen der gegebenen gesellschaftlichen Erkenntnis
kann beim Lernen nicht verlassen werden. Die gesellschaftliche Erkenntnis begrenzt die
Möglichkeiten des Lernens.
Erst durch Forschen kann der die individuelle Erkenntnis begrenzende Rahmen durchbrochen
und der individuelle Erkenntnisraum erweitert werden. Der gesellschaftliche Erkenntnisraum der
anderen Mitglieder des „Denkkollektivs“ (Fleck) beispielsweise der wissenschaftlichen Schule
kann nur erweitert werden, indem diese die neue individuelle Erkenntnis durch Lernen aneignen
und zu ihrem gemeinsamen neuen Erkenntnisraum machen.
Der tatsächliche wissenschaftliche Fortschritt erfordert also das Lernen, durch das neue Ideen
erst wirklich vergesellschaftet werden. Dieses Lernen des Wissenschaftlers ist ebenso
schöpferisch wie das Forschen selbst und erfordert eben so viel Anstrengung und Mut, gilt es
doch, die Grenzen der bislang angeeigneten gesellschaftlichen Erkenntnis zu sprengen um
neue zu setzen.
1. Paradigma und Erklärungsprinzip
Der Erkenntnisraum der wissenschaftlichen Erkenntnis ist unter verschiedenen Aspekten selbst
Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis.
In soziologischer Sicht wurde die wissenschaftliche Erkenntnis u.a. von Thomas Kuhn (1922
bis 1996) untersucht. Der gesellschaftliche Erkenntnisraum der Forschung bildet wird von ihm
als „Paradigma“ bezeichnet, den Rahmen bildet, in dem sich Forschung vollzieht. „Normale
Wissenschaft“ ist dagegen darauf gerichtet, diesen Rahmen weiter auszufüllen ohne ihn zu
verlassen. Im Unterschied zum Lernen kann es bei der Forschung auch dazu kommen, dass
dieser Rahmen der gesellschaftlichen Erkenntnis durchbrochen und der gesellschaftliche
Erkenntnisraum erweitert werden. Darin bestehen „wissenschaftliche Revolutionen“ (Kuhn).
Unter dem Paradigma versteht er das Denkmuster, die Lehrmeinung, welche eine Gruppe von
Wissenschaftlern eint. Diese bilden eine wissenschaftliche Schule. Das Paradigma bestimmt
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Paradigma und Erklärungsprinzip
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· was beobachtet und überprüft wird,
die Fragen, die gestellt werden sollen,
welche Antworten als zulässig gelten sollen und
wie Ergebnisse zu interpretieren sind.
Darüber hinaus hat der Terminus „Paradigma“ noch eine subjektive, psychologische
Komponente. Ein Paradigma ist „allgemein anerkannt“, d.h. es wird von einer
„wissenschaftlichen Schule“ oder in einer historischen Epoche für richtig („wahr“) gehalten und
bedarf keiner Verifikation mehr. Es ist eben eine Meinung. (Sapir-Whorf-Hypothese)
Das Paradigma begrenzt so den Bereich, in dem wissenschaftliche Forschung möglich ist. Was
nicht ins Paradigma passt, kann von normaler Wissenschaft nicht erforscht werden. Dazu muss
der Rahmen eines Paradigmas durch eine wissenschaftliche Revolution gesprengt und erweitert
werden.
Vor allem in den westlichen Demokratien haben die Paradigmen der Wissenschaften im
öffentlichen gesellschaftlichen und politischen Denken universelle Wirksamkeit erreicht. Sie
werden als letzte Begründung für die Gestaltung des gesamtgesellschaftlichen
Zusammenlebens allgemein akzeptiert.
