c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright Kapitel 1 Grundlagen In diesem Kapitel werden zunächst einführende Konzepte und Begriffe aus der Schulmathematik wiederholt und komprimiert zusammengefasst. Nach allgemeinen Mengen werden die Zahlenmengen der natürlichen, der rationalen und der reellen Zahlen axiomatisch eingeführt und ihre wichtigsten Eigenschaften besprochen. Anschließend werden mathematische Symbole für Summen, Produkte, Wurzeln und einige andere elementare Rechenoperationen behandelt. Der binomische Lehrsatz, der Betrag, komplexe Zahlen und eine kurze Diskussion von Nullstellen reeller Polynome schließen das Kapitel ab. 1.1 Mengen Die ebenso schlichte wie vielseitige Definition einer Menge gehört zu den wichtigsten Grundbegriffen der Mathematik. Definition 1.1 Eine Menge ist eine Zusammenfassung von unterschiedlichen Objekten. Die Objekte heißen Elemente der Menge. Im Allgemeinen wird eine Menge ausschließlich durch ihre Elemente definiert. Eine Struktur durch Beziehungen der Elemente untereinander, wie z.B. eine Reihenfolge der Elemente, wird in Definition 1.1 nicht gefordert. Ist das Objekt a ein Element der Menge M , schreibt man dafür a ∈ M . Analog bedeutet a 6∈ M , dass a kein Element von M ist. Mengen werden entweder durch Aufzählen ihrer Elemente definiert oder durch die Beschreibung von Eigenschaften der Elemente. Eine Menge, die nur endlich viele Elemente besitzt, heißt endliche Menge. Eine Menge mit unendlich vielen Elementen wird unendliche Menge genannt. Den Sonderfall einer Menge ohne Elemente bezeichnet man als leere Menge. Mathematische Symbole der leeren Menge sind ∅ und {}. Beispiel 1.2 1. Schreibweisen von Mengen durch Aufzählen der Elemente: a) M = {rot, grün, blau } (endliche Menge). c) M = {2, 4, 6, . . . , 2n, . . . } (unendliche Menge der geraden natürlichen Zahlen). b) M = {1, 2, 3, . . . , 100} (endliche Menge). 1 Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 2 2. Darstellung von Mengen durch die Beschreibung von Eigenschaften ihrer Elemente: a) M = {a | a ist gerade natürliche Zahl } = {a : a ist gerade natürliche Zahl } (= {2, 4, 6, . . . , 2n, . . . }). b) Menge der Quadratzahlen: M = {a | a = n2 , n = 1, 2, 3, . . . } = {1, 4, 9, . . . , n2 , . . . }. c) M = {Deutsche Städte | Einwohnerzahl > 1.000.000} (= {Berlin, Hamburg, München, Köln}). d) M = {Berge in Deutschland | Höhe > 3.000m} = ∅. △ Mengen lassen sich unter anderem schneiden, vereinigen und miteinander vergleichen. Definition 1.3 1. Die Menge M1 heißt Teilmenge der Menge M2 , wenn jedes Element von M1 auch zu M2 gehört. M2 heißt dann Obermenge von M1 . Schreibweisen: M1 ⊆ M2 , M2 ⊇ M1 . 2. Zwei Mengen M1 und M2 heißen gleich, wenn sie dieselben Elemente enthalten (dann gilt M1 ⊆ M2 und M1 ⊇ M2 ). Schreibweise: M1 = M2 . 3. Der Durchschnitt zweier Mengen M1 und M2 wird von den gemeinsamen Elementen gebildet. Schreibweise: M1 ∩ M2 . Venn-Diagramm: Falls M1 ∩ M2 = ∅ gilt, heißen M1 und M2 disjunkt. 4. Die Vereinigung zweier Mengen M1 und M2 enthält alle Elemente, die in M1 oder M2 (d.h. in mindestens einer der beiden Mengen) liegen. Schreibweise: M1 ∪ M2 . Venn-Diagramm: 5. Die Differenz von M1 und M2 enthält alle Elemente von M1 , die nicht gleichzeitig zu M2 gehören. Schreibweisen: M1 \ M2 = M1 − M2 . Venn-Diagramm: Beispiel 1.4 Es seien M1 = {1, 2}, M2 = {1, 2, 3, 4}, M3 = {4, 2, 1, 3}, M4 = {3, 5, 6}. Dann gilt: 1. M1 ⊆ M2 , M1 ⊆ M3 , M2 ⊆ M3 , M2 ⊇ M3 . 2. M2 = M3 . 3. M1 ∩ M4 = ∅, M2 ∩ M4 = {3}. 4. M1 ∪ M4 = {1, 2, 3, 5, 6}, M2 ∪ M3 = {1, 2, 3, 4}. 5. M2 \ M4 = {1, 2, 4}, M4 \ M2 = {5, 6}, M2 \ M1 = {3, 4}, M1 \ M2 = ∅. △ c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 3 1.2 Zahlenmengen: N, Z, Q, R Bei den hier vorgestellten Zahlenmengen sind auch Verknüpfungen der Elemente untereinander maßgeblich. Diese sind aus der Schulmathematik bekannt. Wir fassen die wichtigsten Eigenschaften zusammen. 1.2.1 Menge der natürlichen Zahlen: N N = {1, 2, 3, . . . }. Die Addition und die Multiplikation zweier beliebiger natürlicher Zahlen sind stets durchführbar und das Ergebnis ist wieder eine natürliche Zahl: N ist abgeschlossen bezüglich + und ·. Die Subtraktion oder 3 6∈ N). die Division zweier natürlicher Zahlen sind nicht immer definiert (z.B. 3 − 5 = −2 6∈ N, 2 Nimmt man zur Menge N noch die Zahl 0 hinzu, so erhält man die Zahlenmenge N0 = {0, 1, 2, 3, . . . }. 1.2.2 Kommutative Gruppe der ganzen Zahlen: Z Z = {0, ±1, ±2, . . . }. Unter einer Gruppe versteht man in der Mathematik eine Menge M , in der eine Operation +“ definiert ” ist, die zwei beliebigen Elementen e1 , e2 ∈ M eine Summe e3 = e1 + e2 ∈ M zuordnet, sodass dabei gewisse Gesetze (Assoziativgesetz (AG), Gesetz vom neutralen Element (GNE), Gesetz vom inversen Element (GIE)) erfüllt sind. Gilt zudem noch das Kommutativgesetz (KG), spricht man von einer kommutativen Gruppe. Die Menge der ganzen Zahlen bildet eine kommutative Gruppe bezüglich der Addition. Es gilt: für alle x, y, z ∈ Z. AG: (x + y) + z = x + (y + z) GNE: x + 0 = x für alle x ∈ Z. GIE: x + (−x) = 0 Für jedes x ∈ Z existiert ein inverses Element −x ∈ Z bezüglich der Addition. KG: x+y =y+x für alle x, y ∈ Z. 1.2.3 Die Zahl 0 ist neutrales Element bezüglich der Addition. Körper der rationalen Zahlen: Q p Q = { | p, q ∈ Z, q 6= 0}; q p k·p und , q k·q k ∈ Z \ {0}, beschreiben dieselbe Zahl. Ein Körper ist eine Menge M , in der zwei Operationen +“ und ·“ definiert sind, welche gewissen ” ” Rechenregeln genügen (siehe Körperaxiome). Die Menge der rationalen Zahlen bildet einen Körper und besitzt darüber hinaus die nachfolgend beschriebenen Eigenschaften. 1. Körperaxiome: a) Q bildet eine kommutative Gruppe bezüglich der Addition. b) Q \ {0} bildet eine kommutative Gruppe bezüglich der Multiplikation. Das neutrale Element bezüglich der Multiplikation ist die Zahl 1. Das bezüglich der Multiplikation inverse Element 1 zu x ∈ Q \ {0} ist ∈ Q \ {0}. x c) Es gilt das Distributivgesetz (DG) x(y + z) = xy + xz für alle x, y, z ∈ Q. Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 4 2. Anordnungsaxiome: Rationale Zahlen (und somit auch ganze Zahlen und natürliche Zahlen) kann man ordnen. Für zwei beliebige Zahlen x, y ∈ Q gilt genau eine der Beziehungen x < y oder x = y oder x > y (ausschließendes oder). Die Ordnungsrelation <“ besitzt die folgenden Eigenschaften: ” a) Aus x < y, y < z folgt x < z . (Transitivität) b) c) Aus x < y folgt x + z < y + z für alle z ∈ Q. (Monotonie bezüglich +) Aus x < y, 0 < z folgt x · z < y · z . (Monotonie bezüglich · ) 3. Archimedisches Axiom: Zu beliebigen positiven rationalen Zahlen a und b gibt es ein n ∈ N sodass n · a > b gilt. 4. Dichtheit: Zwischen zwei verschiedenen rationalen Zahlen liegen beliebig viele andere rationale x+y . Zahlen. Zwischen x und y mit x 6= y liegt z.B. die von x und y verschiedene Zahl 2 x+y 2 x y Q Abb. 1.1: Dichtheit von Q. 1.2.4 Vollständig geordneter Körper der reellen Zahlen: R Auf dem Zahlenstrahl liegen Zahlen, die nicht√zu Q gehören. Beispielsweise die positive Lösung der quadratischen Gleichung x2 = 2, welche mit 2 bezeichnet wird, liegt nicht in Q. 2 1 · −1 0 1 √ 2 2 Q 1 Abb. 1.2: Geometrische Konstruktion von √ 2. Die Menge der rationalen Zahlen wird nun mit Hilfe von Intervallschachtelungen zur Menge R der reellen Zahlen vervollständigt. Für a ≤ b bezeichnet das Intervall [a, b] die Menge aller (rationalen, ab Bem. 1.7 die Menge aller reellen) Zahlen x mit a ≤ x ≤ b. Definition 1.5 Eine Intervallschachtelung ist eine Folge ineinandergeschachtelter Intervalle (sodass jedes Intervall in allen vorangehenden Intervallen enthalten ist) mit rationalen Endpunkten, für welche die Länge der Intervalle mit wachsender Anzahl beliebig klein wird. c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 Beispiel 1.6 Intervallschachtelung für √ 5 2: [1, 2] ⊇ [1.4, 1.5] ⊇ [1.41, 1.42] ⊇ [1.414, 1.415] ⊇ · · · ∋ √ 2. △ Mit Hilfe des Begriffs der Intervallschachtelung wird Q so zu R erweitert, dass die Rechenregeln und die Ordnungsrelation der rationalen Zahlen auch für R gelten und R den Zahlenstrahl vollständig ausfüllt: 1. Körperaxiome von R: Wie bei Q. 2. Anordnungsaxiome von R: Wie bei Q. 3. Archimedisches Axiom: Wie bei Q. 4. Stetigkeitsaxiom (neu in R, gilt nicht in Q): Jede Intervallschachtelung definiert genau eine reelle Zahl. Bemerkung 1.7 Für x < y oder x = y“ (einschließendes oder) schreibt man kurz x ≤ y . Analog wird ” x ≥ y verwendet. Beispiele: 3 ≤ 3, 3 ≤ 4, 5 ≥ 4. ✸ Jede Eigenschaft der reeller Zahlen kann aus den obigen Axiomen hergeleitet werden. Unter anderem lassen sich die aus der Schulmathematik bekannten Rechenregeln durch einfache logische Schlüsse aus den Axiomen gewinnen. Lemma 1.8 (Folgerungen aus den Anordnungsaxiomen) Für beliebige reelle Zahlen x, y, z, u, v gilt: 1. Aus x < y folgt −x > −y . 2. Aus x < y und z < 0 folgt xz > yz . 3. x < y und x′ < y ′ ⇒ x + x′ < y + y ′ . 4. 0 ≤ x < y , 0 ≤ u < v ⇒ xu < yv . 5. x < y, xy > 0 ⇒ 1 1 < . y x Das Symbol ⇒ bedeutet, dass die Beziehung auf der rechten Seite des Zeichens aus der Beziehung links des Zeichens folgt. Man beachte die in ihrer Bedeutung gleichwertigen Varianten in der Schreibweise der Voraussetzungen und Folgerungen. Folgerung 2. hätte man auch durch x < y, z < 0 ⇒ xz > yz ausdrücken können. Beweis: A2b) von 1.: x < y ⇒ x + (−x) < y + (−x) ⇒ 0 < y − x A2b) ⇒ 0 + (−y) < y − x + (−y) ⇒ −y < −x. von 2.-5.: Analog. ✷ Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 6 Beispiel 1.9 1. 3 < 5 ⇒ −3 > −5. 2. 3 < 5, −2 < 0 ⇒ −6 > −10. 3. 3 < 5, 1 < 2 ⇒ 4 < 7. 4. 0 ≤ 2 < 3, 0 ≤ 4 < 5 ⇒ 8 < 15. 5. 3 < 5, 3 · 5 > 0 ⇒ 1 1 < ; 5 3 1 1 −5 < −3, (−5) · (−3) > 0 ⇒ − < − . 3 5 △ 1.3 Gleichheitszeichen Das Gleichheitszeichen wird in der mathematischen Notation in unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Üblicherweise bedeutet die Gleichung a = b, dass der Wert oder Ausdruck a auf der linken Seite des Gleichheitszeichens mit dem Wert oder Ausdruck b auf der rechten Seite übereinstimmt. Beispiele 2 1 sind die Gleichungen 1 + 2 = 3 oder = . 2 4 Manchmal wird das Gleichheitszeichen auch im Sinne einer Wertzuweisung verwendet, wie z.B. in x = 2, wo eine Variable x mit Wert 2 eingeführt wird, oder in π = 3.141592 . . . , wo π als Symbol für die Kreiszahl festgelegt wird. Will man besonders betonen, dass eine Seite der Gleichung durch die andere definiert wird, schreibt man auf der Seite, die festgelegt wird, einen Doppelpunkt neben das Gleichheitszeichen. Beispielsweise bedeutet a + b =: c, dass für die Summe aus a und b eine neue Variable c eingeführt wird. Sollen zwei Werte oder Ausdrücke gleichgesetzt werden, schreibt man zur Hervorhebung über das Gleichheitszeichen ein Ausrufezeichen. Will man z.B. die Schnittpunkte der Funktionsgraphen von f und g mit f (x) = 2x und g(x) = x2 + 3 bestimmen, kann man dies durch ! f (x) = g(x) ⇐⇒ 2x = x2 − 3 verdeutlichen. Das Zeichen ⇐⇒ drückt aus, dass die links und rechts davon stehenden Beziehungen äquivalent sind. 1.4 Summen und Produkte Für die Summe der Zahlen a0 , a1 , . . . , an schreibt man kurz: n X k=0 ak := a0 + a1 + · · · + an . P heißt Summenzeichen, k Summationsindex, 0 untere Summationsgrenze, n obere Summationsgrenze. Ist der obere Summationsindex kleiner als der untere, besitzt die leere Summe den Wert 0. Summen erfüllen die folgenden Rechenregeln: 1. Der Name des Summationsindex ist beliebig: n X k=0 ak = n X ℓ=0 aℓ = n X j=0 aj = a0 + a1 + · · · + an . c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 7 2. Durch Indexverschiebung kann man die Werte des Summationsindex ändern: n X n−ℓ X ak = ak+ℓ = k=j k=−ℓ k=0 n+j X ak−j = a0 + a1 + · · · + an . 3. Summen können in Teilsummen aufgespalten werden: n X ak = m X k=m+1 k=0 k=0 n X ak + ak (m ≤ n; m, n ∈ N0 ). 4. Es gilt das Distributivgesetz für Summen: n X (αak + βbk ) = α n X n X ak + β k=0 k=0 k=0 bk (α, β ∈ R fest). 