Die Nation als Waffe und Vorstellung - vub

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Sven Oliver Müller
Die Nation als Waffe
und Vorstellung
Nationalismus in Deutschland und
Großbritannien im Ersten Weltkrieg
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Band 158
Kritische Studien
zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von
Helmut Berding, Jürgen Kocka
Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 158
Sven Oliver Müller
Die Nation als Waffe und Vorstellung
Vandenhoeck & Ruprecht
in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1
Die Nation als Waffe
und Vorstellung
Nationalismus in Deutschland und Großbritannien
im Ersten Weltkrieg
von
Sven Oliver Müller
Vandenhoeck & Ruprecht
in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1
Umschlagabbildung:
Die Erscheinung des Heiligen Georg über dem Schlachtfeld
Gemälde von John H. Hassall, 1916
© Imperial War Museum, London, 2002.
Meinen Eltern
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.
ISBN 3-525-35139-9
Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-Stiftung Frankfurt a. M.
und der Axel Springer Stiftung Berlin.
© 2002, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. www.vandenhoeck-ruprecht.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist
urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen
des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig
und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in
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Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle.
Satz: Text & Form, Garbsen.
Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1
Inhalt
Vorwort
9
Einleitung
11
I. »Augusterlebnis«. Wahrnehmungen und Deutungen des
Kriegsausbruchs
35
1. Krise und Kritik. Nationalismus und Krisenrhetorik im
Kaiserreich und in Großbritannien am Vorabend des
Ersten Weltkriegs
a) Flucht in den Krieg? Das Deutsche Reich zwischen 1912
und 1914
b) Am Rande des Bürgerkriegs? Großbritannien 1914
2. Kriegsausbruch. Furcht, Begeisterung und Bereitschaft
a) Das »Augusterlebnis« in Deutschland - von »Goldautos«
und anderen nationalistischen Phantasien
b) Der Kriegsbeginn in Großbritannien. Spionagehysterie
und »business as usual«
3. Konstruktion und Erlebnis der utopischen nationalen
Gemeinschaft
a) Der Kult der Gemeinschaft in Deutschland
b) Der Kult der Gemeinschaft in Großbritannien
4. Zweierlei Kriegsausbrüche
36
36
46
56
56
70
81
81
96
108
II. Das Fremde und das Eigene. Die Grenzen der Nation
1. Grenzziehungen in Deutschland und in Großbritannien
a) Wer ist der »Hauptfeind«? Die Anglo- und die Russophobie
in Deutschland
b) Ein idealer Feind? Zur Rolle des deutschen Feindbildes in
Großbritannien
113
113
124
2. Nationalismus, Rassismus und Sexismus
134
a) »Ganz minderwertige Rassen«: Die Empörung in Deutschland
über schwarze Kolonialtruppen
135
5
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b) Deutsche und britische Juden. Zum Stellenwert des
politischen Antisemitismus im Ersten Weltkrieg
c) Im Intimbereich der britischen Nation: Der Fall des
Mr Pemberton Billing
3. Nationale Minderheiten
a) Die Grenzen der »Germanisierung«: Die Polenpolitik im
Deutschen Reich
b) »Bloody Monday«: Die britische Irlandpolitik nach dem
Osteraufstand
148
154
154
171
4. Kriegszielpolitik und Selbstbestimmungsrecht
a) Der Drang nach Osten. Der Kampf um die Kriegsziele
im Deutschen Reich
b) »A Fight for Small Nations?« Die Auseinandersetzung um
die Kriegsziele in Großbritannien
204
5. Alte und neue Grenzen
216
III. Kritik in der Krise. Der Widerstand gegen die Staatsintervention
im totalen Krieg
1. Die Grenzen der Arbeiterloyalität
a) »Wir sind das Volk«: Das Hilfsdienstgesetz und die
Streikwellen in Deutschland
b) Kooperation und Konflikt. Der Munition of War Act
und die Streiks in Großbritannien
IV.