Paul Feyerabend (1924–1994) kritisiert diesen Zustand vehement und entwickelt die
Auffassung, dass Mythen, Märchen und Religionen ebenfalls als Erkenntnisräume anerkannt
werden müssen. In seiner Schrift „Wider den Methodenzwang“ kommt er zusammenfassend zu
folgendem Ergebnis:
-„Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen
Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben,
und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf Grundsätzlich überlegen ist
sie aber nur in den Augen derer, die bereits eine gewisse Position bezogen haben oder die die
Wissenschaften akzeptieren, ohne jemals ihre Vorzüge und Schwächen geprüft zu haben. Und da
das Annehmen und Ablehnen von Positionen dem einzelnen oder, in einer Demokratie,
demokratischen Ausschüssen überlassen werden sollte, so folgt, daß die Trennung von Staat und
Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft zu ergänzen ist.“ (S. 385)
In methodologischer Sicht wird die Beziehung zwischen Paradigma und normaler
Wissenschaft von Judin (1930 bis 1976) untersucht. Er unterscheidet zwischen
Gegenstandsbeschreibung und Erklärungsprinzip. Diese Begriffe haben bei Judin funktionelle
Bedeutung, sie bilden die Funktion von Begriffen und Kategorien im Erkenntnisprozess ab. Ein
und derselbe Begriff kann einmal eine Gegenstandsbeschreibung und in anderem
Zusammenhang ein Erklärungsprinzip sein.
Von besonderem Interesse sind für Judin Begriffe, die als universelle Erklärungsprinzipien für
eine große Epoche wissenschaftlicher Forschung charakteristisch sind.
„Die Geschichte des philosophisch-theoretischen Wissens erscheint,
Gesichtspunkt betrachtet, als Ablösung von Erklärungsprinzipien“ (S. 309)
unter
diesem
Die aktuelle Epoche der Wissenschaft wird nach Judin dadurch gekennzeichnet, dass der
Tätigkeitsbegriff zum universellen Erklärungsprinzip wird.
In folgendem Zitat wird die Überschneidung des Kuhn´schen Begriff „Paradigma“ und des
Judin´schen Begriff „Erklärungsprinzip“ deutlich:
„Jeglicher Begriff, wie universal er auch sein mag, setzt dem Gegenstand des Denkens ganz
bestimmte Grenzen, und innerhalb dieser Grenzen können nur ganz bestimmte und keineswegs
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Paradigma und Erklärungsprinzip
alle beliebigen Typen wissenschaftlicher Probleme gelöst werden Daher die Schlußfolgerung,
daß die Forschung den eingrenzenden Charakter eines jeglichen erklärenden Prinzips und des
Begriffs, der seine Grundlage bildet, erkennen und berücksichtigen muß. Mit anderen Worten, an
irgendeinem Punkt muß die Grenze der extensiven Entwicklung des erklärenden Prinzips fixiert
werden, hinter der seine weitere konstruktive Anwendung nur durch seine intensive Entfaltung
möglich ist, das heißt nicht dadurch, daß immer neue Erscheinungen und Schichten der
Wirklichkeit dem entsprechenden Begriff zugeordnet werden, sondern dadurch, daß die
Vorstellungen über die innere Struktur des Begriffs, über seine inhaltlichen gegenständlichen
Charakteristika vertieft werden. .“ (S. 327)
Die Begriffe "Paradigma" und "Erklärungsprinzip" bezeichnen also weitgehend denselben
Sachzusammenhang, nämlich die Tatsache, dass individuelles Erkennen nur in einem dem
Lernen wie dem Forschen vorausgesetzten gesellschaftlichen Erkenntnisraum stattfinden kann,
der Möglichkeiten und Grenzen individuellen Erkennens bestimmt.
Die Begriffe "Paradigma" und "Erklärungsprinzip" sind folglich extensional identisch. Sie
unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Bedeutung. "Erklärungsprinzip" meint mehr den
objektiven funktionellen Aspekt dieses Zusammenhangs, "Paradigma" meint dagegen mehr den
sozialpsychologischen Aspekt dieses Zusammenhangs, durch den Erkenntnisgemeinschaften
gekennzeichnet sind.
