Sven Oliver Müller Die Nation als Waffe und Vorstellung Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 158 Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler Band 158 Sven Oliver Müller Die Nation als Waffe und Vorstellung Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 Die Nation als Waffe und Vorstellung Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg von Sven Oliver Müller Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 Umschlagabbildung: Die Erscheinung des Heiligen Georg über dem Schlachtfeld Gemälde von John H. Hassall, 1916 © Imperial War Museum, London, 2002. Meinen Eltern Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-35139-9 Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-Stiftung Frankfurt a. M. und der Axel Springer Stiftung Berlin. © 2002, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 Inhalt Vorwort 9 Einleitung 11 I. »Augusterlebnis«. Wahrnehmungen und Deutungen des Kriegsausbruchs 35 1. Krise und Kritik. Nationalismus und Krisenrhetorik im Kaiserreich und in Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs a) Flucht in den Krieg? Das Deutsche Reich zwischen 1912 und 1914 b) Am Rande des Bürgerkriegs? Großbritannien 1914 2. Kriegsausbruch. Furcht, Begeisterung und Bereitschaft a) Das »Augusterlebnis« in Deutschland - von »Goldautos« und anderen nationalistischen Phantasien b) Der Kriegsbeginn in Großbritannien. Spionagehysterie und »business as usual« 3. Konstruktion und Erlebnis der utopischen nationalen Gemeinschaft a) Der Kult der Gemeinschaft in Deutschland b) Der Kult der Gemeinschaft in Großbritannien 4. Zweierlei Kriegsausbrüche 36 36 46 56 56 70 81 81 96 108 II. Das Fremde und das Eigene. Die Grenzen der Nation 1. Grenzziehungen in Deutschland und in Großbritannien a) Wer ist der »Hauptfeind«? Die Anglo- und die Russophobie in Deutschland b) Ein idealer Feind? Zur Rolle des deutschen Feindbildes in Großbritannien 113 113 124 2. Nationalismus, Rassismus und Sexismus 134 a) »Ganz minderwertige Rassen«: Die Empörung in Deutschland über schwarze Kolonialtruppen 135 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 b) Deutsche und britische Juden. Zum Stellenwert des politischen Antisemitismus im Ersten Weltkrieg c) Im Intimbereich der britischen Nation: Der Fall des Mr Pemberton Billing 3. Nationale Minderheiten a) Die Grenzen der »Germanisierung«: Die Polenpolitik im Deutschen Reich b) »Bloody Monday«: Die britische Irlandpolitik nach dem Osteraufstand 148 154 154 171 4. Kriegszielpolitik und Selbstbestimmungsrecht a) Der Drang nach Osten. Der Kampf um die Kriegsziele im Deutschen Reich b) »A Fight for Small Nations?« Die Auseinandersetzung um die Kriegsziele in Großbritannien 204 5. Alte und neue Grenzen 216 III. Kritik in der Krise. Der Widerstand gegen die Staatsintervention im totalen Krieg 1. Die Grenzen der Arbeiterloyalität a) »Wir sind das Volk«: Das Hilfsdienstgesetz und die Streikwellen in Deutschland b) Kooperation und Konflikt. Der Munition of War Act und die Streiks in Großbritannien IV. 140 189 189 221 223 223 238 2. Der Preis der Freiheit? Die Wehrpflichtdebatten in Großbritannien a) Die Einführung der Wehrpflicht 1915/16 b) Der Kampf um die Wehrpflicht für Irland 1918 c) »Aping men«? Frauen in der britischen Armee 254 254 273 280 3. Die Nationalisierung des Krieges 285 Reform oder Revolution? 1. Die Politik der Exklusion. Die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform in Deutschland a) »Für ein Vaterland des gleichen Rechtes«: Der Kampf um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen b) Kein Thema: Das Frauenwahlrecht in Deutschland 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 289 292 292 312 2. Die Politik der Inklusion. Die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform in Großbritannien a) »One gun, one vote«: Die Neuregelung des Unterhauswahlrechts b) »Women belong to the nation as much as men«: Die Debatte über das Frauenwahlrecht 3. Die Partizipationsverheißung des Nationalismus 319 319 336 349 V Nationalismus in der deutschen und britischen Kriegsgesellschaft. Bilanz und Folgen 353 Abkürzungen 367 Quellen- und Literaturverzeichnis 369 Register 420 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 Vorwort »Uns trennt die gemeinsame Sprache.