140
189
189
221
223
223
238
2. Der Preis der Freiheit? Die Wehrpflichtdebatten in
Großbritannien
a) Die Einführung der Wehrpflicht 1915/16
b) Der Kampf um die Wehrpflicht für Irland 1918
c) »Aping men«? Frauen in der britischen Armee
254
254
273
280
3. Die Nationalisierung des Krieges
285
Reform oder Revolution?
1. Die Politik der Exklusion. Die Auseinandersetzung um die
Wahlrechtsreform in Deutschland
a) »Für ein Vaterland des gleichen Rechtes«: Der Kampf um
die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen
b) Kein Thema: Das Frauenwahlrecht in Deutschland
6
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289
292
292
312
2. Die Politik der Inklusion. Die Auseinandersetzung um die
Wahlrechtsreform in Großbritannien
a) »One gun, one vote«: Die Neuregelung des Unterhauswahlrechts
b) »Women belong to the nation as much as men«:
Die Debatte über das Frauenwahlrecht
3. Die Partizipationsverheißung des Nationalismus
319
319
336
349
V Nationalismus in der deutschen und britischen Kriegsgesellschaft.
Bilanz und Folgen
353
Abkürzungen
367
Quellen- und Literaturverzeichnis
369
Register
420
7
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Vorwort
»Uns trennt die gemeinsame Sprache.«
Karl Kraus
Das einzig Beständige ist glücklicherweise der Wandel. So unterscheiden sich
auch die Ergebnisse dieser von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und
Philosophie der Universität Bielefeld im Sommersemester 2001 angenommenen Dissertation erheblich von den Ausgangshypothesen. Der ursprüngliche
Vergleich nationalistischer Vorstellungen in Deutschland und Großbritannien
im Ersten Weltkrieg galt der Suche nach einem Phänomen, welches den gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen des totalen Krieges anscheinend entgegenwirkte. Der Befund war ernüchternd. Welche gemeinschaftsstiftende Wirkung man der Nation auch immer zuschrieb, die Sprache des Nationalismus
trennte die Menschen mindestens so sehr wie sie diese vereinte.
Der unruhigen Geduld und kritischen Förderung Hans-Ulrich Wehlers verdankt die Arbeit nicht nur ihr Thema und ihren Zuschnitt, sondern wohl auch
ihre Existenz. Danken möchte ich ihm für den Freiraum, den er mir über all die
Jahre hinweg ließ, für seine neugierige Diskussionsbereitschaft und seine profunden Anregungen, mit denen er meine Fragestellung wesentlich beeinflusst
hat. Heinz-Gerhard Haupt hat als Zweitgutachter wertvolle Hinweise für die
Überarbeitung der Dissertation gegeben. Zudem profitiere ich bis heute von
seiner vielfältigen Unterstützung und seiner intellektuellen Toleranz. Mein
Dank gebührt auch den Herausgebern der „Kritischen Studien“ für die Aufnahme in die Reihe, namentlich Helmut Berding für seine sorgfältige Lektüre
des Manuskriptes.
Ein jedenfalls von materiellen Sorgen weitgehend befreites Arbeiten ermöglichten mir großzügige Promotions- und Forschungsstipendien. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes unterstütze mich für drei Jahre. Das Deutsche
Historische Institut London förderte meine Archivreisen nach England für
sechs Monate. Hier bin ich vor allem Lothar Kettenacker und Benedikt
Stuchtey für viele bereichernde Gespräche dankbar. Für neun Monate war ich
Stipendiat des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, wo große Teile
des Textes entstanden. Martin Vogt verdanke ich zudem zahllose Hinweise und
manch freundliche Aufmunterung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
besuchten deutschen und englischen Archive und Bibliotheken halfen mir
unermüdlich bei den Recherchen. Verpflichtet bin ich nicht zuletzt der Axel
Springer Stiftung und der FAZIT Stiftung, deren unbürokratisch gewährter
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und generöser Druckkostenzuschuss eine Veröffentlichung der Dissertation
ermöglicht hat.