2. Erkenntnistheoretische Paradigmata
Die folgenden Beispiele für erkenntnistheoretische Paradigmata belegen einerseits, dass auch
erkenntnistheoretische Darstellungen stets in einem bestimmten Erkenntnisraum erfolgen. Sie
geben andererseits bestimmte Positionen zu Themen wieder, die bei allen
erkenntnistheoretischen Darstellungen Teil der paradigmatischen Positionen sein müssen, auch
wenn das nicht oder nicht expliziert reflektiert wird.
Aus linguistischer Sicht wird der Einfluss der gesellschaftlichen Erkenntnis auf das individuelle
Denken in der Sapir-Whorf-Hypothese abgebildet. Sie besagt, dass die Art und Weise, wie ein
Mensch denkt, stark durch die semantische Struktur seiner Muttersprache beeinflusst wird.
Die Sapir-Whorf-Hypothese geht darüber hinaus davon aus, dass die semantische Struktur einer
Sprache die Möglichkeiten der Begriffsbildung von der Welt entweder determiniert oder limitiert.
Sie ist die Annahme, dass die erlernte Muttersprache die Erfahrung, das Denken und Handeln
der Menschen determiniert, so dass jede Sprache eine spezifische Weltsicht vermittle und das
Weltbild des Sprechers prägt. Auch wenn der so formulierte kausal zwingenden Einflusses der
Sprache stark umstritten ist, ist doch der Sachverhalt selbst im Wesentlichen unbestritten.
In erkenntnistheoretischer Sicht wird dieser Sachverhalt als das Verhältnis von Theorie und
Empirie bearbeitet. Rationalistische Auffassungen verweisen darauf, dass es Erfahrungswissen
ohne ein gegebenes theoretisches Konzept nicht möglich ist und lehnen empiristische
Erkenntniskonzepte ab. Descartes „Ich denke, also bin ich“ und Kants a priori gegebenen
erfahrungsunabhängigen Begriffe wie Raum und Zeit sind klassische Formen rationalistischer
Erkenntnistheorie.
In evolutionstheoretischer Sicht geht es um die Evolution der menschlichen
Erkenntnisfähigkeit. Die evolutionären Erkenntnistheorie interpretiert die im Verlauf der
biotischen Evolution entstandene anatomische und funktionelle Ausstattung des Nervensystems
als den Erkenntnisapparat, der als determinierendes und limitierendes System der
Voraussetzungen des Denkens betrachtet wird. Die in diesem Ansatz gewählte biologistische
Sicht führt folgerichtig zu einem biologistische Verständnis des Kulturellen. Kultur wird als
Leistung der biotischen Ausstattung des menschlichen Individuums verstanden. Das führt dann
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Paradigma und Erklärungsprinzip
folgerichtige zu der Auffassung, dass der Mensch biologisch unfähig ist, die von ihm
hervorgebrachte Kultur auch zu beherrschen.
„Die Geschwindigkeit, mit der der menschliche Geist sich verändert und mit der der Mensch
durch seine Technologie die eigene Umwelt zu etwas völlig anderem macht, als sie eben noch
war, ist so groß, daß der Gang der stammesgeschichtlichen Entwicklung im Vergleich zu ihr
praktisch stillsteht. Die Menschenseele ist seit dem Entstehen menschlicher Kultur im
wesentlichen die gleiche geblieben; es ist nicht erstaunlich, daß die Kultur sehr häufig
unerfüllbare Ansprüche an sie stellt. „(S.419)
„Die Komplikation des technokratischen Systems macht eine gen aue Einsicht in die Einzelheiten
seines Wirkungsgefüges grundsätzlich unmöglich. Wir müssen uns daher von vornherein darüber
im klaren sein, daß der menschliche Geist hier ein System geschaffen hat, dessen Komplikationen
zu überblicken seine eigene Komplexität nicht ausreicht.“ (S455)
So schreibt Konrad Lorenz, der zu den Begründern der evolutionären Erkenntnistheorie gehört.