5. Produkte von Summen können auf unterschiedliche Weisen zusammengefasst werden: n X k=0 ak ! p X ℓ=0 bℓ ! = p n X X a k bℓ ℓ=0 k=0 ! = p n X X ℓ=0 ! . ! = 15. a k bℓ k=0 Beispiel 1.10 1. 4 X k=1 2. 4 X k=1 3. 5 X k= 4 X j = 1 + 2 + 3 + 4 = 10. j=1 k2 = 6 X k=3 (k − 2)2 = 1 + 4 + 9 + 16 = 30. k = 1 + 2 + 3 + 4 + 5 = (1 + 2 + 3) + (4 + 5) = k=1 4. 5 X 3 X k=1 1 = 1 + 1 + 1 + 1 + 1 = 5; n X k ! + 5 X k=4 k 1 = n. k=1 k=1 5. 3 + 5 + 7 + 9 + 11 = 5 X (2k + 1) = 2 k=1 5 X k+ 5 X k=1 k=1 1 = 2 · 15 + 5 = 35. 6. (a0 + a1 + a2 )(b0 + b1 ) = a0 b0 + a0 b1 + a1 b0 + a1 b1 + a2 b0 + a2 b1 = a 0 b 0 + a 1 b 0 + a 2 b0 + a 0 b 1 + a 1 b 1 + a 2 b 1 . Analog zu Summen werden Produkte mit dem Symbol n Y k=1 ak := a1 · a2 · . . . · an , z.B. 3 Y k=1 Q beschrieben: k 2 = 12 · 22 · 32 = 1 · 4 · 9 = 36. △ Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 8 1.5 Potenzen und Wurzeln Für x ∈ R, n ∈ N definiert man: xn := x | · x ·{z. . . · x} . n Faktoren Für x 6= 0 setzt man x0 := 1. Der Fall 00“ wird als Grenzwert je nach mathematischem Zusammen” hang unterschiedlich definiert (später). Ist n ≥ 2 eine natürliche Zahl und a eine positive reelle Zahl, dann heißt eine positive reelle Zahl x, für die xn = a gilt, n-te Wurzel von a: x= √ n a ⇐⇒ xn = a (a, x > 0, n ≥ 2). √ √ Für die Quadratwurzel einer Zahl a schreibt man a statt 2 a. Für a = 0 ist x = 0 die einzige Lösung der Gleichung xn = a. Im Fall a < 0 und n gerade gibt es keine reelle Zahl x mit xn = a. Beispiel 1.11 1. 2. 3. 4. √ 9=3 p √ 3 √ (da 32 = 3 · 3 = 9). (−3)2 = 8=2 √ 9=3 (nicht −3!). (da 23 = 2 · 2 · 2 = 8). −9 ist in R nicht definiert. △ 1.6 Fakultät einer natürlichen Zahl Für n ∈ N ist n Fakultät das Produkt der ersten n natürlichen Zahlen: n! := 1 · 2 · . . . · n = n Y k. k=1 Außerdem setzt man 0! := 1. Die Fakultät besitzt wichtige Anwendungen in der Kombinatorik. Die Zahl n! gibt die Anzahl der Möglichkeiten an, n unterschiedliche Gegenstände in einer Reihe anzuordnen. Beispiel 1.12 1. 1! = 1, 3! = 1 · 2 · 3 = 6, 10! = 1 · 2 · . . . · 10 = 3.628.800. 2. Es gibt 3! = 6 Möglichkeiten, die Farben rot, grün und blau anzuorden: r-g-b, r-b-g, g-r-b, g-b-r, b-r-g, b-g-r. △ c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 9 1.7 Binomialkoeffizienten Für α ∈ R, k ∈ N ist der Binomialkoeffizient α über k“ definiert durch ” α(α − 1)(α − 2) · . . . · α − (k − 1) α(α − 1)(α − 2) · . . . · (α − k + 1) α = := k k! k! α := 1. (je k Faktoren in Zähler und Nenner). Außerdem setzt man 0 Wie die Fakultät treten auch die Binomialkoeffizienten in der Kombinatorik auf. Für natürliche Zahlen n und k gibt der Binomialkoeffizient n k die Anzahl der Möglichkeiten an, k Kugeln ohne Zurücklegen aus einer Urne mit n unterschiedlichen Kugeln zu ziehen. Beispiel 1.13 1 1 · (− 21 ) 5·4·3 5 3 · 2 · 1 · 0 · (−1) 1 3 2 = 1. = = 10, = 0, =− . = 2 3 1·2·3 1·2·3·4·5 1·2 8 5 2 Liegen in einer Urne 5 mit den Buchstaben a bis e beschriftete Kugeln, von denen drei gezogen werden, und kommt es dabei nicht auf die Reihenfolge der Ziehung an, kann man die folgenden 10 unterschiedlichen Kombinationen erhalten: abc, abd, abe, acd, ace, ade, bcd, bce, bde, cde. 2. Schreibt man die Zahlen von Null bis Neun als 00, 01, . . . 09, dann gibt es lige Dezimalzahlen, bei denen die erste Ziffer kleiner ist als die zweite. 10 = 45 zweistel2 Zur Überprüfung dieses Ergebnisses streichen wir von den hundert Zahlen 00 bis 99 die zehn Zahlen 00, 11, . . . 99 mit zwei gleichen Ziffern. Unter den verbleibenden neunzig Zahlen tritt jede mögliche Ziffernkombination zweimal auf, wie z.B. die Kombination von 3 und 6 in den Zahlen 36 und 63. In der Hälfte der Fälle, also bei 45 Zahlen, ist die erste Ziffer kleiner als die zweite. 49 = 13.983.816 unterschiedliche Kombinationen. Die Wahr3. Beim Lotto 6 aus 49“ gibt es ” 6 scheinlichkeit für einen Sechser im Lotto beträgt also ungefähr eins zu 14 Millionen. △ 1.7.1 Eigenschaften der Binomialkoeffizienten Die nachstehenden Eigenschaften folgen unmittelbar aus der Definition der Binomialkoeffizienten. n = 0. 1. Für k, n ∈ N0 mit n < k gilt k 2. Berechnungsformel: Für k, n ∈ N0 und n ≥ k gilt n n! = . k k!(n − k)! Beispiel: 5·4·3 5! 5 5·4·3 ·2·1 120 = = = = = 10. 3 1·2·3 1·2·3 ·1·2 3!(5 − 3)! 6·2 3. Die Berechnungsformel liefert eine Symmetrieeigenschaft: Für k, n ∈ N0 und n ≥ k gilt n n . = n−k k Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 10 4. Additionsformel: Für α ∈ R gilt α+1 α α . = + k+1 k+1 k Die Additionsformel veranschaulichen wir für den Fall α + 1 = 10, k + 1 = 4. Dazu betrachten wir eine Urne, die zehn Kugeln mit den Zahlen 1 bis 10 enthält, von denen vier gezogen werden. Zu von diesem Lotto 4 aus 10“ existieren genau ” 10 4 = 210 verschiedene Kombinationen. Es sei C die Menge dieser Kombinationen. Dann kann man C so in zwei disjunkte Teilmengen A und B unterteilen, dass A die Ziehungen enthält, bei denen die Zahl 1 gezogen wurde, und B diejenigen Ziehungen, in denen die Zahl 1 nicht auftritt. Bei den in B wurden vier Kugeln aus den Ziehungen 9 = 126 Elemente. Mit gleicher Begründung Zahlen 2 bis 10 gezogen. Die Menge B besitzt also 4 9 = 84 Elemente von A, denn die Elemente in A entsprechen gerade den Ziehungen von gibt es 3 drei Kugeln aus den Zahlen 2 bis 10. In der Tat ist 210 = 126 + 84. 1.7.2 Pascal’sches Dreieck Der französische Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662) ordnete die Binomialkoeffizienten n k mit k, n ∈ N0 so in an, dass in der n+1-ten Zeile des Dreiecks die n+1 Binomial Dreiecksschema einem koeffizienten n , 0 n , ... 