« Karl Kraus Das einzig Beständige ist glücklicherweise der Wandel. So unterscheiden sich auch die Ergebnisse dieser von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld im Sommersemester 2001 angenommenen Dissertation erheblich von den Ausgangshypothesen. Der ursprüngliche Vergleich nationalistischer Vorstellungen in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg galt der Suche nach einem Phänomen, welches den gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen des totalen Krieges anscheinend entgegenwirkte. Der Befund war ernüchternd. Welche gemeinschaftsstiftende Wirkung man der Nation auch immer zuschrieb, die Sprache des Nationalismus trennte die Menschen mindestens so sehr wie sie diese vereinte. Der unruhigen Geduld und kritischen Förderung Hans-Ulrich Wehlers verdankt die Arbeit nicht nur ihr Thema und ihren Zuschnitt, sondern wohl auch ihre Existenz. Danken möchte ich ihm für den Freiraum, den er mir über all die Jahre hinweg ließ, für seine neugierige Diskussionsbereitschaft und seine profunden Anregungen, mit denen er meine Fragestellung wesentlich beeinflusst hat. Heinz-Gerhard Haupt hat als Zweitgutachter wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der Dissertation gegeben. Zudem profitiere ich bis heute von seiner vielfältigen Unterstützung und seiner intellektuellen Toleranz. Mein Dank gebührt auch den Herausgebern der „Kritischen Studien“ für die Aufnahme in die Reihe, namentlich Helmut Berding für seine sorgfältige Lektüre des Manuskriptes. Ein jedenfalls von materiellen Sorgen weitgehend befreites Arbeiten ermöglichten mir großzügige Promotions- und Forschungsstipendien. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes unterstütze mich für drei Jahre. Das Deutsche Historische Institut London förderte meine Archivreisen nach England für sechs Monate. Hier bin ich vor allem Lothar Kettenacker und Benedikt Stuchtey für viele bereichernde Gespräche dankbar. Für neun Monate war ich Stipendiat des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, wo große Teile des Textes entstanden. Martin Vogt verdanke ich zudem zahllose Hinweise und manch freundliche Aufmunterung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der besuchten deutschen und englischen Archive und Bibliotheken halfen mir unermüdlich bei den Recherchen. Verpflichtet bin ich nicht zuletzt der Axel Springer Stiftung und der FAZIT Stiftung, deren unbürokratisch gewährter 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 und generöser Druckkostenzuschuss eine Veröffentlichung der Dissertation ermöglicht hat. Federführend bei der Korrektur der Arbeit war Christel Brüggenbrock. Cornelius Torp steuerte zahllose gebetene und ungebetene Kommentare bei. Ihrer beider Freundschaft verdanken Autor und Text mehr als diese Zeilen ahnen lassen. Dirk Bönker, Svenja Goltermann, Andreas Helle, Till van Rahden, Frank Trentmann und Peter Walkenhorst haben sich des zweifelhaften Vergnügens unterzogen verschiedene Fassungen und Teile des Manuskriptes zu sichten und mit mir zu diskutieren. Jörg Echternkamp hat die Druckfahnen aufmerksam Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Meine Eltern haben die Entstehung der Dissertation beinahe ungeduldiger als ich begleitet und mich aufjede Weise immer wieder unterstützt. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Sarah Zalfen hat sowohl die Register des Buches als auch mein Glück ermöglicht. Berlin, im August 2002 Sven Oliver Müller 10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 Einleitung »Worte sind heute Schlachten: Richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten«. Erich Ludendorff Diese Studie untersucht Nationalismus im Ersten Weltkrieg als Waffe und Vorstellung, genauer: als politische Handlungsstrategie und als politisches Deutungsmuster.1 Beide Elemente des Nationalismus - hier verstanden als das sich auf die Kategorie der Nation beziehende Denken, Reden und Handeln2 verweisen aufeinander und bestimmen seine Dynamik. Je häufiger Nationsvorstellungen als politische Handlungsstrategie angewandt werden, desto selbstverständlicher scheint es, mit ihrer Hilfe die Umwelt zu deuten und umgekehrt. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen widerstreitende Nationsvorstellungen als Kommunikationsformen innenpolitischer Auseinandersetzungen. Dabei interessiert, wie mittels unterschiedlicher Berufungen auf die Nation potentiell jedes politische Lager3 verschiedene Elemente der Umwelt, besonders aber der politischen Öffentlichkeit nach bestimmten Regeln deuten und aktivieren konnte. Der Kampf um die zentralen Fragen des Krieges vollzog sich vor allem anhand der divergierenden Bestimmung der Grenzen und des Inhalts der »Nation«. Nationalistische Deutungen und Argumente spielten eine wichtige Rolle in allen Kontroversen über die innere und äußere Neuord1 Unter Deutungsmuster sollen hier diejenigen im allgemeinen unreflektiert angewandten Sprachmittel verstanden werden, welche zur Wahrnehmung und Sinnzuschreibung der Welt dienen. Das Potential der Deutungsmuster liegt, so kann im Anschluss an Reinhart Koselleck konstatiert werden, im Spannungsverhältnis zwischen der in den Deutungsmustern gespeicherten Erfahrung und Erwartung: In den Deutungsmustern ist mithin nicht nur vergangene Erfahrung gegenwärtig, sondern sie sind auch offen für die Verarbeitung und Aneignung neuer Erfahrungen. Darüber hinaus limitieren sie die zukünftigen Möglichkeiten und Grenzen dessen, was überhaupt aufgenommen und gedacht werden kann. Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum, 349-75; Edelman, Politik; die Beiträge in Tannen (Hg.), Framing; sowie Daniel, Clio, 195-218, 259-78. 2 Vgl. Lepsius, Nation, 232. 3 Die Definition des Begriffs »politisches Lager« schließt an Rohe, Wahlen, 19-29, an, der darunter Formationen versteht, welche verschiedene Parteien und unterschiedliche sozialmoralische Milieus enthalten und eher aus der Abgrenzung von anderen als durch eigene Gemeinsamkeiten zusammengehalten werden. Die durch grundlegende Deutungsmuster und Aversionen bedingte Stabilität und die erst unter den Bedingungen des Weltkriegs zunehmende Flexibilität der vier großen politischen Lager des Deutschen Kaiserreichs (Konservative, Zentrum, Liberale und Sozialdemokraten) strukturierten die Öffentlichkeit. Auch für Großbritannien bietet sich ein Lager-Modell (Konservative, Liberale und Labour) an. 11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 nung der beiden Kriegsgesellschaften, im Streit über Feindbilder und Minderheitenprobleme, Kriegsziel-, Geschlechter- und Wahlrechtsfragen. Da jede Nation erst durch die Exklusion der wie auch immer definierten Nichtzugehörigen konstituiert wird, kam unter den Bedingungen des totalen Krieges der nationalistisch motivierten und legitimierten Feindschaft große Bedeutung zu. In Deutschland und in Großbritannien4 kennzeichnete eine extreme Feindfixierung die politischen Diskurse5 - eine nicht beliebig, aber von den politischen Akteuren doch immer wieder anders bestimmbare Feindschaft. Diese Vieldeutigkeit bedeutete aber auch, dass die Nationvorstellungen sowohl der Ausdruck als auch der Urheber von Auseinandersetzungen sein konnten. Kurz, hier geht es um den politischen Kampf um Macht und Deutungsmacht, mithin um Konflikte. Der Erste Weltkrieg markiert einen fundamentalen Einbruch in die gesellschaftliche Ordnung