Federführend bei der Korrektur der Arbeit war Christel Brüggenbrock.
Cornelius Torp steuerte zahllose gebetene und ungebetene Kommentare bei.
Ihrer beider Freundschaft verdanken Autor und Text mehr als diese Zeilen ahnen lassen. Dirk Bönker, Svenja Goltermann, Andreas Helle, Till van Rahden,
Frank Trentmann und Peter Walkenhorst haben sich des zweifelhaften Vergnügens unterzogen verschiedene Fassungen und Teile des Manuskriptes zu sichten und mit mir zu diskutieren. Jörg Echternkamp hat die Druckfahnen aufmerksam Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.
Meine Eltern haben die Entstehung der Dissertation beinahe ungeduldiger
als ich begleitet und mich aufjede Weise immer wieder unterstützt. Ihnen ist
diese Arbeit gewidmet. Sarah Zalfen hat sowohl die Register des Buches als
auch mein Glück ermöglicht.
Berlin, im August 2002
Sven Oliver Müller
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Einleitung
»Worte sind heute Schlachten: Richtige Worte gewonnene Schlachten,
falsche Worte verlorene Schlachten«.
Erich Ludendorff
Diese Studie untersucht Nationalismus im Ersten Weltkrieg als Waffe und Vorstellung, genauer: als politische Handlungsstrategie und als politisches Deutungsmuster.1 Beide Elemente des Nationalismus - hier verstanden als das sich
auf die Kategorie der Nation beziehende Denken, Reden und Handeln2 verweisen aufeinander und bestimmen seine Dynamik. Je häufiger Nationsvorstellungen als politische Handlungsstrategie angewandt werden, desto
selbstverständlicher scheint es, mit ihrer Hilfe die Umwelt zu deuten und umgekehrt. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen widerstreitende Nationsvorstellungen als Kommunikationsformen innenpolitischer Auseinandersetzungen.
Dabei interessiert, wie mittels unterschiedlicher Berufungen auf die Nation
potentiell jedes politische Lager3 verschiedene Elemente der Umwelt, besonders aber der politischen Öffentlichkeit nach bestimmten Regeln deuten
und aktivieren konnte. Der Kampf um die zentralen Fragen des Krieges vollzog
sich vor allem anhand der divergierenden Bestimmung der Grenzen und des
Inhalts der »Nation«. Nationalistische Deutungen und Argumente spielten
eine wichtige Rolle in allen Kontroversen über die innere und äußere Neuord1 Unter Deutungsmuster sollen hier diejenigen im allgemeinen unreflektiert angewandten
Sprachmittel verstanden werden, welche zur Wahrnehmung und Sinnzuschreibung der Welt dienen. Das Potential der Deutungsmuster liegt, so kann im Anschluss an Reinhart Koselleck konstatiert werden, im Spannungsverhältnis zwischen der in den Deutungsmustern gespeicherten Erfahrung und Erwartung: In den Deutungsmustern ist mithin nicht nur vergangene Erfahrung
gegenwärtig, sondern sie sind auch offen für die Verarbeitung und Aneignung neuer Erfahrungen.
Darüber hinaus limitieren sie die zukünftigen Möglichkeiten und Grenzen dessen, was überhaupt
aufgenommen und gedacht werden kann. Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum, 349-75; Edelman, Politik; die Beiträge in Tannen (Hg.), Framing; sowie Daniel, Clio, 195-218, 259-78.
2 Vgl. Lepsius, Nation, 232.
3 Die Definition des Begriffs »politisches Lager« schließt an Rohe, Wahlen, 19-29, an, der
darunter Formationen versteht, welche verschiedene Parteien und unterschiedliche sozialmoralische Milieus enthalten und eher aus der Abgrenzung von anderen als durch eigene
Gemeinsamkeiten zusammengehalten werden. Die durch grundlegende Deutungsmuster und
Aversionen bedingte Stabilität und die erst unter den Bedingungen des Weltkriegs zunehmende
Flexibilität der vier großen politischen Lager des Deutschen Kaiserreichs (Konservative, Zentrum,
Liberale und Sozialdemokraten) strukturierten die Öffentlichkeit. Auch für Großbritannien bietet
sich ein Lager-Modell (Konservative, Liberale und Labour) an.