1 n n stehen. Nach der Additionsformel n+1 n n = + k+1 k+1 k ist dann jede Zahl im Dreieck die Summe der beiden über ihr stehenden Zahlen. Die ersten sechs Zeilen des Pascal’schen Dreiecks lauten: 1 1 1 1 1 1 2 3 4 5 1 1 3 6 10 1 4 10 1 5 1 1.8 Der binomische Lehrsatz Für a, b ∈ R gilt (a + b)1 = a + b, (a + b)2 = (a + b)(a + b) = a2 + 2ab + b2 , (a + b)3 = (a + b)2 (a + b) = (a2 + 2ab + b2 )(a + b) = a3 + 2a2 b + ab2 + a2 b + 2ab2 + b3 = a3 + 3a2 b + 3ab2 + b3 , (a + b)4 = (a + b)3 (a + b) = a4 + 4a3 b + 6a2 b2 + 4ab3 + b4 . c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 11 Mit gleicher Rechnung formt man (a + b)n für n ∈ N, n > 4 um. Auf der rechtenSeite treten dann Ter- me an−k bk auf, deren ganzzahlige Koeffizienten mit den Binomialkoeffizienten n k übereinstimmen. Allgemein gilt: Satz 1.14 (Binomischer Lehrsatz) Seien a, b ∈ R und n ∈ N0 und es sei 00 := 1 vereinbart. Dann gilt: n n 0 n X n n−k k n n−1 1 n n 0 a b . a b = a b + ··· + a b + (a + b) = k n 1 0 n k=0 Bemerkung 1.15 Die Vereinbarung 00 := 1 wird hier benötigt, damit der binomische Lehrsatz auch für die Sonderfälle a = 0, b = 0 oder a + b = 0 gilt. Z.B. für a = 2, b = 0, n = 2 muss gelten: 4 = (2 + 0)2 = 22 00 + 2 · 21 01 + 20 02 = 4 · 00 + 0 + 0 = 4 · 00 . ✸ Beispiel 1.16 Ohne mühsames Ausmultiplizieren liest man aus der sechsten Zeile des Pascal’schen Dreiecks ab: (a + b)5 = a5 + 5a4 b + 10a3 b2 + 10a2 b3 + 5ab4 + b5 . △ 1.9 Der Betrag Definition 1.17 Für x ∈ R heißt |x| = x für x ≥ 0, −x für x < 0 (absoluter) Betrag von x. Die Zahl |x| gibt den Abstand von x zum Nullpunkt an. 0 x1 |x1 | x2 x |x2 | Abb. 1.3: Betrag einer reellen Zahl. 1.9.1 Eigenschaften des Betrags Die nachstehenden Eigenschaften lassen sich leicht beweisen. Dem Leser wird empfohlen, die Eigenschaften 1.-6. exemplarisch für x = −2, y = 3 zu verifizieren. 1. Für alle x ∈ R gilt: |x| ≥ x, |x| ≥ −x. 2. Für alle x, y ∈ R gilt: |x · y| = |x| · |y|. x |x| . 3. Für alle x, y ∈ R mit y 6= 0 gilt: = y |y| 4. Sei y ≥ 0 vorgegeben. Dann gilt: |x| ≤ y ⇐⇒ −y ≤ x ≤ y. −y 0 Mögliche Werte von x Abb. 1.4: Betragsungleichung. y R Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 12 5. Der Betrag erfüllt die Dreiecks-Ungleichung ~x + ~y ~ y |x + y| ≤ |x| + |y| . ~x Abb. 1.5: Dreiecks-Ungleichung. Der Name dieser Ungleichung leitet sich aus der Eigenschaft ebener Dreiecke ab, bei denen die längste Seite höchstens so lang ist wie die beiden anderen Seiten zusammen. 6. Es gilt die umgekehrte Dreiecks-Ungleichung |x| − |y| ≤ |x ± y| . 7. Anwendung: Gegeben seien a ∈ R, d > 0. Gesucht sind alle x ∈ R mit |x − a| ≤ d. Nach 4. gilt: |x − a| ≤ d ⇐⇒ −d ≤ x − a ≤ d ⇐⇒ a − d ≤ x ≤ a + d. Die Betragsungleichung definiert das abgeschlossene Intervall [a − d, a + d]. Im Fall |x − a| < d erhält man das offene Intervall (a − d, a + d) := {x ∈ R | a − d < x < a + d}. 8. Anwendung: Für x ∈ R ist 1.10 √ x2 = |x|. Komplexe Zahlen Irrationale ( unvernünftige“) Zahlen wurden eingeführt, um quadratische Gleichungen wie ” x2 − 2 = 0 √ zu lösen. 2 “ ist ein Symbol für die positive Lösung dieser Gleichung, mit dem die Grundrechenarten ” Addition und Multiplikation wie mit rationalen Zahlen “ durchgeführt werden, indem für rationale Zahlen ” gültige Rechenregeln wie Assoziativ- und Distrubutivgesetz auch für reelle Zahlen postuliert werden (siehe Abschnitt 1.2.4). Z.B. gilt √ √ √ 2 + 3 2 − (1 − 2) = 1 + 4 2, √ √ √ (1 − 2) · (1 + 2) = 1 − ( 2)2 = 1 − 2 = −1, √ √ √ 2 √ √ (− 2) · (− 2) = (−1) · (−1) · ( 2 · 2) = 2 = 2, u.s.w. In R sind aber immer noch nicht alle quadratischen Gleichungen lösbar. So besitzt beispielsweise die Gleichung x2 + 1 = 0 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 13 keine reelle Lösung. Wir erweitern daher R zu den komplexen Zahlen C, indem wir imaginäre ( einge” bildete“) Zahlen einführen. Die imaginäre Einheit i “ wird definiert als Symbol für eine positive Lösung“ ” ” von x2 + 1 = 0, d.h. es gilt Wir schreiben dafür auch i = √ i2 = −1. −1. Addition und Multiplikation mit i werden wie mit den reellen Zahlen “ durchgeführt, d.h. die Körperaxio” me aus Abschnitt 1.2.3 werden auch für komplexe Zahlen gefordert. Demnach gilt z.B. 2 + 3 i − (1 − i) = 1 + 4 i, (1 − i) · (1 + i) = 1 − i2 = 1 − (−1) = 2, (−i) · (−i) = (−1) · (−1) · (i · i) = i2 = −1, u.s.w. Definition 1.18 Eine Summe der Gestalt z = x + i y mit x, y ∈ R heißt komplexe Zahl. x = Re z heißt Realteil von z und y = Im z heißt Imaginärteil von z . Bemerkung 1.19 Wegen i · 0 = 0 ( übliche“ Regeln) gilt: ” z = x + i · 0 = x ∈ R, d.h. R ist eine Teilmenge von C. Bei der Erweiterung von R zu C geht allerdings die Ordnungsrelation der reellen Zahlen verloren. Man gewinnt in C Zahlen hinzu, kann diese aber nicht mehr der Größe nach ordnen. ✸ Definition 1.20 1. z1 = x1 + i y1 und z2 = x2 + i y2 heißen gleich, wenn x1 = x2 und y1 = y2 gilt. 2. z := x − i y heißt die zu z = x + i y konjugiert komplexe Zahl. 3. z = i y mit y ∈ R heißt rein imaginäre Zahl. 4. Die Addition und Subtraktion ist gemäß der üblichen“ Rechenregeln definiert: ” (x1 + i y1 ) ± (x2 + i y2 ) := x1 ± x2 + i (y1 ± y2 ). 5. Für die Multiplikation gilt analog: (x1 + i y1 ) · (x2 + i y2 ) := x1 x2 + i (x1 y2 + y1 x2 ) + i2 y1 y2 = x1 x2 − y1 y2 + i (x1 y2 + x2 y1 ) . {z } | {z } | Re(z1 ·z2 ) Folgerung: z · z = (x + i y) · (x − i y) = x2 − i2 y 2 = x2 + y 2 . Im(z1 ·z2 ) Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 14 6. Aus der Multiplikation ergibt sich für die Division: x 1 x 2 + y1 y2 x 2 y1 − x 1 y2 z1 z 1 · z2 (x1 + i y1 ) · (x2 − i y2 ) = +i := = 2 2 2 2 z2 z 2 · z2 x 2 + y2 x 2 + y2 x22 + y22 für z2 6= 0. 2 + 3i (2 + 3 i) · (1 + i) 2 + 2i + 3i − 3 −1 + 5 i 1 5 = = = = − + i. 2 1−i (1 − i) · (1 + i) 1−i 2 2 2 Z.B. Vergleiche hierzu das Beseitigen von Wurzeln im Nenner eines Bruchs, welches nach den gleichen Regeln erfolgt: √ √ √ √ √ √ √ 2+3 2 (2 + 3 2) · (1 + 2) 2+2 2+3 2+6 8+5 2 √ = √ √ √ = −8 − 5 2. = = −1 1− 2 (1 − 2) · (1 + 2) 1 − ( 2)2 Bemerkung 1.21 Aus dieser Definition folgt: 1. z = z . 2. z1 ± z2 = z1 ± z2 , 3. Re z = z1 · z 2 = z1 · z 2 , z1 z2 = z1 . z2 1 1 · (z + z) und Im z = · (z − z). 