Deutschlands und Großbritanniens.6 Die fürchterlichen Opfer an Menschen und Material im »Großen Krieg« verursachten eine politische Legitimationskrise neuen Typs. Was die deutschen Armeen vor Verdun und die britischen Truppen an der Somme an Boden gewannen, konnten sie mit eigenen Leichen bedecken. Die Erschütterungen der Materialschlachten waren auch in der Heimat zu spüren. Die Führung eines industrialisierten Krieges setzte eine umfassende ökonomische, soziale und politische Mobilisierung voraus. Beide kriegführenden Staaten reagierten auf die Herausforderung, die der Krieg für den Bestand der herrschenden Ordnung darstellte, indem sie versuchten, sämtliche Ressourcen zu mobilisieren und ihren Einsatz zu kontrollieren. Die massiven staatlichen Eingriffe in die bestehenden Verhältnisse und die ungeheuren Kosten an Blut und Gut erhöhten dramatisch den Rechtfertigungsdruck auf die regierenden Eliten. Die angespannte innenpolitische Situation in beiden Kriegsgesellschaften kennzeichnete eine neue, alles Öffentliche und Private gleichermaßen erfassende Politisierung und Polari4 Strenggenommen müßte stets zwischen Großbritannien (d.i. nach der Union von 1801 auch Schottland und Irland) und England unterschieden werden. Stattdessen werden hier, der konventionellen Sprachregelung auch der Zeitgenossen folgend, beide Bezeichnungen meist synonym verwendet. 5 Zur begrifflichen Klärung des modischen Wortes »Diskurs«, das im Anschluss an Foucault darauf verweist, dass Sprache mehr darstellt als nur ein passives Medium für den Transport vermeintlich bereits vorhandener Bedeutungen vgl. Foucault, Ordnung; White, Discourse, 48-76; Toews, History, 879-907; Schöttler, Paradigma, 159-99; Hunt, History, 1-22; Jäger, Diskursanalyse, und die Analyse des Forschungsstandes von Jelavich, Poststrukturalismus, 259-89. Der Diskurs-Begriff vermittelt zwischen traditioneller Ideengeschichte und Sozialgeschichte und eröffnet eine Geschichte der kollektiven Denk- und Argumentationsmuster. Der Diskurs umfasst öffentliche Redegegenstände, die nach bestimmten, nicht nur sprachlichen Regeln produziert werden und ihrerseits Macht besitzen, weil sie Handlungen zur Folge haben können. 6 Vgl. zur Definitionsfrage wie »modern« und »total« der Erste Weltkrieg war nur die Beiträge in Chickering/Förster, Great War, Total War; Horne, Mobilizing; die Beiträge in Winter, Great War, u. Wehler, Totaler Krieg, 122-37. 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 sierung. Die Folgen der erweiterten Staatsintervention und des gestiegenen Legitimationsdruckes waren daher widersprüchlich. Auf der einen Seite weitete der kriegführende Staat in einem bis dahin ungekanntem Ausmaß seinen Zugriff auf die Ressourcen sowie die politischen und sozialen Rechte der Gesellschaft erfolgreich aus. Auf der anderen Seite aber schwächten die Auswirkungen des totalen Krieges und die fortgesetzten staatlichen Bemühungen, die Kriegführung zu kontrollieren, zunehmend die Möglichkeiten der Regierungen in Berlin und London, die von ihnen initiierte Mobilisierung der Gesellschaft zu steuern. Dieser staatliche Kontrollverlust und die Aufwertung der breiten Bevölkerung stellte den Preis dar, den die regierenden Eliten für die Mobilisierung der Gesellschaft im totalen Krieg zu entrichten hatten. Und in dem Maße, in dem immer weitere Teile der Bevölkerung in die Kriegsanstrengungen einbezogen wurden, stiegen ihre politischen und sozialen Partizipationsansprüche.7 Nicht allein durch staatliche Zwangsmaßnahmen ließ sich der auf den politischen Akteuren in Deutschland und Großbritannien liegende Rechtfertigungsdruck mindern, sondern vor allem durch die Berufung auf die »Nation« als höchste Legitimationsinstanz. Zwar bedarf moderne Herrschaft generell einer mehrheitsfähigen Legitimationsbasis, politische Ungleichheit und staatliche Herrschaft, in welcher Form auch immer sie