Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall und baryonische dunkle Materie Philip Kollmannsberger 17. Dezember 2001 Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Das Standardmodell der Nukleosynthese SBBN = Standard Big Bang Nucleosynthesis • Annahmen: 1. Gültigkeit der physikalischen Gesetze 2. Kosmologisches Prinzip 3. Allgemeine Relativitätstheorie 4. Standardmodell der Elementarteilchenphysik 5. Thermodynamisches Gleichgewicht • Einziger freier Parameter: Baryonendichte • Vorhersage: primordiale Häufigkeit der leichten Elemente Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Entwicklung des Universums 2 & R 8 π G ρ kc 2 2 H ≡ = − 2 3 R R Friedman-Gleichung Flaches Universum ⇔ kritische Dichte Verhältnis zwischen tatsächlicher und kritischer Dichte: Ω= ρ ρ crit . Zeitliche Entwicklung der Dichte: 3 t −2 ρ= 32 π G Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Thermodynamisches Gleichgewicht Gleichgewicht relativistischer, nichtentarteter Teilchen: • Photonen • Elektronen und Positronen • Neutrinos und Antineutrinos 7 7 Tν 2 4 ρ c = aT γ 1 + + N ν 4 8 Tγ • Neutronen und Protonen Temperatur 1012 K, 10-4 s ABB: • Paarbildung und –vernichtung • schwache Wechselwirkung n 1, 293 MeV = exp − kT p n + e+ ↔ p + νe p + e− ↔ n + νe n ↔ p + e− + νe 4 Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Entkopplung der Neutrinos und Photonen T~1010K / ca. 1s ABB: Entkopplung der Neutrinos T~109K / kurz danach: Elektronen und Positronen zerstrahlen ∆ n = exp − p F kT F η≡ 1 ≈ 6 nb = const. ≈ 10 −10 nγ Ω b 0 h 2 = 3 , 65 ×10 − 3 ( T γ 0 / 2 , 73 K ) 3 η10 Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Wann beginnt die Nukleosynthese? Neues Gleichgewicht: • Zunächst zu heiß für stabile Kerne • Bei 0.1 MeV / 100s ABB: Produktionsrate von D größer als Zersetzungsrate Lebensdauer freier Neutronen: 886,7 ± 1,9s ⇒ nach 100s neues Verhältnis n / p ~ 1 / 7 Nukleosynthese kommt in Gang: 99,99% der verbliebenen freien Neutronen fusionieren zu Helium. Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Kernreaktionen bei der Nukleosynthese p + n → d d + d → 3 He + n d + p → 3 He + γ 3 He + n → 4 He + γ 3 He + d → 4 He + p → 3 → 4 d 3 H + n + p + γ H He + γ + γ 3 3 H + 4 He → 7 Li + γ He + 4 He → 7 Be + γ → 7 Li + p Li + p → 4 He + 7 Be + n 7 3 H + d → 4 He + n 4 He Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Zeitlicher Ablauf der Elemententstehung Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Vom Modell zur Realität 1. 2. Messung der primordialen Häufigkeiten der leichten Elemente • Einschränkung des Wertebereichs von η • Bestätigung der SBBN-Theorie • Widerlegung von alternativen Modellen Direkte Messung von η bzw. der baryonischen Dichte • Bestimmung des letzten freien Parameters der SBBN • genaue Vorhersage der primordialen Häufigkeiten der Elemente Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Zurück in die Vergangenheit Es gibt 4 Elemente, deren primordiale Häufigkeit man bestimmen kann: D 3He 4He 7Li Rückschlüsse auf die ursprüngliche Verteilung? • Kenntnis der galaktischen Evolution • Suche in Gegenden niedriger Metallizität Gemessen wird die relative Häufigkeit (Verhältnis zu Wasserstoff H) Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Die Bedeutung von Deuterium Vorteile von Deuterium: - wird insgesamt nur abgebaut - ist am einfachsten an Spektren ablesbar - hängt stark von η ab ⇒ Bestimmung von η aus D/H Wo wurde bisher gemessen? • Im Sonnensystem • Im Interstellaren Medium (ISM) • Im Intergalaktischen Medium (IGM) Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik D/H im Sonnensystem D/H in Planeten: • Jupiteratmosphäre: D/H = 2,6 ± 0,7 × 10-5 (Galileo 1998) • Uranus: D/H = 5,5 ± 3,5 × 10-5 • Neptun: D/H = 6,5 ± 2,5 × 10-5 (1999) Sonnenwind: Gemessen wird 3He, daraus D/H • Sonnenwind: D/H = 1.94 ± 0,36 × 10-5 (1998) Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall D/H im Interstellaren Medium (ISM) Isotopieverschiebung der Lyman-Linien 1973 mit Copernicus: D/H = 1,4 ± 0,2 × 10-5 HST (nur Ly-α), sicherer Wert heute: D/H = 1,6 ± 0,1 × 10-5 Fälle von abweichendem D/H: • Sterne Sirius A,B und δ Ori: zu niedrig • Molekülwolken nahe des Zentrums: zu niedrig • In äußeren Regionen geringer Dichte: zu hoch ⇒ Zusammenhang mit Entfernung vom Zentrum der Galaxie Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik D/H im Intergalaktischen Medium (IGM) Ly-α-“Forest“ im Spektrum stark rotverschobener Quasare (z>3) => D/H sollte nahe am primordialen Wert sein • QSO 1937-1009: H = 3,24 ± 0,3 × 10-5 (1996) • QSO 1009+2956: D/H = 4,0 ± 0,8 × 10-5 (1998) (2000) • QSO 0130-4021: D/H < 6,7 × 10-5 Problemfälle: • QSO 1718+4807: D/H = 25 ± 5 × 10-5 (1997) (mit anderen Annahmen: D/H ~ 4,4 × 10-5) • QSO 0014+813: D/H < 35 × 10-5 (konsistent mit niedrigem D/H) (1994) Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik D/H – Stand der Dinge IGM-Messungen => niedriges primordiales D/H: • D/H • Yp • 7Li/H •η • Ωbh² = = = = = 3,24 ± 0,3 × 10-5 0,246 ± 0,0014 3,5 ± 1,1 × 10-10 5,1 ± 0,5 × 10-10 0,019 ± 0,0024 Probleme: - H überdeckt D im Spektrum - Lokaler oder globaler Abbau von D? - Hohes D/H sollte einfacher zu finden sein - Systeme nicht repräsentativ? Hauptproblem: Es gibt noch zu wenige Messungen! Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Die Zukunft der D/H-Bestimmung Aktuell: FUSE-Satellit • Far Ultraviolet Spectroscopic Explorer (90-120nm) • deutlich bessere Instrumente als Copernicus • mißt D/H im Interstellaren Medium • gestartet 24. Juni 1999 • erste Daten werden momentan ausgewertet Geplant: SOFIA (2002), FIRST (2007), GMAT, SQA Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Wozu wird Helium gemessen? • Bestätigung der SBBN • Aussage über die Anzahl der Neutrinoarten, Nν: Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Messung von Helium-4 Anteil von nicht-primordialem 4He: • Bestimmung im lokalen ISM: 0.01-0.04 => zu ungenau Messungen an Orten mit wenig stellarer Produktion: Beste Messungen bisher in extragalaktischen H II-Regionen • ionisiertes Gas um junge Sterne • sehr geringe Metallizität ⇒ Helium-4 dort vermutlich primordial Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Helium-4 in H II-Regionen Vorhersage der SBBN: Yp = 0.246 ± 0.0014 (mit niedrigem D/H) Messungen in den letzten 25 Jahren: • Yp = 0.216 ± 0.02 (1974) • Yp = 0.230 ± 0.004 (1976) • Yp = 0.228 ± 0.005 (1992) • Yp = 0.234 ± 0.008 (1993) • Yp = 0.236 ± 0.005 (1996) • Yp = 0.234 ± 0.002 ± 0.005 (1997) ⇒ Statistische Inkonsistenz Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Extrapolation zu primordialem Helium Izotov & Thuan 1998: • zusätzliche Messungen • genauere Auswertung mit Regression: Yp = 0.244 ± 0.002 mit O/H Yp = 0.245 ± 0.001 mit N/H Auswertung älterer Messungen: Yp < 0.252 ⇒ Übereinstimmung! Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Bestimmung von Lithium-7 Alte Halosterne mit geringem Eisengehalt: „Spite-Plateau“ 7Li/H ~ 1,6 × 10-10 (1982) Vorgänge: • Konvektion => Abbau • Gravitational Settling • ...? Messungen von 6Li (Asymmetrie der 7Li-Linie) und 7Be, B geplant Scheinseminar Astroteilchenphysik Bestimmung von Helium-3 Noch kein primordiales 3He gemessen: • Bestimmung aus Spektren schwierig • Galaktische Evolution unbekannt Möglichkeit: falls D → 3He ausschließliche Quelle: ⇒ D + 3He konstant daraus: (3He/H)prim. = 0,3 ± 1 × 10-5 Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Bestimmung der baryonischen Dichte 1) Hintergrundstrahlung: Noch keine genauen Messungen 2) IGM: Ωb > 0.035 (1997-1998) 3) Galaxien-Cluster: Verhältnis der baryonischen zur Gesamtmasse in Clustern Ωb ~ 0.03 (1999) Scheinseminar Astroteilchenphysik Nukleosynthese beim Urknall Gibt es eine Übereinstimmung? 1) Niedriges D/H ⇒ ⇒ ⇒ Hohes Yp 7Li um 50% abgebaut Ωb = 0,03 - 0,05 2) Hohes D/H ⇒ ⇒ ⇒ Niedriges Yp 7Li nicht abgebaut Ωb = 0,01 – 0,02 Zukunft: „Precision Era“ der SBBN Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Alternative Theorien 1) Inhomogene Baryonenverteilung während SBBN 2) Zusätzliche relativistische Teilchen, Neutrinos, WIMPS 3) Primordiale Schwarze Löcher Weitere Hypothesen: • • • • • Hohes chem. Potential bei Neutrinos Sterile Neutrinos Magnetfelder Antimaterie-Domänen Alternative Gravitationstheorien Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Was ist mit Dunkler Materie? Baryonische Dunkle Materie: SBBN sagt mehr baryonische Masse voraus, als beobachtet wird d.h. weniger als 10% der Baryonen „leuchten“ ⇒ Nichtleuchtende Materie, z.B. MACHOS Nichtbaryonische Dunkle Materie: Massedichte des Universums: ca. 0,4 Ω Baryonendichte aus SBBN: ⇒ maximal 0,05 Ω Suche nach nichtbaryonischer dunkler Materie (Axionen, Neutralinos, WIMPS, exotische Teilchen, ...) Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Zusammenfassung • Ablauf der Nukleosynthese folgt aus einfachen Annahmen • Nur ein freier Parameter, aus Messungen bestimmbar • Vorhersagen stimmen mit Beobachtungen sehr gut überein • Der dritte klare Hinweis auf einen „Big Bang“ (neben Hintergrundstrahlung und Rotverschiebung) • Starkes Argument für die Existenz dunkler Materie • In den kommenden Jahren: viele bessere und genauere Messungen Nukleosynthese beim Urknall Scheinseminar Astroteilchenphysik Literatur • Carroll, Bradley W.: An introduction to modern astrophysics Addison Wesley 1996 • Pagel, B.E.J.: Nucleosynthesis and Chemical Evolution of Galaxies Cambridge University Press 1997 • Lemoine, M. et al.: Deuterium abundances New Astronomy 4 (1999) • • • Tytler, D. et al.: Deuterium and the baryonic density of the universe Olive, K.: Primordial nucleosynthesis: theory and observation Pagel, B.E.J.: Helium and Big Bang nucleosynthesis Physics Reports 333-334 (2000) • Tytler, D. et al.: Review of BBN and primordial abundances Physica Scripta 85 (2000) • Boyd, R.N.: Big bang nucleosynthesis Nuclear Physics A 693 (2001) • FUSE-Projekt: http://fuse.pha.jhu.edu/