2 2i 4. z = z ⇐⇒ Im z = 0 ⇐⇒ z ∈ R. 1.10.1 ✸ Gauß’sche Zahlenebene Im z y Die komplexe Zahl z = x + i y ist durch ein Paar = |z | (x, y) = (Re z, Im z) ϕ −ϕ zweier reeller Zahlen definiert und kann somit als Punkt in der komplexen (oder auch Gauß’schen) Zahlenebene interpretiert werden. |z | −y z = x + iy r x =r Re z z = x − iy Abb. 1.6: Komplexe Zahl mit Betrag und Argument. Definition 1.22 1. Der Abstand einer komplexen Zahl z = x + i y vom Ursprung in der komplexen Ebene heißt Betrag von z . Es ist p √ r = |z| = x2 + y 2 = z · z. 2. Das Argument von z ist gegeben durch† ϕ = arg z mit cos ϕ = x y , sin ϕ = . r r † Kosinus und Sinus sind die aus der Schule bekannten Funktionen. Die trigonometrischen Funktionen werden in Abschnitt 7.6 wiederholt. c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 15 Bemerkung 1.23 1. Eine komplexe Zahl z wird durch ihren Betrag r = |z| und ihr Argument ϕ = arg z eindeutig festgelegt. Mit x = r · cos ϕ, y = r · sin ϕ (siehe Abb. 1.6) ergibt sich die Polardarstellung z = r · (cos ϕ + i sin ϕ). 2. Die Umrechnung von Polarkoordinaten (r, ϕ) in kartesische Koordinaten (Re z, Im z) und umgekehrt erfolgt nach den folgenden Formeln: ⇒“ ” x = Re z = r · cos ϕ, y = Im z = r · sin ϕ. ⇐“ ” p r = x2 + y 2 , x y ϕ aus cos ϕ = , sin ϕ = . r r 3. Prinzipiell ist ϕ ∈ R zugelassen. Da Kosinus und Sinus 2π -periodisch sind, kann man immer ϕ ∈ [0, 2π) wählen. Man spricht dann vom Hauptwert des Arguments. Für (x, y) = (0, 0) ist r = 0 und ϕ beliebig. ✸ 1.10.2 Geometrische Veranschaulichung der komplexen Multiplikation Sind zwei komplexe Zahlen z1 und z2 in der Polardarstellung gegeben, z1 = r1 (cos ϕ1 + i sin ϕ1 ), z2 = r2 (cos ϕ2 + i sin ϕ2 ), dann gilt für ihr Produkt z1 z2 = r1 r2 (cos ϕ1 + i sin ϕ1 )(cos ϕ2 + i sin ϕ2 ) = r1 r2 cos ϕ1 cos ϕ2 − sin ϕ1 sin ϕ2 + i(cos ϕ1 sin ϕ2 + sin ϕ1 cos ϕ2 ) = r1 r2 cos(ϕ1 + ϕ2 ) + i sin(ϕ1 + ϕ2 ) . Bei der Multiplikation zweier komplexer Zahlen werden die Beträge multipliziert und die Argumente addiert. Im Spezialfall z1 = z2 = z ergibt sich durch wiederholte Multiplikation von z mit sich selbst zunächst 2 z =r 2 cos(2ϕ) + i sin(2ϕ) und weiter z n = rn cos(nϕ) + i sin(nϕ) Im z z1 z2 z2 z1 ϕ1 + ϕ2 ϕ2 ϕ1 für n ∈ N. Re z Abb. 1.7: Multiplikation in C. Die Umkehrung der letzten Beziehung liefert eine Berechnungsformel für Wurzeln einer komplexen Zahl. Ist z = r(cos ϕ + i sin ϕ) gegeben, dann ist für n ∈ N w0 = √ ϕ ϕ n + i sin r cos n n der Hauptwert der n-ten Wurzel von z . Alle weiteren n-ten Wurzeln werden durch die Moivre’sche Formel (1.1) beschrieben. Für n ∈ N und k ∈ {1, 2, . . . , n − 1} ist wk = √ ϕ + 2kπ ϕ + 2kπ n + i sin r cos n n (1.1) Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 16 wegen wkn = r cos(ϕ + 2kπ) + i sin(ϕ + 2kπ) = r(cos ϕ + i sin ϕ) = z eine weitere n-te Wurzel von z . Jede komplexe Zahl z 6= 0 besitzt nach (1.1) n verschiedene n-te Wurzeln, die alle den Betrag haben und die Ecken eines regelmäßigen n-Ecks in der komplexen Ebene bilden. p n |z| Beispiel 1.24 Lage der komplexen Lösungen der Gleichungen w 3 = 1, w 3 = i und w 5 = 1 + i. Im z Im z Im z w1 1+i w1 w1 w2 w0 w0 w0 Re z Re z Re z w3 w2 w4 w2 w3 = 1 w5 = 1 + i w3 = i △ Abb. 1.8: Komplexe Wurzeln. 1.11 Nullstellen von Polynomen Im Gegensatz zu R ist C algebraisch abgeschlossen: Jedes Polynom n-ten Grades mit reellen oder komplexen Koeffizienten kann in genau n Linearfaktoren zerlegt werden. Jeder Linearfaktor enthält genau eine Nullstelle des Polynoms. Satz 1.25 Es sei pn (z) := z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 , a0 , . . . , an−1 ∈ C, z ∈ C ein normiertes Polynom n-ten Grades (d.h. mit führendem Koeffizienten an = 1). Dann gibt es genau n Zahlen z1 , . . . , zn ∈ C (die nicht alle verschieden sein müssen), sodass pn (z) = (z − z1 ) · (z − z2 ) · . . . · (z − zn ) = n Y k=1 (z − zk ) (1.2) gilt. Satz 1.25 folgt aus dem sogenannten Fundamentalsatz der Algebra. Der Beweis erfordert mathematische Konzepte, die über die in dieser Vorlesung behandelten Inhalte hinausgehen. Bemerkung 1.26 1. Nach Satz 1.25 besitzt ein Polynom n-ten Grades genau n (komplexe) Nullstellen, die aber nicht paarweise verschieden sein müssen. Tritt eine Nullstelle zk in (1.2) ℓ-fach auf, heißt zk ℓ-fache Nullstelle von pn (z). c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 17 2. Die bekannte Lösungsformel zur Berechnung der Nullstellen eines quadratischen Polynoms gilt auch im Komplexen. 3. Auch für Polynome dritten und vierten Grades sind Lösungsformeln zur Berechnung der Nullstellen bekannt. Für Polynome vom Grad ≥ 5 kann man beweisen, dass keine allgemein gültige Lösungsformel existiert. 4. Kennt man eine Nullstelle von pn (z), kann man diese durch Polynomdivision wie im Reellen abdividieren. ✸ Beispiel 1.27 1. Die Nullstellen des quadratischen Polynoms p2 (z) = z 2 + 2z + 2 sind gegeben durch z1/2 = −1 ± √ 1 − 2 = −1 ± i. Die Probe bestätigt: (z + 1 + i) · (z + 1 − i) = (z + 1)2 − i2 = z 2 + 2z + 1 + 1 = z 2 + 2z + 2. 2. Wegen z 3 = (z − 0) · (z − 0) · (z − 0) ist z1 = 0 eine dreifache Nullstelle von p3 (z) = z 3 . 3. Gegeben sei das Polynom p3 (z) = 3z 3 + 6z 2 − 12z − 24 vom Grad 3. Außerdem sei die Nullstelle z1 = 2 bekannt, d.h. es gilt p3 (2) = 0. Durch Polynomdivision können wir p3 (z) als Produkt eines linearen und eines quadratischen Terms ausdrücken: 3z 3 + 6z 2 − 12z − 24 = z − 2 3z 2 + 12z + 12 . − 3z 3 + 6z 2 12z 2 − 12z − 12z 2 + 24z 12z − 24 − 12z + 24 0 Die quadratische Gleichung ! 3 · (z 2 + 4z + 4) = 0 liefert z2/3 = −2 ± √ 4 − 4 = −2. Insgesamt folgt somit p3 (z) = 3z 3 + 6z 2 − 12z − 24 = 3 · (z − 2) · (z + 2)2 , wobei z1 = 2 eine 1-fache und z2 = −2 eine 2-fache Nullstelle von p3 (z) ist. Bei Polynomen mit reellen Koeffizienten können komplexe Nullstellen nur paarweise auftreten: △ Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 18 Lemma 1.28 Besitzt das normierte Polynom pn (z) = z n + n−1 X ak z k k=0 nur reelle Koeffizienten, gilt also ak = ak für alle k , und ist z1 eine nicht reelle Nullstelle von pn , dann ist auch z 1 (6= z1 ) eine Nullstelle von pn . Beweis: Unter der Voraussetzung, dass z1 eine nicht reelle Nullstelle ist, folgt aus pn (z 1 ) = z 1n + n−1 X ak z 1k = z 1n k=0 + n−1 X ak z 1k = z1n k=0 + n−1 X ak z1k z1 Nst. = 0 = 0, k=0 dass z 1 ebenfalls eine Nullstelle von pn ist. ✷ Zwei Linearfaktoren mit konjugiert komplexen Nullstellen kann man zu einem quadratischen Polynom mit reellen Koeffizienten zusammenfassen: (z − z1 ) · (z − z 1 ) = z 2 − (z1 + z 1 ) · z + z1 · z 1 = z 2 − (2 Re z1 ) · z + |z1 |2 . | {z } |{z} ∈R ∈R Aus Lemma 1.28 folgt also: Korollar 1.29 1. Jedes Polynom mit reellen Koeffizienten lässt sich als Produkt von Polynomen ersten oder zweiten Grades mit ausschließlich reellen Koeffizienten darstellen. 