Bremen 5.12.08 Fachtagung Geistige Behinderung und Trauma 5.12.2008 Konsul-Hackfeld-Haus Bremen Klaus Hennicke Trauma und geistige Behinderung Eine Einführung Themen 1. Unstrittige Erkenntnisse über traumatisierte Menschen mit geistiger Behinderung: Häufigkeit seelischer Erkrankungen, Gewalterfahrungen, seelische Veränderung, Störungsbilder, Diagnostik, Therapie), 2. Erläuterungen zu den einzelnen Aspekten 3. Psychiatrisch-psychologische und (heil-) pädagogische Schlussfolgerungen Prof. Dr. K. Hennicke Referent Prof. Dr. Klaus Hennicke Facharzt für Kinder-, Jugendpsychiatrie und psychotherapie Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum Fachbereich IV Heilpädagogik, Soziale Medizin E-Mail: [email protected] Leiter der Kinder- und jugendpsychiatrischen Beratungsstelle Bezirksamt Spandau Gesundheitsamt E-Mail: [email protected] Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung e.V. DGSGB (Stellvertr. Vorsitzender) www.dgsgb.de Unbestritten ist: 1. Menschen mit geistiger Behinderung leiden in gleicher Weise, aber 3-4-mal häufiger an psychischen Störungen wie nicht behinderte Menschen („erhöhte psychiatrische Morbidität“). 2. Im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung gibt es ein sehr hohes Risiko, traumatisierende Belastungen zu erfahren („Gewalt im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung“) 1 Bremen 5.12.08 Unbestritten ist: Unbestritten ist: 3. 5. Seelisch verletzte Menschen mit geistiger Behinderung werden aufgrund ihrer ungewöhnlichen Äußerungsformen häufig nicht als solche wahrgenommen und verstanden („mangelhafte Diagnostik“). 6. Seelische verletzte Menschen mit geistiger Behinderung bedürfen der gleichen, vielleicht sogar der größeren Fürsorge, Begleitung und Behandlung wie nicht behinderte traumatisierte Menschen auch, erhalten diese aber wesentlich seltener („defizitäre Versorgung“). 4. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die hormonellen, die zentralnervösen wie auch die seelischen bzw. psychologischen Veränderungen in der Folge traumatisierender Ereignisse bei Behinderten nicht grundsätzlich anders verlaufen als bei nichtbehinderten Menschen („Menschen mit geistiger Behinderung sind auch Menschen“). So ist schließlich davon auszugehen, dass diese Veränderungen sich nicht grundsätzlich anders äußern als bei nichtbehinderten Menschen („gleiche Symptomatik“). 1. Häufigkeit psychischer Störungen Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern mit Behinderungen Menschen mit geistiger Behinderung leiden an psychischen Störungen … Prof. Dr. K. Hennicke Kinder und Jugendliche 20-50% Erwachsene 30-70% Im Durchschnitt 3-4-mal häufiger als nichtbehinderte Menschen 2 Bremen 5.12.08 (COOPER et al. 2007) GÖSTASON 1985 (Schweden) LUND 1985 (Dänemark) Häufigkeit psychischer Störungen bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung Geistigbehinderter und Normalintelligente Repräsentative Stichprobe Geistigbehinderter BALLINGER Großeinrichtung der et al. 1991 Behindertenhilfe (England) /Sorgfältige psychiatrische Diagnostik LOTZ 1991 Analyse von 75 epidemiologischen Studien aus USA, UK, Dänemark, Schweden, Deutschland MEINS 1993 Zusammenfassung aller Ergebnisse und Befunde epidemiologischer Untersuchungen MEINS 1994 Institutionsspezifische Prävalenzraten (Zusammenfassung. internationaler Studien) 71% schwerbehindert 33% leichtbehindert 23% nichtbehindert 40% schwerbehindert 19% leichtbehindert 80% psychiat. Diagnose 30-40 % 63% schwerbehindert 32% leichtbehindert 14% nichtbehindert 52% Großeinrichtungen 22% Kleinheimen 14% Familie/Alleine Häufigkeit von