sich ausdrücken, sind in ausdifferenzierten Gesellschaften legitimationsbedürftig. Moderne Politik, verstanden als diejenigen Prozesse und Verhandlungen, die auf grundlegende Ordnungsprobleme zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder zwischen diesen und dem Staat bezogen sind,8 sucht sich von dem auf ihr liegenden Legitimationsdruck durch den Bezug auf ein wie immer definiertes »Gemeinwohl« zu entlasten. Denn sobald politische Prozesse nicht mehr als Spiegel einer gegebenen göttlichen oder partikularen Ordnung begriffen und begründungsbedürftigwerden, führtjeder Weg ihrer Rechtfertigung zur Berufung auf ein allgemeines Interesse. Mit der grundsätzlichen Transformation von Herrschaft ist schließlich nur noch die »Demokratie«, genauer: die Regierung »im Namen des Volkes« möglich. Denn ist die Vorstellung vom Gemeinwohl und der Legitimität von Mehrheiten erst etabliert, lässt sich die politische Exklusion der breiten Bevölkerung immer schwerer rechtfertigen.9 Jeder Anspruch auf Legitimität muss sich auf eine vorgestellte Ordnung beziehen, innerhalb derer er gelten soll.10 Eine dieser Legitimationsbasen bietet das Konzept der »Nation«. Die Berufung auf die »Nation« und nicht auf die 7 Vgl. Horne, Mobilizing, 1-17; Geyer, Militarization, 80; Münkler, Nation, 87f.; Helle, Decline, 176f. 8 Dieses Verständnis von Politik folgt Rohe, Politik; ders., Kultur, 321-46, u. Edelman, Politik. 9 Vgl. zu den drei »Typen legitimer Herrschaft«, M. Weber, Wirtschaft, 124ff. 10 Vgl. Lepsius, Parteiensystem, 28. 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 Monarchie oder die regierenden Eliten als maßgebliche Legitimationsinstanz markiert eine neue Form von Politik, lässt sich aus diesem Ordnungsentwurf doch der Anspruch der gesamten Bevölkerung auf die gleichberechtigte Teilhabe am Gemeinwesen ableiten.“ Die Berufung auf die Nation suggeriert die Existenz von Mehrheiten und dient gleichzeitig dazu, unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Vorstellungen zu rechtfertigen. Legitimationswirksame Argumente zielen in der Regel auf nur sehr schwer zu bezweifelnde Werte. Appelle an vorhandenes und offenbar anerkanntes Wissen werden als geeignet angesehen, um neues mehrheitsfähiges Wissen zu erzeugen. Auf diese Weise werden politische und soziale Konflikte in ethische überführt. Die partikularen Interessen mit einem abstrakten und faktisch unbestimmbaren »nationalen Interesse« gleichzusetzen, erlaubte die Legitimation und die politische Konstruktion bestehender und neuer Herrschaftsverhältnisse.12 Dabei begünstigte der erfolgreiche Bezug des Nationalismus auf konkrete Herrschaftsprobleme, mithin seine realhistorische Geltung, seine Wirkungsmacht in den Augen der politischen Akteure.13 Diese Wirkung des Nationalismus ist nicht die Folge eines Erkenntnisprozesses der Beteiligten, einer - in der Sprache der Nationalisten - »Selbstfindung der Nation«, sondern das Ergebnis einer gegenseitigen Bedeutungszuschreibung, die mit der Logik einer »self-fulfillingprophecy« die Realität der Nation erzeugt. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb die Natürlichkeit von Nationalismus und Nation so leicht behauptet werden kann.14 Die wahrhaft mörderischen Bedingungen des Ersten Weltkrieges verstärkten diese Legitimationsfunktion des Nationalismus grundlegend. Vor dem Hintergrund der Belastungen des Krieges waren die Regierungen und die konkurrierenden politischen Lager noch weit stärker als im Frieden gezwungen, ihre Herrschafts- und Partizipationsansprüche auf die denkbar breiteste Legitimationsbasis zu stellen. Die Kosten an Menschen und Material und die massiven staatlichen Beschneidungen institutioneller und personeller Freiheit ließen sich nur durch die Berufung auf die durch den Krieg in ihrer Existenz bedrohte Nation und mit der Notwendigkeit rechtfertigen, den angegriffenen Nationalstaat zu verteidigen. Allein durch den Bezug auf das im Denken der politischen Akteure vermeintlich über den Einzelinteressen stehende Gemeinwohl der kämpfenden Nation konnte man sowohl die Fortdauer der Krieges als auch die weitreichende Umgestaltung der Zivilgesellschaft legitimieren. Dem Appell an die Nation war in einem totalen Krieg mithin noch schwerer als im Frieden zu 11 Grundlegend dazu Breuilly, Nationalism, passim. 