2. Jedes Polynom ungeraden Grades mit reellen Koeffizienten besitzt mindestens eine reelle Nullstelle. Beispiel 1.30 Die komplexe Faktorisierung in Linearfaktoren z 5 + z 4 + z 3 − z 2 − 2 = (z − 1) · (z + i) · (z − i) · (z + 1 + i) · (z + 1 − i) lässt sich durch (z − 1) · (z + i) · (z − i) · (z + 1 + i) · (z + 1 − i) = (z − 1) · (z 2 + 1) · (z 2 + 2z + 2) {z } | {z } | = z2 + 1 = z 2 + 2z + 2 als reelle Faktorisierung mit quadratischen Termen schreiben. △ c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright Kapitel 2 Aussagenlogik und elementare Beweistechniken In der Mathematik versucht man immer wieder, vorhandene Kenntnisse über einfache Sachverhalte auf schwierigere Problemstellungen zu übertragen. Zur Formulierung der dazu notwendigen logischen Schlussfolgerungen bedient sich die Mathematik der Aussagenlogik, von der in diesem Kapitel eine kurze Einführung gegeben wird. Außerdem stellen wir zwei häufig verwendete Beweismethoden vor. 2.1 Grundlagen der Aussagenlogik Zwischenmenschliche Kommunikation erfolgt häufig durch Aussagen, die als richtig oder falsch bewertet werden können. Im täglichen Leben ist der Wahrheitsgehalt einer Aussage allerdings meist subjektiv gefärbt, wie die Beispiele • Mit einem anderen Kanzlerkandidaten hätten wir die Wahl gewonnen.“, ” • Der Karlsruher SC gehört in die erste Liga.“, ” • Ich kann nichts dafür.“, ” • Du hast schöne Augen.“ ” zeigen. Im Gegensatz zum wahren Leben, in dem höfliche Lügen der Gesellschaft nützen können, ist die Mathematik kompromisslos der Wahrheit verpflichtet. Um den Wahrheitsgehalt zweifelsfrei bestimmen zu können, erstellen wir ein formales Gerüst zur Konstruktion mathematischer Aussagen. Definition 2.1 Eine Aussage ist ein sprachliches Gebilde mit eindeutigem Wahrheitswert (W für wahr“, ” F für falsch“). ” Beispiel 2.2 1. Katzen sind Säugetiere.“ ist eine wahre Aussage. ” 2. 2 ist größer als 1.“ ist eine wahre Aussage. ” 3. 2 ist größer als 3.“ ist eine falsche Aussage. ” 19 Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 20 4. Haben Sie das verstanden?“ ist keine Aussage, sondern eine Frage. ” 5. Gehe nicht über Los!“ ist keine Aussage, sondern eine Aufforderung. ” 6. Sätze mit subjektivem Wahrheitsgehalt sind keine Aussagen im mathematischen Sinn. △ Durch logische Verknüpfungen von Aussagen entstehen neue Aussagen, deren Wahrheitsgehalt ausschließlich vom Wahrheitsgehalt der ursprünglichen Aussagen abhängt. Diese Abhängigkeit wird in Wahrheitstabellen veranschaulicht. 2.1.1 Die Negation (Verneinung) Zu einer Aussage A bezeichnet Ā oder ¬A (lies nicht A“) die Negation (logische Verneinung). Ist A ” wahr, so ist Ā falsch. Ist A falsch, so ist Ā wahr. Dies wird in der folgenden Wahrheitstabelle dargestellt: A Ā W F F W ¯ = A gilt. Aus der Wahrheitstabelle kann man ablesen, dass Ā Beispiel 2.3 1. Es sei A: Die Ampel ist rot. Dann lautet Ā: Die Ampel ist nicht rot. Beachte: Die Ampel ist grün“ ist nicht das logische Gegenteil der Aussage A. ” 2. Es sei A: x > 2. Dann lautet Ā: x ≤ 2. Beachte: Für jedes x ∈ R ist genau eine der beiden Aussagen A und Ā richtig und die jeweils andere Aussage falsch. Betrachtet man außerdem noch die Aussage B : x < 2, dann sind für x = 2 sowohl A als auch B falsch. B kann daher nicht das logische Gegenteil von A sein. 3. Es sei A: Nachts sind alle Katzen grau. Dann lautet Ā: Nachts sind nicht alle Katzen grau. Äquivalente Formulierung von Ā: Es gibt (mindestens) eine Katze, die nachts nicht grau ist. Beachte: Die logische Verneinung von für alle Elemente einer Menge gilt“ lautet nicht für kein ” ” Element der Menge gilt“, sondern es gibt (mindestens) ein Element der Menge, für das die ” behauptete Eigenschaft nicht gilt“. △ 2.1.2 Die Konjunktion Werden zwei Aussagen A1 und A2 mit und“ verknüpft, so bezeichnet man dies als Konjunktion und ” schreibt kurz A1 ∧ A2 . Dabei gilt folgende Wahrheitstabelle: A1 A2 A1 ∧ A2 W W W W F F F W F F F F c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 21 Die Und-Verknüpfung (Konjunktion) ist nur dann wahr, wenn beide Aussagen wahr sind. Beispiel 2.4 1. Die Hauptstadt von Frankreich liegt an der Seine und heißt Paris.“ ist wahr. ” 2. Die Hauptstadt von Frankreich liegt am Rhein und an der Mosel.“ ist falsch. ” 3. Die Hauptstadt von Frankreich liegt am Rhein und an der Seine.“ ist falsch. ” 4. (1 < 2) ∧ (2 < 3) ist wahr. 5. (4 < 1) ∧ (4 < 2) ist falsch. 6. (1 < 2) ∧ (4 < 2) ist falsch. 2.1.3 △ Die Disjunktion Mit Disjunktion bezeichnet man die Verknüpfung zweier Aussagen A1 und A2 mit oder“ und schreibt ” dafür kurz A1 ∨ A2 . Es gilt folgende Wahrheitstabelle: A1 A2 A1 ∨ A2 W W W W F W F W W F F F Die Oder-Verknüpfung (Disjunktion) ist wahr, wenn mindestens eine der verknüpften Aussagen wahr ist. Beachte: Es handelt sich hierbei nicht um entweder-oder ! Beispiel 2.5 1. Die Hauptstadt von Frankreich liegt an der Seine oder sie heißt Paris.“ ist wahr (kein entweder” oder). 2. Die Hauptstadt von Frankreich liegt am Rhein oder an der Mosel.“ ist falsch. ” 3. Die Hauptstadt von Frankreich liegt am Rhein oder an der Seine.“ ist wahr. ” 4. (1 < 2) ∨ (2 < 3) ist wahr. 5. (4 < 1) ∨ (4 < 2) ist falsch. 6. (1 < 2) ∨ (4 < 2) ist wahr. △ Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 22 2.1.4 Die de Morgan’schen Gesetze der Aussagenlogik Die de Morgan’schen Gesetze regeln die Verneinung von Konjunktionen und Disjunktionen. Satz 2.6 Für den Wahrheitswert der aus zwei Aussagen A1 und A2 wie folgt verknüpften Gesamtaussage gilt: 1. A1 ∧ A2 = Ā1 ∨ Ā2 . 