Misshandlung und Missbrauch bei Menschen mit geistiger Behinderung 2. Risiko der Traumatisierung Unterscheidungen Einmaliges Ereignis Mehrmalige Ereignisse (Polytraumatisierung) Multiple Traumata (mehrere voneinander unabhängige Ereignisse) Sequentielle Traumata (über längere Zeit immer wieder die gleichen Ereignisse) Kumulative Traumata (mehrere gleichzeitige, dann nicht mehr zu bewältigende Ereignisse) Æ Bei Menschen mit geistiger Behinderung besteht eher die Gefahr der Polytraumatisierung Prof. Dr. K. Hennicke Life-time Prävalenz 90% (REYNOLDS 1997) 39-68% der Mädchen und 16-30% der Jungen werden vor ihrem 18. Geburtstag sexuell mißbraucht (SOBSEY 1994) nahezu 100% der männl. und weibl. Heimbewohner (ZEMP 2002) 69% der Erwachsenen, 75% der Kinder der ambulanten Klientel (SINASON 1993) 14,3% des Klientels eines ambulanten Dienstes für Kinder und Jugendliche waren als Opfer und als Täter in sexuellen Mißbrauch verwickelt (21 Opfer, 6 Täter, 16 beides) (FIRTH et al. 2001) Dunkelziffer 1:30 (d.h. nur ein Fall von 30 Mißhandlungsfällen bei Menschen mit geistiger Behinderung wird bekannt) (THARINGER et al. 1990) Nur die krassesten Vorfälle in Einrichtungen werden berichtet (MARCHETTI & McCARTNEY 1990) 3 Bremen 5.12.08 Risiken traumatisierender Lebenserfahrungen bei Menschen mit geistiger Behinderung Polytraumatisierung (multipel, sequentiell oder kumulativ) (Synonym: „Mikrotraumen“, „schleichende Traumatisierung“, „andauernde übermäßige Belastungen“): Gewalt in der Erziehung Rigide, kontrollierende Lebensbedingungen Chronische und schwerwiegende Überforderungen in allen Bereichen Schwerwiegende Vernachlässigung und emotionale Deprivation, unsichere Bindung; Verlusterfahrungen Schmerzhafte medizinische Eingriffe Nicht wahrgenommene Schmerz- oder andere Leidenzustände Strukturelle Gewalt; Soziale Ausgrenzung und Isolation; Diskriminierung und Stigmatisierung Geistige Behinderung als Trauma (vgl. SENCKEL 2008, SINASON 2000, MICKNAT 2002) Nach FISCHER und RIEDESSER (2003) ist ein Trauma „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“. (vgl. auch SENCKEL 2008) Was heißt Traumatisierung? Abfolge traumatisierender Prozesse Gewalteinwirkung (das traumatische Ereignis oder die traumatische Situation) = jede außergewöhnliche, als katastrophal erlebte körperliche und/oder psychische Belastung Trauma (die eigentliche körperliche/seelische Verletzung oder die traumatische Reaktion) = Veränderung und/oder Schädigung physiologischer und/oder psychischer Regulationsmöglichkeiten Traumafolgen (der traumatische Prozess) = psychische Störungen im Bereich Affekt, Impulskontrolle, Dissoziation, motorische und sensorische Integrationsstörung, Verdrängung, Gedächtnis, Lernen, Leistungsfähigkeit, Wahrnehmung/Beziehung von/zu sich selbst und anderen Personen Prof. Dr. K. Hennicke Entscheidend für Traumatisierung: Wahrnehmung und Bewertung … der Gefahr der „Katastrophenqualität“ und der Lebensbedrohlichkeit der Macht- und Herrschaftsausübung der seelischen Kränkungen/Verletzungen Fragen Æ Welche kognitiven Voraussetzungen? Æ Ist die traumatische Reaktion unvermeidlich? Æ Gibt es „schleichende Traumatisierungen“? 