Diese Denkrichtung hat sich heute von Noam Chomski begründet als „evolutionäre Psychologie“
etabliert. Diese nativistische Auffassung geht davon aus, dass die psychischen Eigenschaften
des Menschen evolutionär entstanden und darum genetisch bedingt sind. Das wird auch für die
menschliche Sprache angenommen, für die von Pinker ein „Sprachinstinkt“ postuliert wird.
In kulturtheoretischer Sicht entwickelt Merlin Donald dagegen ein Paradigma, das die Kultur
als Voraussetzung und bestimmenden Determinante von Bewusstsein und Erkenntnis setzt. Im
Prolog zu seinem Buch „Triumph des Bewusstseins“ führt er aus:
„Der Grundgedanke dieses Buches ist, dass die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes nicht auf seiner
biologischen Ausstattung beruht, deren Hauptmerkmale auch bei vielen Tieren zu finden sind, sondern auf
der Fähigkeit, Kulturen aufzubauen und sich an sie zu assimilieren....
... In einem früheren Buch zur kognitiven Evolution des Menschen habe ich ausgeführt, dass die
Entwicklung des menschlichen Geistes nur angemessen zu beschreiben ist, wenn man die kulturellen
Errungenschaften des Menschen in den Blick nimmt, die eine sich stetig vertiefende Symbiose von
Kognition und Kultur erkennen lassen.“ (S.11)
Wenn Donald auch keine speziell erkenntnistheoretischen Analysen vornimmt, seine Position zu
erkenntnistheoretischen Problemen wird von dieser kulturtheoretischen Prämisse bestimmt und
erfüllt so eine paradigmatische Funktion.
Für eine subjekttheoretische Sicht bietet sich zunächst der Konstruktivismus (
) als
theoretische Basis an. Erkenntnisse sind in konstruktivistischer Sicht keine Abbilder einer von
diesen Abbildern unabhängigen Realität, sondern freie Konstrukte des denkenden Subjekts. Der
Konstruktivismus bestreitet zwar nicht die Existenz einer objektiven, d.h. vom Menschen
unabhängigen Realität, er bestreitet aber, dass unsere Wahrnehmung uns ein Bild dieser
Realität liefern kann.
Mit dieser These wirft der Konstruktivismus nicht nur die Wahrnehmung als Prozess der
Erkenntnisgewinnung über Bord, sondern auch den Abbildcharakter der Erkenntnis schlechthin.
In dieser Argumentation macht sich eine spezifische Enge der Sichtweise der
konstruktivistischen Erkenntnistheorie bemerkbar. Sie kennt keine andere Verbindung zwischen
Subjekt und Realität als die Wahrnehmung. Betrachtet man das Subjekt aber als tätiges Subjekt,
dann erweist sich die Tätigkeit eine unmittelbare Verbindung zwischen Subjekt und Realität, auf
deren Grundlage Erkenntnis erklärbar wird.
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Paradigma und Erklärungsprinzip
Literatur:
Chomsky, Noam (1970): Sprache und Geist, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
Donald, Merlin (2008): Triumph des Bewusstseins * Die Evolution des menschlichen Geistes,
Klett - Cotta Verlagsgemeinschaft, Stuttgart,
Feyerabend, Paul (1986): Wider den Methodenzwang, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,
Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache,
Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Zürich,
Judin, Erik Grigor´evič (2009): Systemansatz und Tätigkeitsprinzip * Methodologische Probleme
der modernen Wissenschaft, Lehmanns Media-LOB, Berlin,
Kuhn, Thomas S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main,
Lorenz, Konrad (1988): Die Rückseite des Spiegels - Der Abbau des Menschlichen, Piper &
Co.Verlag, München, Zürich,
Pinker, Steven (1996): Der Sprachinstinkt, Kindler Verlag GmbH, München
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