Entscheiden sich heute wirklich immer mehr Eltern für Ritalin? Erkenntnisse aus der Forschung über die Verbreitung und den Umgang von Medikamenten zur Behandlung von ADHS. Dominik Robin, Lic. Phil., Soziologe & wissenschaftlicher Mitarbeiter, [email protected] Departement Gesundheit, ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) Bild 28.4 cm x 8 cm Zürcher Fachhochschule ZHAW-Projekt «Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS im Kanton Zürich (2014) Auftraggeber: • Kanton Zürich: Mandat vom Kantonsrat, das Thema «Ritalin» zu untersuchen • ZHAW erhielt den Auftrag, eine wissenschaftliche Studie durchzuführen • Veröffentlichung der Studie 2014: Schlussbericht an die Gesundheitsdirektion. Hintergründe • Verdacht auf Zunahme der Verschreibungen • Verdacht auf Verdrängung anderer Behandlungen Forschungsschwerpunkte des Projekts • Verbreitung von Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen • Entscheidungsprozesse der Eltern • Umfeld-bedingte, soziale Faktoren Zürcher Fachhochschule 2 Resultate: Verbreitung des Medikamenten-Konsums Jahresprävalenz des Bezugs bei Schulkindern (7-15 Jahre) von 2006-2012, Kanton Zürich und Schweiz ohne Kt. Zürich (Daten: Helsana). Zürcher Fachhochschule 3 Resultate Jahresprävalenz des Bezugs bei Schulkindern (7-15 Jahre) von 2006-2012 nach Alter und Geschlecht, Kanton Zürich (Daten: Helsana) Zürcher Fachhochschule 4 Resultate: Entscheidungsprozesse Entscheidungen der Eltern (Interviews, Gruppendiskussion) • • • • Eltern berichten über «Gratwanderung» und «Herausforderung» Anfängliche Skepsis gegenüber Medikamenten Entscheidungsprozesse der Eltern sind beeinflusst durch Leidensdruck der Kinder und Wunsch nach «normaler» Entwicklung Weitere gesundheitliche Probleme, Nebenwirkungen, Begleiterscheinungen Entwicklung der ADHS (Gruppendiskussion Fachpersonen) • • • • Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen «Überstrapazierung» des Begriffs, «Popularisierung» der Thematik Sorgfältige Diagnosen Netzwerkgedanke Zürcher Fachhochschule 5 Resultate Auszüge aus den Interviews mit Müttern zum Thema Medikamente: „Das ist wirklich unglaublich gewesen, das ist wie wenn man wirklich jemanden wach geküsst hätte (…) das ist eben das Frappante (…). Es ist genau noch Anna, aber einfach die zufriedene Anna, wie wir sie vorhin auch schon kannten, aber einfach ja weniger schnell also (...) es ist wie in den Ferien, da ist man doch auch irgendwie friedlicher“ (Mutter 1). „Und mein Mann hat gesagt, jetzt ist sie verändert, das ist nicht mehr unser Kind, so wie wir sie kennen. Und dann haben wir das, also wirklich, Frau D. [Psychiaterin] angerufen, haben gesagt, ich kann ihr das [Medikament] nicht mehr geben, es bricht mir das Herz, sie ist nur noch am Weinen“ (Mutter 2). Zürcher Fachhochschule 6 Wichtigste Resultate in Kurzform • ADHS als Spannungsfeld • Längere Leidens- und Behandlungsgeschichten • Leidendruck und gesellschaftliche Erwartungen beeinflussen die Entscheidungsprozesse • Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) • ADHS kann nur unter Einbezug des sozialen Wandels verstanden werden Zürcher Fachhochschule 7 Kinder fördern – Eine interdisziplinäre Studie zum Umgang mit ADHS Finanzierung: Stiftung Mercator Schweiz Projektteam: Collegium Helveticum der ETH Zürich / Universität Zürich; Familieninstitut der Universität Fribourg, Institut für Gesundheitswissenschaften, ZHAW. Forschungsziel: Wie können und sollen Kinder mit ADHS gefördert werden? • Analyse der Praxis von Diagnose und Therapie in der Schweiz • Psychische, medizinische und soziale Faktoren, die zur ADHS-Diagnose und zu einer Verschreibung von Medikamenten führen • Entscheidungsprozesse • Miteinbezug mehrerer beteiligten Akteure • Gesellschaftliche Aspekte von ADHS Zürcher Fachhochschule 8 Methoden A. Beobachtungen und Interviews • Eltern • Kindern • Fachpersonen, Lehrpersonen B. Online-Fragebogen • Eltern • Fachpersonen, Lehrpersonen C. Psychologisches Assessment (mit Smartphone) • Alltagsstudie Familien D. Ethische und rechtliche Abklärungen Zürcher Fachhochschule 9 Teilnehmende gesucht… Anonyme Online-Umfrage für Eltern Dauer: ca. 20-40 Minuten, Desktop- und Mobile-Version. Inhalt: Auffälligkeiten, Entscheidungswege, Symptome, Behandlungen, Familiensituation etc. • Kind zwischen 6 und 14-jährig • Kind hat eine «ADHS-Diagnose» erhalten. Direkter Link zur Umfrage: ww3.unipark.de/uc/ADHS/ Zürcher Fachhochschule 10 Online-Umfrage für Eltern Zürcher Fachhochschule 11 Online-Umfrage für Eltern Zürcher Fachhochschule 