4 Bremen 5.12.08 Risiko der Entwicklung von Traumareaktionen bei Kinder Wahrnehmung und Bewertung eines Ereignisses 1. Welche kognitiven Voraussetzungen sind für diese Wahrnehmungsprozesse notwendig? Æ Chronologisches Alter vs. Entwicklungsalter (Sozioemotionaler Entwicklungsstand); Psychische Differenzierung und Schweregrad der Behinderung (Æ je schwerer die Behinderung, desto „kindlicher“ ist der Entwicklungsstand) Die Frage kann nach dem jetzigen Wissensstand nicht beantwortet werden, aber: Entwicklung einer PTSD bei 90% der sexuell mißbrauchten Kinder 77% der Kinder, die eine Schießerei in der Schule erlebt haben 35% der Kinder, die Gewalt auf der Straße ausgesetzt waren. (HAMBLEN 2002) Gerade Kinder und Jugendliche haben ein wesentlich höheres Risiko für traumatische Reaktionen ! Æ Risiko der Entwicklung von Traumareaktionen bei Erwachsenen Entwicklung einer PTSD (Erwachsene) bei 50% nach Vergewaltigung 25% nach anderen Gewaltverbrechen 20% bei Kriegsopfern 15% nach Verkehrsunfällen 15% bei schweren Organerkrankungen. Entscheidend für Traumatisierung: Wahrnehmung und Bewertung eines Ereignisses 2. Nicht jedes belastende Ereignis führt zur Traumatisierung d.h. löst eine Traumreaktion mit entsprechenden Folgen aus (Coping, Resilienz, Schutzfaktoren) (”Leitlinien der Dtsch. Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin u.a.“; FLATTEN et al. 2001) Prof. Dr. K. Hennicke 5 Bremen 5.12.08 Zur Unterscheidung: Belastungen und Trauma 3. Die Idee der „schleichenden/kumulativen Traumatisierung“ (= häufige, übermäßige Belastungen) kann zu einer (unzulässigen?) Erweiterung des Traumakonzepts führen Æ Differenzierung zwischen „traumatischen Ereignis(sen)“ und „lebensgeschichtlichen Belastungen“ („live events“) Coping, Resilienz, Schutzfaktoren Æ Psychiatrisches Modell: Unterscheidung zwischen Poststraumatischen Störungen und „Anpassungsstörungen“ (an Belastungen) Die Unterscheidung ist von erheblichem praktischen Interesse (Umgang und Therapie)! IRBLICH, D. (2005): Posttraumatische Belastungsstörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung. Überarb. Fassung eines Vortrags am 4.11.05 auf dem Jubiläumssymposium der Rothenburger Werke 27356 Rothenburg/Wümme; LANDOLT, M.A. (2004): Psychotraumatologie des Kindesalters. Göttingen: Hogrefe. 3. Hormonelle, zentralnervöse und seelische Veränderungen 3. Hormonelle, zentralnervöse und seelische Veränderungen Veränderungen im Regelsystem des Gehirns (Thalamus, Mandelkern/Amygdala, Hippocampus) mit Folgen für das neuroendokrinologische System (Hypothalamus, Hypophyse, Nebennierenrinde) die Neurotransmittersysteme (Reizübertragung im Gehirn Æ Informationsverarbeitung) und für Regulation innerer Organe und des Immunsystems (Herz-Kreislauf, Verdauung, Körperwahrnehmung) Æ zeigen sich u.a. in Intrusion, Konstriktion, Übererregung Prof. Dr. K. Hennicke 6 Bremen 5.12.08 Die wichtigsten posttraumatischen Veränderungen (1) Die wichtigsten posttraumatischen Veränderungen (2) 1. Intrusionen (Aufdrängen, Eindringen) = unauslöschliche Prägung durch die traumatische Erfahrung, welche sich in Form von ungewollt aufdrängenden Gedanken und Erinnerungen an das traumatische Ereignis äußert Æ „flashbacks“ oder Nachhallerlebnisse: Aufdrängen von Erinnerungen an das traumatisierende Ereignis 2. Konstriktion („Einschnürung“, „Erstarrung“; avoidance = Vermeidung; numbing = seelische Lähmung, Erstarrung) = Vermeidung von Situationen und Reizen, die als bedrohlich empfunden werden und die daraus resultierende psychische Erstarrung Die wichtigsten posttraumatischen Veränderungen (4) Die wichtigsten posttraumatischen Veränderungen (3) 3.Hyperarousal (Übererregung) = Chronisch erhöhtes (vegetatives und psychisches) Erregungsniveau („ständiger Alarmzustand“) mit Schlafstörungen (Einschlaf-, Durchschlafschwierigkeiten, Albträume), allgemeinen Angstsymptomen und Erniedrigung der Reizschwelle (erhöhte Schreckhaftigkeit und Lärmempfindlichkeit) 4. Weitere Äußerungsformen/ Veränderungen Derealisation und Depersonalisation (Verlassen des Körpers und der