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nung der beiden Kriegsgesellschaften, im Streit über Feindbilder und
Minderheitenprobleme, Kriegsziel-, Geschlechter- und Wahlrechtsfragen. Da
jede Nation erst durch die Exklusion der wie auch immer definierten Nichtzugehörigen konstituiert wird, kam unter den Bedingungen des totalen Krieges
der nationalistisch motivierten und legitimierten Feindschaft große Bedeutung
zu. In Deutschland und in Großbritannien4 kennzeichnete eine extreme Feindfixierung die politischen Diskurse5 - eine nicht beliebig, aber von den politischen Akteuren doch immer wieder anders bestimmbare Feindschaft. Diese
Vieldeutigkeit bedeutete aber auch, dass die Nationvorstellungen sowohl der
Ausdruck als auch der Urheber von Auseinandersetzungen sein konnten. Kurz,
hier geht es um den politischen Kampf um Macht und Deutungsmacht, mithin
um Konflikte.
Der Erste Weltkrieg markiert einen fundamentalen Einbruch in die gesellschaftliche Ordnung Deutschlands und Großbritanniens.6 Die fürchterlichen
Opfer an Menschen und Material im »Großen Krieg« verursachten eine politische Legitimationskrise neuen Typs. Was die deutschen Armeen vor Verdun
und die britischen Truppen an der Somme an Boden gewannen, konnten sie
mit eigenen Leichen bedecken. Die Erschütterungen der Materialschlachten
waren auch in der Heimat zu spüren. Die Führung eines industrialisierten
Krieges setzte eine umfassende ökonomische, soziale und politische Mobilisierung voraus. Beide kriegführenden Staaten reagierten auf die Herausforderung, die der Krieg für den Bestand der herrschenden Ordnung darstellte, indem sie versuchten, sämtliche Ressourcen zu mobilisieren und ihren Einsatz
zu kontrollieren. Die massiven staatlichen Eingriffe in die bestehenden Verhältnisse und die ungeheuren Kosten an Blut und Gut erhöhten dramatisch den
Rechtfertigungsdruck auf die regierenden Eliten. Die angespannte innenpolitische Situation in beiden Kriegsgesellschaften kennzeichnete eine neue, alles
Öffentliche und Private gleichermaßen erfassende Politisierung und Polari4 Strenggenommen müßte stets zwischen Großbritannien (d.i. nach der Union von 1801
auch Schottland und Irland) und England unterschieden werden. Stattdessen werden hier, der
konventionellen Sprachregelung auch der Zeitgenossen folgend, beide Bezeichnungen meist synonym verwendet.
5 Zur begrifflichen Klärung des modischen Wortes »Diskurs«, das im Anschluss an Foucault
darauf verweist, dass Sprache mehr darstellt als nur ein passives Medium für den Transport vermeintlich bereits vorhandener Bedeutungen vgl. Foucault, Ordnung; White, Discourse, 48-76;
Toews, History, 879-907; Schöttler, Paradigma, 159-99; Hunt, History, 1-22; Jäger, Diskursanalyse, und die Analyse des Forschungsstandes von Jelavich, Poststrukturalismus, 259-89. Der
Diskurs-Begriff vermittelt zwischen traditioneller Ideengeschichte und Sozialgeschichte und eröffnet eine Geschichte der kollektiven Denk- und Argumentationsmuster. Der Diskurs umfasst
öffentliche Redegegenstände, die nach bestimmten, nicht nur sprachlichen Regeln produziert
werden und ihrerseits Macht besitzen, weil sie Handlungen zur Folge haben können.