12 Vgl. Busshoff, Legitimität, bes. 150-96; Habermas, Strukturwandel; sowie M. Anderson, Practicing. 13 »In so far as nationalism is successful it appears to be true«, Breuilly, Nationalism, 64. Vgl. Ebd., 59-64; Echternkamp, Aufstieg, 480f; Helle, Ulster, 61f.; Münkler, Nation, 95. 14 Vgl. bes. Gellner, Nations, 53f., 126; Edelman, Politik, 146fT., und daneben Weichlein, Nationalismus, 171-200. 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1 widersprechen, so dass tendenziell jede Art von Politik in der Sprache des Nationalen formuliert werden musste. Auf diese Weise konnte die Rede von der Nation weitgespannte Vorstellungen und Hoffnungen aktivieren und gleichzeitig zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen und Interessen gezielt instrumentalisiert werden.15 Nationalismus ist ein modernes politisches Phänomen. Er erlangt seine Bedeutung im Rahmen von grundlegenden Herrschaftskonflikten, die zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder zwischen diesen und dem Staat ausgetragen werden. Begreift man Nationalismus als eine Kommunikationsform moderner Politik wird der Blick auf seine Vieldeutigkeit gelenkt. Zwar appellierten die Regierung und die streitenden politischen Lager im öffentlichen Raum an dasselbe Bezugssystem der Nation. Doch gleichartig waren die Nationsvorstellungen in keiner Weise. Das zeitgenössische wie das wissenschaftliche Reden von dem Nationalismus suggeriert zu Unrecht die Existenz einer geschlossenen Doktrin. Denn die scheinbare semantische Eindeutigkeit der Begriffe »Nation« und »Nationalismus« täuscht darüber hinweg, dass diese Kategorien in Deutschland und in Großbritannien (oder anderswo) in den vergangenen beiden Jahrhunderten nie fest oder abschließend bestimmbar waren und dass auch im Ersten Weltkrieg die unterschiedlichsten Vorstellungen von der Nation nebeneinander bestanden. Den Nationalismus als eine geschlossene Doktrin gibt es daher nicht. Das heißt nicht nur, dass wie auch immer geartete substantialistische Vorstellungen und der Glaube an vermeintlich »objektive« Kriterien der »Nation« in die Irre führen. Vielmehr wäre es strenggenommen geboten, stets von einer Vielzahl konkurrierender Nationalismen zu sprechen. Die deutsche und die britische Nation wurde das, was die politisch Handelnden aus ihr machten. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Nationalismen innerhalb beider Kriegsgesellschaften entsprach in etwa den jeweiligen politischen Lagerbildungen. Die Grenzziehung der Nation variierte abhängig von Akteur, Kontext und Zeit und verdeutlichte, dass die Nation und ihre Feinde nicht abschließend definiert, sondern in einem politischen Prozess immer neu ausgehandelt wurden. Die Nation hat deshalb einen kontextuellen und prozessualen Charakter. Offenbar projizierten unterschiedliche Gruppen und Individuen, abhängig von ihrer Klasse, ihrer Konfession, ihrem Geschlecht oder ihrer politischen Orientierung, jeweils ihre eigenen Wertvorstellungen und Utopien in die interpretierbare »vorgestellte Gemeinschaft« der Nation. Die divergierenden Nationalismen entwickelten sich in Verbindung mit den verschiedensten Weltbildern und Loyalitäten, weil diese weiterhin Bestand hatten und mit dem Nationalismus symbiotisch koexistierten. Die semantische und ideelle Unschärfe der Nation ist damit eine wesentliche Ursache für ihre Durch15 Vgl. O. Müller, Legitimationsprobleme. 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1