Realität) Auflösung der Einheit von Ich/Person und Umwelt; Entfremdung einer Person gegenüber sich selbst und seiner Umwelt Æ traumhaft-unwirklich; Zuschauer auf sich selbst Dissoziation (Trennung und Auflösung zusammengehörender Denk-, Handlungs- od. Verhaltensabläufe) Desintegration der persönlichen Identität, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und des Bewusstseins Prof. Dr. K. Hennicke Affektregulationsstörung (Erschwerte Möglichkeit, innere gefühlsmäßige Zustände zu kontrollieren) 7 Bremen 5.12.08 Mögliche Erscheinungsformen posttraumatischer Veränderungen bei Menschen mit geistiger Behinderung (1) Nicht einfühlbare, situationsunabhängige oder durch Reize ausgelöste („getriggerte“) Extremverhaltensweisen mit Verlust der Selbststeuerung, Kontrollverlust, Autoaggressionen, „Außer-sich-Geraten“; Reinszenierungen der traumatischen Erlebnisse (Depersonalisation, Derealisation, Instrusion/Nachhallerinnerung, Dissoziation; Affektregulationsstörung) Mögliche Erscheinungsformen posttraumatischer Veränderungen bei Menschen mit geistiger Behinderung (2) Emotionsloses, roboterhaftes Verhalten; emotionale Verarmung oder Abstumpfung, Kontakt- und Beziehungsunfähigkeit; Rückzug in die eigene Welt („psychose-ähnlich“), körperliche Einengung und Erstarrung („Autistische Züge“), ausgeprägte Vermeidungsstrategien (Dissoziation, Konstriktion) Mögliche Erscheinungsformen posttraumatischer Veränderungen bei Menschen mit geistiger Behinderung (3) 3. Hormonelle, zentralnervöse und seelische Veränderungen Unruhe, Hyperaktivität bis Erethie, Impulskontrollunfähigkeit, schwere affektive, aggressive Entäußerungen, Schlafstörungen, Schreien (Hyperarousal, Affektregulationsstörung) Haltung der Unentrinnbarkeit in Gewaltsituationen, absolute Hilflosigkeit, willenloses Opfer, Suizidphantasien (Konstriktion, Dissoziation) Prof. Dr. K. Hennicke Ergebnis Eine Vielzahl von Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung können offensichtlich als traumatische Reaktionen und als Traumafolgestörungen erklärt werden ! Æ Störungsbilder Æ Diagnostik 8 Bremen 5.12.08 4. Störungsbilder (Traumafolgestörungen) Wie werden sie von der Psychiatrie genannt? (Diagnose und Klassifikation nach ICD-10) Wie verändern sie sich bei Menschen mit Intelligenzminderung? („Ausgestaltung“, Modifikation der Symptomatik) Wie häufig kommen diese vor? (Epidemiologie) Symptomatik: Psychopathologie oder Anpassungsleistung ? Intrusion, Konstriktion, Übererregung, Derealisation/Depersonalisation, Affektregulationsprobleme, Dissoziation als die vorherrschenden Folgen traumatischer Erfahrungen sind • aus psychiatrischer Sicht (eindeutig) psychopathologische Phänomene. Die durch die seelischen Verwundungen gesetzten Schäden sind pathologische Veränderungen. • Sie sind aber auch Resultat individuellen Überlebenswillens und daher aus der Perspektive der Person („Subjektlogik“) sinnvolle Strategien zur Wahrung der persönlichen Autonomie (W. OETJEN) Prof. Dr. K. Hennicke Was bedeutet eine psychiatrische Diagnose? Als zuständige Fachdisziplin (neben der Psychologie) versucht die Psychiatrie mit ihren Methoden und Denkmodellen Ordnung und Struktur in die (prinzipiell unfassbare) Komplexität menschlicher Lebensäußerung zu schaffen. Die Zusammenfassung von Äußerungsformen in Diagnosen ist nichts anderes als eine (Querschnitts-)Beschreibung eines aktuellen Zustandes eines Menschen in Bezug auf eine (gedachte) psychische und soziale Normaliät Eine psychische Störung ist keine Krankheit i.e.S (d.h. ein von der Person unabhängig ablaufender Prozess), sondern eine komplexe menschliche