2. A1 ∨ A2 = Ā1 ∧ Ā2 . Beweis: Von 1.: A1 A2 A1 ∧ A2 A1 ∧ A2 Ā1 Ā2 Ā1 ∨ Ā2 W W W F F F F W F F W F W W F W F W W F W F F F W W W W Von 2.: Analog. ✷ Beispiel 2.7 1. Das logische Gegenteil der falschen Behauptung Die Hauptstadt von Frankreich liegt am Rhein ” und an der Mosel.“ lautet Die Hauptstadt von Frankreich liegt nicht am Rhein oder nicht an der ” Mosel.“. Diese Aussage ist wahr. 2. Das logische Gegenteil der wahren Feststellung Die Hauptstadt von Frankreich liegt am Rhein ” oder an der Seine.“ ist die falsche Aussage Die Hauptstadt von Frankreich liegt weder am Rhein ” noch an der Seine.“ 3. (1 < 2) ∧ (4 < 2) = (1 ≥ 2) ∨ (4 ≥ 2) ist wahr. 4. (1 < 2) ∨ (4 < 2) = (1 ≥ 2) ∧ (4 ≥ 2) ist falsch. 2.1.5 △ Die Implikation Konditionalsätze, wenn – dann“-Aussagen, stellen nicht nur beim Erlernen der englischen Sprache ” eine hohe Hürde dar. Sie sind auch die schwierigste Art und Weise, zwei Aussagen zu verknüpfen, wenn es darum geht, den Wahrheitswert der Gesamtaussage zu bestimmen. Wir stellen einen Auszug aus Lewis Caroll’s Alice in Wonderland“ voran, welcher die Problematik ebenso subtil wie humorvoll ” beleuchtet. “Then you should say what you mean,” the March Hare went on. “I do,” Alice hastily replied; “at least – at least I mean what I say – that’s the same thing, you know.” “Not the same thing a bit!” said the Hatter. “Why, you might just as well say that ’I see what I eat’ is the same thing as ’I eat what I see’!” “You might just as well say,” added the March Hare, “that I like what I get’ is the same thing as ’I get what I like’!” c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 23 “You might just as well say,” added the Dormouse† , which seemed to be talking in its sleep, “that ’I breathe when I sleep’ is the same thing as ’I sleep when I breathe’!” “It is the same thing with you,” said the Hatter, and here the conversation dropped, and the party sat silent for a minute. Lewis Caroll demonstriert hier, dass die Verknüpfungen wenn A1 – dann A2“ und wenn A2 – dann ” ” A1“ nicht dasselbe ausdrücken. Wir gehen einen Schritt weiter und erarbeiten die Wahrheitstabelle der Implikation A1 ⇒ A2 ( wenn A1 – dann A2“ bzw. aus A1 folgt A2“) am Beispiel der politischen ” ” Willenserklärung Ich unterschreibe keinen Koalitionsvertrag, in dem die PKW-Maut nicht drinsteht.“ ” In mathematischer Sprechweise würde man dies durch Wenn die PKW-Maut nicht im Koalitionsvertrag steht, unterschreibe ich den Koalitionsvertrag nicht.“ ” mit den Teilaussagen A1 : Die PKW-Maut steht nicht im Koalitionsvertrag.“, ” A2 : Ich unterschreibe den Koalitionsvertrag nicht.“ ” ausdrücken. Dann ist die Gesamtaussage A1 ⇒ A2 wahr (d.h. der Politiker hat nicht gelogen), wenn • die PKW-Maut nicht im Koalitionsvertrag steht (A1 ist wahr) und er den Vertrag nicht unterschreibt (A2 ist wahr), • die PKW-Maut im Koalitionsvertrag steht (A1 ist falsch) und er den Vertrag unterschreibt (A2 ist falsch), oder • die PKW-Maut im Koalitionsvertrag steht (A1 ist falsch) und er den Vertrag trotzdem nicht unterschreibt (A2 ist wahr). Die Gesamtaussage ist nur falsch (d.h. der Politiker hat sein Versprechen gebrochen), wenn die PKWMaut nicht im Koalitionsvertrag steht (A1 ist wahr) und er dennoch den Vertrag unterschreibt (A2 ist falsch). Somit gilt für die Implikation die folgende Wahrheitstabelle: A1 A2 A1 ⇒ A2 W W W W F F F W W F F W Man beachte, dass die Implikation A1 ⇒ A2 immer wahr ist, wenn A1 falsch ist. Auf den Wahrheitsgehalt von A2 kommt es dabei nicht an. In der Praxis entspricht dies der Erfahrungstatsache, dass Schlussfolgerungen, die aus einer fehlerhaften Annahme gezogen werden, falsch sein können. Das Beispiel aus der Politik kann man noch weiterführen. Wie hätte der Politiker auf die doppelte Verneinung verzichten können, um das Gleiche auszudrücken? Der Ansatz Ā1 ⇒ Ā2 liefert nicht das Richtige. Die Aussage Ā1 ⇒ Ā2 lautet in diesem Beispiel † Siebenschläfer Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 24 Wenn die PKW-Maut im Koalitionsvertrag steht, unterschreibe ich den Koalitionsvertrag.“ ” Die so formulierte Aussage würde man nicht als Lüge werten, wenn der Politiker den Koalitionsvertrag auch unterschreibt, ohne dass die PKW-Maut darin erwähnt wird. Daher kann sie nicht äquivalent zur ursprünglichen Aussage sein. Will man die Teilaussagen einer Implikation unter Einhaltung des Wahrheitsgehalts der Gesamtaussage verneinen, muss man die Reihenfolge der Teilaussagen vertauschen. Die Implikationen A1 ⇒ A2 und Ā2 ⇒ Ā1 besitzen die gleiche Wahrheitstabelle. Im Beispiel lautet Ā2 ⇒ Ā1 Wenn ich den Koalitionsvertrag unterschreibe, steht die PKW-Maut darin.“ ” Wie die ursprünglichen Aussage ist diese Gesamtaussage nur falsch, wenn die PKW-Maut nicht im Koalitionsvertrag steht (Ā1 ist falsch, also A1 wahr) und der Politiker dennoch den Vertrag unterschreibt (Ā2 ist wahr, also A2 falsch). 2.1.6 Notwendige und hinreichende Bedingungen Viele mathematische Sätze werden als Implikation A1 ⇒ A2 formuliert. Im Beweis eines solchen Satzes wird die Aussage A1 durch logisches Schließen so lange umgeformt, bis man die Aussage A2 erhält. Wenn man dabei keinen Fehler macht, ist die Gesamtaussage A1 ⇒ A2 wahr. Die Wahrheitstabelle der Implikation erlaubt dann gewisse Schlussfolgerungen vom Wahrheitswert einer Teilaussage auf den Wahrheitswert der anderen: 1. Ist die Aussage A1 eine bekannte wahre Tatsache, dann ist auch die Aussage A2 wahr: A1 ist eine hinreichende Erklärung für A2 . 