6 Vgl. zur Definitionsfrage wie »modern« und »total« der Erste Weltkrieg war nur die Beiträge
in Chickering/Förster, Great War, Total War; Horne, Mobilizing; die Beiträge in Winter, Great
War, u. Wehler, Totaler Krieg, 122-37.
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sierung. Die Folgen der erweiterten Staatsintervention und des gestiegenen
Legitimationsdruckes waren daher widersprüchlich. Auf der einen Seite weitete der kriegführende Staat in einem bis dahin ungekanntem Ausmaß seinen
Zugriff auf die Ressourcen sowie die politischen und sozialen Rechte der Gesellschaft erfolgreich aus. Auf der anderen Seite aber schwächten die Auswirkungen des totalen Krieges und die fortgesetzten staatlichen Bemühungen, die
Kriegführung zu kontrollieren, zunehmend die Möglichkeiten der Regierungen in Berlin und London, die von ihnen initiierte Mobilisierung der Gesellschaft zu steuern. Dieser staatliche Kontrollverlust und die Aufwertung der
breiten Bevölkerung stellte den Preis dar, den die regierenden Eliten für die
Mobilisierung der Gesellschaft im totalen Krieg zu entrichten hatten. Und in
dem Maße, in dem immer weitere Teile der Bevölkerung in die Kriegsanstrengungen einbezogen wurden, stiegen ihre politischen und sozialen Partizipationsansprüche.7
Nicht allein durch staatliche Zwangsmaßnahmen ließ sich der auf den politischen Akteuren in Deutschland und Großbritannien liegende Rechtfertigungsdruck mindern, sondern vor allem durch die Berufung auf die »Nation«
als höchste Legitimationsinstanz. Zwar bedarf moderne Herrschaft generell
einer mehrheitsfähigen Legitimationsbasis, politische Ungleichheit und staatliche Herrschaft, in welcher Form auch immer sie sich ausdrücken, sind in ausdifferenzierten Gesellschaften legitimationsbedürftig. Moderne Politik, verstanden als diejenigen Prozesse und Verhandlungen, die auf grundlegende
Ordnungsprobleme zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder zwischen
diesen und dem Staat bezogen sind,8 sucht sich von dem auf ihr liegenden
Legitimationsdruck durch den Bezug auf ein wie immer definiertes »Gemeinwohl« zu entlasten. Denn sobald politische Prozesse nicht mehr als Spiegel
einer gegebenen göttlichen oder partikularen Ordnung begriffen und
begründungsbedürftigwerden, führtjeder Weg ihrer Rechtfertigung zur Berufung auf ein allgemeines Interesse. Mit der grundsätzlichen Transformation
von Herrschaft ist schließlich nur noch die »Demokratie«, genauer: die Regierung »im Namen des Volkes« möglich. Denn ist die Vorstellung vom Gemeinwohl und der Legitimität von Mehrheiten erst etabliert, lässt sich die politische
Exklusion der breiten Bevölkerung immer schwerer rechtfertigen.9
Jeder Anspruch auf Legitimität muss sich auf eine vorgestellte Ordnung
beziehen, innerhalb derer er gelten soll.10 Eine dieser Legitimationsbasen bietet
das Konzept der »Nation«. Die Berufung auf die »Nation« und nicht auf die
7 Vgl. Horne, Mobilizing, 1-17; Geyer, Militarization, 80; Münkler, Nation, 87f.; Helle,
Decline, 176f.
8 Dieses Verständnis von Politik folgt Rohe, Politik; ders., Kultur, 321-46, u. Edelman,
Politik.