Leidensform infolge von Beeinträchtigungen im Erleben, Befinden und Verhalten Diese Leidensformen werden in international verabredeten Klassifikationssystemen ICD-10, DSM-IV aufgelistet (als „Störungsbilder“„kategorisiert“) Psychopathologie oder Anpassungsleistung ? • Im Ergebnis macht das keinen Unterschied: In jedem Fall sind sie leidvolle, entwicklungsbehindernde, teilhabebeeinträchtigende, dysfunktionale Äußerungsformen von Menschen, deren therapeutische Beeinflussung hilfreich, sinnvoll und notwendig ist Vor allem sollte daraus keine Grundsatzfrage entstehen, die möglicherweise die Inanspruchnahmen von Hilfesystemen blockiert 9 Bremen 5.12.08 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) Psychopathologie oder Anpassungsleistung ? Definition der ICD-10 „Die Störungen treten immer als direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas auf. Das belastende Ereignis oder die andauernden, unangenehmen Umstände sind primäre und ausschlaggebende Kausalfaktoren, und die Störung wäre ohne ihre Einwirkung nicht entstanden. Sie können insofern als Anpassungsstörungen bei schwerer oder kontinuierlicher Belastung angesehen werden, als sie erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen der sozialen Funktionsfähigkeit führen.“ • Im Übrigen: Übernahme der „Krankenrolle“ bedeutet neben der individuellen Verpflichtung, wieder gesund zu werden, auch die gesellschaftliche Verpflichtung zur Hilfeleistung • und zwar in allen Sozialsystemen Krankenbehandlung SGB V, Jugendhilfe/Hilfe zur Erziehung SGB VIII, Eingliederungshilfe für Behinderte SGB XII/SGB IX, Pflegeversicherung SGB XI Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) F43.0 Akute Belastungsreaktion Störungsbilder nach der ICD-10 Dazu gehören folgende Störungsbilder: F43.0 Akute Belastungsreaktion F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) F62.0 Posttraumatische Persönlichkeitsstörungen F43.2 Anpassungsstörungen Prof. Dr. K. Hennicke Definition: Akute Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung; Abklingen innerhalb von Stunden oder Tagen Symptomatik: Gemischtes und wechselndes Bild von Betäubung (Bewußtseinengung, reduzierte Aufmerksamkeit, Orientierungslosigkeit, fehlende Reaktion auf Reize Unruhezuständen, Überaktivität (mit Fluchtreaktion, Weglaufen) Vegetative Zeichen panischer Angst (Herzrasen, Schweißausbrüche) evtl. Erinnerungsverlust Menschen mit GB: Plötzliche Veränderungen (Stimmung, Verhalten, Aktivität) 10 Bremen 5.12.08 F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung Definition: Erlebnis einer Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes verzögerte Reaktion auf dieses belastende Ereignis Symptomatik: Gemischtes und wechselndes Bild von wiederholtes (Teil-) Erleben des Traumas (Nachhallerinnerungen, in Träumen) (Intrusionen) Gefühl des Betäubtseins (Stumpfheit, Teilnahmslosigkeit, Rückzug, Anhedonie) (Konstriktionen) Vermeidungsverhalten und Ängste vor erinnernden Situationen und Stichworten; Dissoziative Zustände allg. vegetative Übererregbarkeit (mit Vigilanzsteigerung Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, diffuse Ängste, Schlafstörungen, Panikreaktionen, schwere Aggressionen) (Hyperarousal) Suizidalität; Drogenkonsum Menschen mit GB: insbes. Vermeidungsverhalten; Verlust von Fähigkeiten, schwere Aggressivität Verhaltensauffälligkeiten, Komorbiditäten und nachfolgende Störungen (Traumafolgestörungen) Verhaltensauffälligkeiten Impulsivität, Affektlabilität, Beziehungs- und Kontaktstörungen einschl. sexueller Störungen, Depressivität Psychische Störungen depressive Störungen