2. Die Aussage A2 muss wahr sein, damit A1 wahr sein kann: A2 ist notwendig für A1 . Falls A2 falsch ist, gilt dies auch für A1 . Definition 2.8 Gilt für die Aussagen A1 und A2 die Implikation A1 ⇒ A2 , so heißt A1 hinreichend für A2 und A2 heißt notwendig für A1 . Man kann dies auch so ausdrücken: A1 ist hinreichend für A2 bzw. A2 notwendig für A1 , wenn aus der wahren Aussage A1 durch logisches Schließen folgt, dass dann auch A2 wahr ist. Beispiel 2.9 1. Um den deutschen Bundestag wählen zu dürfen (A1 ), muss man volljährig sein (A2 ): Volljährigkeit ist eine notwendige Voraussetzung. Steht eine Person im Wählerverzeichnis, ist dies eine hinreichende Erklärung für ihre Volljährigkeit (A1 ⇒ A2 ). Volljährigkeit allein ist jedoch nicht hinreichend für die Wahlberechtigung, die zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft voraussetzt (A2 ⇒ A1 gilt nicht). Ebenso benötigt man keine Wahlberechtigung, um volljährig zu sein. 2. In der obigen Erklärung des Politikers ist die PKW-Maut im Koalitionsvertrag eine notwendige Bedingung für seine Unterschrift. Umgekehrt ist die Unterschrift eine hinreichende Erklärung dafür, dass die PKW-Maut im Koalitionsvertrag steht. △ c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 2.1.7 25 Die Äquivalenz Gilt für zwei Aussagen A1 und A2 sowohl A1 ⇒ A2 als auch A2 ⇒ A1 , dann heißen die Aussagen A1 und A2 äquivalent. Man schreibt dafür A1 ⇐⇒ A2 ( A1 genau dann wenn A2“). Äquivalenz bedeutet, ” dass die beiden Aussagen gegenseitig notwendig und hinreichend sind. Beispiel 2.10 Die Aussagen A1 : Die Zahl n ist gerade“ und A2 : Die Zahl n besitzt die Darstellung ” ” n = 2 · k mit einer natürlichen Zahl k “ sind äquivalente Formulierungen des gleichen Sachverhalts. △ Die Gesamtaussage A1 ⇐⇒ A2 ist wahr, wenn entweder beide Aussagen wahr oder beide Aussagen falsch sind. Dies wird in der folgenden Wahrheitstabelle festgelegt: A1 A2 A1 ⇐⇒ A2 W W W W F F F W F F F W 2.2 Der indirekte Beweis Die Methode des indirekten Beweises verwendet man vorzugsweise dann, wenn eine Aussage A auf direktem Weg schwer zu beweisen ist. Die Idee des indirekten Beweises besteht darin, die Aussage A zu Ā zu negieren und zu zeigen, dass Ā falsch ist. Der indirekte Beweis wird häufig angewendet, um zu zeigen, dass alle Elemente einer Menge eine gewisse Eigenschaft besitzen. Beim direkten Beweis müsste man die behauptete Eigenschaft für jedes Element nachweisen. Beim indirekten Beweis nimmt man an, dass es ein Element gibt, das die Eigenschaft nicht besitzt, und konstruiert daraus einen Widerspruch zu einer bekannten Tatsache. Wir illustrieren dies an zwei Beispielen. Lemma 2.11 Es sei a ∈ N und a2 sei gerade. Dann ist a gerade. Beweis (indirekt): Ann.: Es gibt eine ungerade natürliche Zahl a, für die a2 gerade ist (dies ist die Negation der Aussage des Lemmas). Dann existiert eine natürliche Zahl n, sodass a = 2n − 1 gilt, und es folgt a2 = (2n − 1)2 = |{z} 4n2 − |{z} 4n +1, gerade gerade d.h. a2 ist ungerade, im Widerspruch zur Annahme. Die Annahme ist also falsch und somit ist die Aussage des Lemmas richtig. ✷ Satz 2.12 Es gibt keine rationale Zahl, die den Wert √ 2 besitzt. Markus Neher, KIT · 12. Oktober 2015 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright 26 Beweis (indirekt): Ann.: Die Zahl √ 2 ist rational, d.h. es gibt p, q ∈ N mit √ p q 2 = . OBdA (ohne Be- schränkung der Allgemeinheit, d.h. ohne Beschränkung der Allgemeingültigkeit des Beweises) dürfen p und q als teilerfremd angenommen werden, da man den Bruch sonst kürzen kann. Dann folgt 2= p2 ⇐⇒ p2 = 2q 2 . q2 Die Zahl p2 ist also gerade, und somit auch p selbst gemäß Lemma 2.11. Setzt man p = 2r für ein r ∈ N, folgt weiter 2q 2 = (2r)2 = 4r2 ⇐⇒ q 2 = 2r2 . Also ist auch q 2 gerade, und nach Lemma 2.11 muss dann auch q gerade sein. Sind p und q aber beide gerade, dann sind sie nicht √ teilerfremd. Daher muss die obige Annahme falsch sein, d.h. die Aussage des Satzes ist richtig und 2 ist somit irrational. ✷ 2.3 Vollständige Induktion Eine zu beweisende Aussage An , in der eine natürliche Zahl n als Parameter auftritt, kann man formal als unendlich viele Aussagen auffassen, die alle bewiesen werden sollen. Die Idee der vollständigen Induktion besteht darin, die gegebene Aussage im ersten Beweisschritt für n = 1 zu beweisen und in einem zweiten Beweisschritt zu zeigen, dass die Behauptung auch für den Parameterwert n + 1 gilt, wenn sie für den (nun beliebig gewählten) Parameterwert n richtig ist. Man schließt also – ohne dies jeweils im Einzelnen auszuführen – von A1 auf A2 , von A2 auf A3 , von A3 auf A4 , u.s.w. Gegeben sei eine von n ∈ N abhängige Aussage An . Der Beweis durch vollständige Induktion gliedert sich in die zwei Schritte 1. Induktionsanfang: Man beweist die Aussage A1 (d.h. An für n = 1). 2. Induktionsschritt: a) Induktionsvoraussetzung: Es wird vorausgesetzt, dass An für einen beliebigen, fest gewählten Wert von n richtig ist. b) Induktionsschluss: Es wird gezeigt, dass dann auch An+1 richtig ist. Beispiel 2.13 Behauptung: Für alle n ∈ N gilt die Summenformel n X k=1 1 k = n(n + 1). 2 Beweis durch vollständige Induktion: IA: n = 1: 1 X k=1 IV: n X k=1 k=1= 1 · 1 · (1 + 1), d.h. die Aussage ist wahr für n = 1. 2 1 k = n(n + 1) gelte für ein (beliebiges, aber fest gewähltes) n ∈ N. 2 c 2009-2015 · Markus Neher, Karlsruher Institut für Technologie · Alle Rechte vorbehalten · Keine unerlaubte Verbreitung Copyright HM 1 für Bauingenieurwesen · WS 2015/16 IS (An y An+1 ): Zu zeigen ist: n+1 X k=1 Beweis: n+1 X k=1 27 1 k = (n + 1)(n + 2). 2 n X IV 1 k + (n + 1) = n(n + 1) + (n + 1) k= 2 k=1 = (n + 1) 1 n + 1 = (n + 1)(n + 2). 2 2 1 ✷ Beispiel 2.14 Behauptung: Für h ≥ −1 und alle n ∈ N gilt die Bernoulli’sche Ungleichung (1 + h)n ≥ 1 + nh. (2.1) Beweis durch vollständige Induktion: IA: n = 1: Es ist (1 + h)1 = 1 + h = 1 + 1 · h. Die Aussage A1 : (1 + h)1 ≥ 1 + 1 · h ist also wahr (denn ≥ trifft zu, wenn > oder = gilt). Die Behauptung (1 + h)n ≥ 1 + nh gelte für ein (beliebiges, aber fest gewähltes) n ∈ N und h ≥ −1. IV: IS (n y n + 1): Zu zeigen ist: (1 + h)n+1 ≥ 1 + (n + 1)h für h ≥ −1. Beweis: Für h ≥ −1 ist 1 + h ≥ 0. Multipliziert man eine Ungleichung mit (1 + h), ändert das Ungleichheitszeichen seine Richtung also nicht. Daher gilt: IV (1 + h)n+1 = (1 + h)n (1 + h) ≥ (1 + nh)(1 + h) = 1 + (n + 1)h + |{z} nh2 ≥ 1 + (n + 1)h. ✷ ≥0 Bemerkung 2.15 Wenn eine Behauptung An für alle n ≥ p, p ∈ N0 , gezeigt werden soll, wird der Induktionsschritt genauso durchgeführt. Im Induktionsanfang beweist man dann die Aussage Ap . ✸