12 Was ist eigentlich ADHS? . Zürcher Fachhochschule 13 Ursachen von ADHS Medizin/Psychiatrie Internationale Klassifikationssysteme (ICD und DSM). ADHS gilt als psychiatrische Störung mit den Symptomen Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impusivität (Döpfner, 2010). Epidemiologie (Verbreitung) ADHS gilt als die meist verbreitete Entwicklungsstörrung im Kindesaslter (Rowland et al., 2002). Neurologie Neurobiologische Ursache, wobei der Botenstoff Dopamin, der Informationen zwischen den Nervenzellen vermittelt, es nicht schafft, von einer Zelle in die nächste zu gelangen (Waite, 2010). Genetik Wurzeln von ADHS liegen in den DNA-Strukturen verborgen (El-Faddagh et al., 2004). Sozialwissenschaften ADHS ist eine soziale Konstruktion. Dem Alltag und der Lebenswelt der Betroffenen wird eine grössere Bedeutung beigemessen (Moen et al., 2014). Geographie Es gibt nachweisbare regionale Unterschiede bezüglich ADHS (Douglas C. et al., 2013). Zürcher Fachhochschule 14 ADHS: Ein facettenreiches Phänomen «ADHS muss immer als ein Produkt komplexer Interaktionen verstanden werden. Dabei sind biographische, kontextuelle, institutionelle, gesellschaftliche sowie auch neurobiologische, neurophysiologische und genetische Faktoren zu berücksichtigen.» (Leuzinger & Bohleber, 2007). Zürcher Fachhochschule 15 ADHS: Ein facettenreiches Phänomen Zürcher Fachhochschule 16 Zürcher Fachhochschule 17 ADHS: facettenreiches Phänomen Multimodales Behandlungskonzept •Verschiedene Therapieansätze und Akteure miteinander verbinden •individuell angepasste Therapien •Miteinbezug des sozialen Umfelds •psychische, medizinische und soziale Faktoren berücksichtigen. Medikation •Medikation als Teil einer Gesamtbehandlung •Behandlung mit Medikamenten ist nicht immer nötig (je nach Schweregrad). •Falls doch regelmässige Überprüfung erforderlich! •Ausschluss anderer Krankheiten abklären (Komorbiditäten). «ADHS-Spektrum» (Jenni, 2016) •Es existiert kein Störungsmodell, das ausreichend wissenschaftlich begründet ist. •Klinisches Erscheinungsbild äusserst facettenreich und heterogen •ADHS-Symptome sind kontinuierlich in der Bevölkerung verteilt. Zürcher Fachhochschule 18 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Zürcher Fachhochschule 19 Literatur ZHAW-Veröffentlichungen Rüesch, P., Robin, D., Altwicker-Hàmori, S., Juvalta, S., (2014). Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich. Forschungsbericht, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Winterthur. Rüesch, P. & Maeder, N. (2010). Treatment of mental disorders of children and adolescents. Systematic review of effectiveness and cost-effectiveness of educational interventions, psychotherapy and pharmacotherapy. Winterthur: Research Unit of Health Sciences. Robin, D. (2015): Kranke Kinder oder intolerante Gesellschaft? Fritz + Fränzi. Das Schweizer Eltern Magazin. 11/15. Verschiedene ADHS Ansätze Douglas, C., McDonald, D., Jalbert S.: Geographic Variation and Disparity in Stimulant Treatment of Adults and Children in the United States in 2008. Psychiatr Serv 2013, 64: 1079–1086. Döpfner, Manfred (2010): ADHS bei Schulkindern. Pädiatrie, 2/10, 4-10. El-Faddagh, M., Laucht, M., Maras, A., Vohringer, L., Schmidt, H.M. (2004). Association of dopamine D4 receptor (DRD4) gene with attention-deficit=hyperactivity disorder (ADHD) in a high-risk community sample: a longitudinal study from birth to 11 years of age. Journal of Neural Transmission, 111, 883-889. Jenni, O. (2016):Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Warum nicht ADHS-Spektrum? Monatsschrift Kinderheilkunde. DOI:10.1007/s00112-015-0030-6. Leuzinger-Bohleber, M., Staufenberg, Fischmann, T. (2007). ADHS – Indikation für psychoanalytische Behandlungen? Einige klinische, konzeptuelle und empirische Überlegungen. Praxis Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 56, 356-385. Moen, O., Hall-Lord, M., Hedelin, B. (2014). Living in a family with a child with attention deficit hyperactivity disorder: a phenomenographic study. Journal of Clinical Nursing, 23, 3166-3176. Rowland, A., Lesesne, C., Abramowitz, A. (2002). The epidemiology of attention-deficit / hyperactivity disorder (ADHD): A public health view. Mental Retardation and Development Disabilities Research Reviews, 8, 162-170. Waite, R. & Tran, M (2010): Explanatory Models and Help-Seeking Behavior for Attention-Deficit/ Hyperactivity Disorder Among a Cohort of Postsecondary Students. Archives of Psychiatric Nursing, 24/4, 247–259. Zürcher Fachhochschule 20