Angststörungen dissoziative Störungen Somatisierungsstörungen und Schmerzsyndrome Persönlichkeitsstörungen (insbes. Boderline-P.) Sucht F62.0 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Verhaltensauffälligkeiten, Komorbiditäten und nachfolgende Störungen (Traumafolgestörungen) Definition: andauerndes Ausgesetztsein lebensbedrohlicher Situationen, etwa als Opfer von Terrorismus; andauernde Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr; Folter; Katastrophen; Konzentrationslagererfahrungen Symptomatik feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt Entfremdungsgefühle (Æ Derealisation; Depersonalisation) sozialer Rückzug; eingeschränkte soziale Funktionsfähigkeit Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit chronisches Gefühl der Anspannung wie bei ständigem Bedrohtsein; „Nervosität“ Autodestruktive Prozesse und selbstverletzende Verhaltensweisen (hochrisikoreiche Lebensweisen; Drogenmißbrauch; Essstörungen) Bei Menschen mit geistiger Behinderung (1) Verhaltensauffälligkeiten Depressive Verstimmung, Rückzug, Verweigerungshaltung, Selbstisolation ungewöhnliche („bizarre“) Kontaktgestaltung, Schreianfälle, regressive Phänomene, reduzierte soziale Kompetenzen Schlafstörungen, Essstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel sexualisierte Verhaltensweisen schwere expansiv-aggressive, gewalttätige und autoaggressive Verhaltensweisen („herausforderndes Verhalten“) Zunahme der Anfallsfrequenz bei Epileptikern (Mod. n. ROTHE-KIRCHBERGER 2004) Prof. Dr. K. Hennicke 11 Bremen 5.12.08 F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Verhaltensauffälligkeiten, Komorbiditäten und nachfolgende Störungen (Traumafolgestörungen) Bei Menschen mit geistiger Behinderung (2) F43.2 Anpassungsstörung Psychische Störungen psychotische Störungen depressive Störungen emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen (Borderline-P.) andauernde Persönlichkeitsveränderungen (i.S. F62.0) Reduzierung der intellektuellen Fähigkeiten Sucht Epidemiologie der Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) (1) (KAPFHAMMER 2000) F43.2 Anpassungsstörung Symptomatik: depressive Stimmung; Ängste, Besorgnis ”Lähmungsgefühl” (betr. Aktivität und Leistung, alltägliche Bewältigung) Gefühl zu ”explodieren”, ”es nicht mehr auszuhalten” aggressives oder dissoziales Verhalten regressive Phänomene Menschen mit GB: depressive Stimmung, Ängste, Besorgnis; Rückzug Verlust von Fähigkeiten Anspannung, plötzliche Erregungszustände aggressives, impulsives Verhalten …? Prof. Dr. K. Hennicke Definition: längerdauernde Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und die während des Anpassungsprozesses -> nach einer entscheidenden Lebensveränderung, -> nach einem belastenden Lebensereignis oder auch -> nach schwerer körperlicher Krankheit auftreten Punktprävalenz PTSD in den USA 5 und 10% Lebenszeitprävalenz für PTSD zwischen 10 und 18% für Frauen und zwischen 5 und 10% für Männer 50-70% mit F43 entwickeln komorbide Störungen 16,5% der geistig behinderten Klienten eines spezialisierten Dienstes (RYAN 1994) 12 Bremen 5.12.08 4. Störungsbilder (Traumafolgestörungen) Ergebnisse Die Psychiatrie unterscheidet zwischen Traumafolgestörungen und den sog. Anpassungsstörungen (im Verlauf von akuten und dauerhaften Belastungen) Menschen mit geistiger Behinderung zeigen – beim genauen Hinsehen (Æ Diagnostik) – sehr ähnliche Symptomatiken 5. Probleme der Diagnostik Diagnostik posttraumatischer Störungsbilder und der Traumafolgestörungen (1) Nachweis belastender/traumatisierender Lebensereignisse und Einschätzung ihrer Qualität und Quantität häufig verbunden mit signifikantem Einbruch in die Kontinuität der Lebensentwicklung und mit nachhaltigen Entwicklungsblockaden (Sorgfältige Anamnese, Biografiearbeit, „Rehistorisierung“) Klinisch-psychiatrische Untersuchung (Symptomatologie und ihre „Ausgestaltung“ bei Menschen mit geistiger Behinderung), der zusätzlichen („komorbiden“) und der Traumafolgestörungen (Exploration und Verhaltensbeobachtung) Prof. Dr. K. Hennicke Psychiatrische Diagnostik kann sich immer nur auf verbale Mitteilungen (Klient, Angehörige, Betreuer) und auf Verhaltensbeobachtungen (direkt, Fremdberichte; standardisiert oder „frei“) stützen. Diagnostik posttraumatischer Störungsbilder und der Traumafolgestörungen (2) Qualität der Kontaktgestaltung und der Beziehungsfähigkeiten; Beachtung von Übertragungsphänomene (Psychischer Befund und Fremdberichte) Verhaltensanalyse bei Verdacht auf Triggersituationen (nur möglich in Betreuungskontexten) Æ Bedeutende Rolle von Mitarbeitern in den betreuenden Kontexten! 13 Bremen 5.12.08 6. Probleme der Therapie, Begleitung und Betreuung „Ohne Diagnostik keine Therapie!“ Standard der Psychiatrie: Multimodales Therapiekonzept Therapeutisch wirksame Interventionen auf verschiedenen Ebenen (Klient, Herkunftsfamilie, Mitarbeitergruppe, Umfeld) mit unterschiedlichen Methoden (körperlich-medizinische, psychologische, heil/sozialpädagogische, soziale) in verschiedenen Settings (in der Klinik, im Heim, ambulant) Æ Interdisziplinarität und Multiprofessionalität Grundsätzliche therapeutische Strategien bei posttraumatischen Störungen Prof. Dr. K. Hennicke Stabilisierung (Voraussetzung für alle nächsten Stufen) Heil-Pädagogische Strategien Stabilisierung Spezielle Traumatherapie („Traumabearbeitung“) Rehabilitation und Re-Integration, Normalisierung Beziehungsgestaltung „eine wohlwollende, Sicherheit spendende Beziehung anbieten“, „brachliegende Ressourcen reaktivieren, neue Kompetenzen aufbauen und das Selbstbild in eine positive Richtung beeinflussen“ (SENCKEL 2008) Heranführen an angenehme, positive, entlastende Zustände (evtl. mit imaginativen Techniken) Körperliche Stabilisierung (Pflege, Bewegung, Ausdruck, Ernährung, Selbstwahrnehmung, Grenzen kennen und stärken) 14 Bremen 5.12.08 Heil-Pädagogische Strategien Heil-Pädagogische Strategien Gestaltung des Betreuungsalltags nach therapeutischen Prinzipien Gestaltung des Betreuungsalltags nach therapeutischen Prinzipien Therapeutisch heißt: Begleitung, Umgang, Unterstützung nach Prinzipien, die sich aus dem spezifischen Störungsbild eines Menschen ableiten, um ihm zum Abbau destruktiver, schädlicher, leidender, schmerzhafter Lebensäußerungen zu verhelfen, und ihm dadurch zu ermöglichen, unter den gegebenen Verhältnissen hinreichend zufrieden zu leben. Therapeutisch heißt auch, dass dieses Angebot zielorientiert angelegt sein muss und spätestens dann beendet wird, wenn eben das Ziel der Wiedereingliederung in normalisierte Lebensräume möglich erscheint. Mitarbeiter der Behindertenhilfe sind (selbstverständlich) keine professionellen Therapeuten sondern Menschen mit besonderer Professionalität (Æ Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit/in der Begleitung von Menschen mit ganz besonderen Bedürfnissen und Problemen) Daher Æ Prof. Dr. K. Hennicke Stressreduktion bei geringen/fehlenden Copingstrategien und individuellen Regulationsmöglichkeiten Reframing: das Verhalten ist nicht primär behinderungsbedingt, sondern … Biographiearbeit, Rehistorisierung: „Wir schreiben unsere Lebensgeschichte ständig neu!“ (Æ Traumaexposition?!) Heil-Pädagogische Strategien Betreuende Mitarbeiter sind keine Therapeuten! Schutz vor und Vermeidung von Triggern (Prävention von Re-Traumatisierung) Gestaltung des Betreuungsalltags nach therapeutischen Prinzipien Reaktivierung alter Tugenden der Fürsorge Die Lebensprobleme von traumatisierten Menschen mit geistiger Behinderung sind mit den Konzepten der primären Sinnhaftigkeit von Verhalten („Menschen sind so wie sie sind und haben ein Recht darauf, so zu sein“) allein nicht zu bewältigen. Es wäre unredlich, helfende und heilende Konzepte als gegen die Selbstbestimmung gerichtete, fremdbestimmende Einflussnahmen zu verstehen und damit zu diskreditieren. 15 Bremen 5.12.08 Heil-Pädagogische Strategien Heil-Pädagogische Strategien Gestaltung des Betreuungsalltags nach therapeutischen Prinzipien Voraussetzungen (1) Wider die Einrichtung von Spezialgruppen als Dauerwohngruppen (Intensivgruppen, Gruppen für „Doppeldiagnosen“ u.a.), weil … Verzicht auf „Diagnostik“: Wie ist das Problem entstanden und wie ist es zu verstehen? Verzicht auf Therapie: Wie könnte es verändert werden? Verzicht auf Förderung: Wie können wir die weitere Entwicklung besser unterstützen? Æ Therapeutische Wohngruppen mit zeitlich begrenztem Aufenthalt Qualifizierung der Betreuungssituation Ausbildungsstand der Mitarbeiter, ihre Haltungen und Einstellungen zur Klientel und zum Beruf („Sachkompetenz“) Qualifizierte fall- und/oder teamorientierte Supervision („Selbstreflexion“, Selbstfürsorge“) Ausreichende Personalbemessung Heil-Pädagogische Strategien Heil-Pädagogische Strategien Voraussetzungen (2) Qualifizierung der Betreuungssituation Hinreichende sachlich-räumliche Ausstattung Gruppenbelegung und Wahlmöglichkeiten Bedarfsangemessene soziale Infrastruktur Reflexion der Betreuungsphilosophie Funktionierende Kooperation mit qualifizierten psychiatrischen und psychotherapeutisch-psychologischen Fachdiensten Prof. Dr. K. Hennicke Voraussetzungen (3) Intensivierung der Problemanzeigen, d.h. verstärkte Inanspruchnahme psychiatrischpsychologischer Kompetenz (Æ diese Fachdisziplinen sind fachlich und ethisch dazu verpflichtet, Hypothesen anzubieten und praktikable Lösungsvorschläge zu machen; Interdisziplinarität und Multiprofessionalität) Sozial- und versorgungspolitische Forderungen mehr als praktische Handlungskonzepte (Æ Hinweise auf die nach wie vor defizitäre Situation im psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungssystem) 16 Bremen 5.12.08 Zusammenfassung Die drängende, noch weitgehend ungelöste Problematik der vielen traumatisierten Menschen mit geistiger Behinderung (mit ihren teilweise extremen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Leidensformen) zwingt uns dazu, Zusammenfassung 2. einige Betreuungsgrundsätze (und Versorgungskonzepte) in der Behindertenhilfe zu überdenken Selbstbestimmung + Normalisierung + Fürsorge + Hilfe! Rehabilitationsauftrag der Behindertenhilfe (Professionalisierung) einfordern Prof. Dr. K. Hennicke Zusammenfassung 1. bessere, funktionierende, effektive interdisziplinäre Kooperationsformen „in Augenhöhe“ zu entwickeln und die jeweiligen Ressourcen zu nutzen (z.B. Erkenntnisse der Traumatologie und der Traumatherapie auch für Menschen mit geistiger Behinderung) Zusammenfassung 3. „klinische“ und wissenschaftliche Anstrengungen der Medizin, Psychologie und Heilpädagogik zu intensivieren (Theorie, Forschung, klinische Versorgung) zur Qualifizierung von PsychiaterInnen und PsychologInnen, HeilpädagogInnen und HeilerziehungspflegerInnen 17 Bremen 5.12.08 Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit ! Prof. Dr. K. Hennicke 18