9 Vgl. zu den drei »Typen legitimer Herrschaft«, M. Weber, Wirtschaft, 124ff.
10 Vgl. Lepsius, Parteiensystem, 28.
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Monarchie oder die regierenden Eliten als maßgebliche Legitimationsinstanz
markiert eine neue Form von Politik, lässt sich aus diesem Ordnungsentwurf
doch der Anspruch der gesamten Bevölkerung auf die gleichberechtigte Teilhabe am Gemeinwesen ableiten.“ Die Berufung auf die Nation suggeriert die
Existenz von Mehrheiten und dient gleichzeitig dazu, unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Vorstellungen zu rechtfertigen. Legitimationswirksame Argumente zielen in der Regel auf nur sehr schwer zu bezweifelnde
Werte. Appelle an vorhandenes und offenbar anerkanntes Wissen werden als
geeignet angesehen, um neues mehrheitsfähiges Wissen zu erzeugen. Auf diese
Weise werden politische und soziale Konflikte in ethische überführt. Die partikularen Interessen mit einem abstrakten und faktisch unbestimmbaren »nationalen Interesse« gleichzusetzen, erlaubte die Legitimation und die politische
Konstruktion bestehender und neuer Herrschaftsverhältnisse.12 Dabei begünstigte der erfolgreiche Bezug des Nationalismus auf konkrete Herrschaftsprobleme, mithin seine realhistorische Geltung, seine Wirkungsmacht in den
Augen der politischen Akteure.13 Diese Wirkung des Nationalismus ist nicht die
Folge eines Erkenntnisprozesses der Beteiligten, einer - in der Sprache der
Nationalisten - »Selbstfindung der Nation«, sondern das Ergebnis einer gegenseitigen Bedeutungszuschreibung, die mit der Logik einer »self-fulfillingprophecy« die Realität der Nation erzeugt. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb die Natürlichkeit von Nationalismus und Nation so leicht behauptet
werden kann.14
Die wahrhaft mörderischen Bedingungen des Ersten Weltkrieges verstärkten
diese Legitimationsfunktion des Nationalismus grundlegend. Vor dem Hintergrund der Belastungen des Krieges waren die Regierungen und die konkurrierenden politischen Lager noch weit stärker als im Frieden gezwungen, ihre
Herrschafts- und Partizipationsansprüche auf die denkbar breiteste Legitimationsbasis zu stellen. Die Kosten an Menschen und Material und die massiven staatlichen Beschneidungen institutioneller und personeller Freiheit ließen
sich nur durch die Berufung auf die durch den Krieg in ihrer Existenz bedrohte
Nation und mit der Notwendigkeit rechtfertigen, den angegriffenen Nationalstaat zu verteidigen. Allein durch den Bezug auf das im Denken der politischen
Akteure vermeintlich über den Einzelinteressen stehende Gemeinwohl der
kämpfenden Nation konnte man sowohl die Fortdauer der Krieges als auch die
weitreichende Umgestaltung der Zivilgesellschaft legitimieren. Dem Appell an
die Nation war in einem totalen Krieg mithin noch schwerer als im Frieden zu
11 Grundlegend dazu Breuilly, Nationalism, passim.
12 Vgl. Busshoff, Legitimität, bes. 150-96; Habermas, Strukturwandel; sowie M. Anderson,
Practicing.
13 »In so far as nationalism is successful it appears to be true«, Breuilly, Nationalism, 64. Vgl.
Ebd., 59-64; Echternkamp, Aufstieg, 480f; Helle, Ulster, 61f.; Münkler, Nation, 95.
14 Vgl. bes. Gellner, Nations, 53f., 126; Edelman, Politik, 146fT., und daneben Weichlein,
Nationalismus, 171-200.
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widersprechen, so dass tendenziell jede Art von Politik in der Sprache des Nationalen formuliert werden musste. Auf diese Weise konnte die Rede von der
Nation weitgespannte Vorstellungen und Hoffnungen aktivieren und gleichzeitig zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen und Interessen gezielt
instrumentalisiert werden.15
Nationalismus ist ein modernes politisches Phänomen. Er erlangt seine Bedeutung im Rahmen von grundlegenden Herrschaftskonflikten, die zwischen
gesellschaftlichen Gruppen oder zwischen diesen und dem Staat ausgetragen
werden. Begreift man Nationalismus als eine Kommunikationsform moderner
Politik wird der Blick auf seine Vieldeutigkeit gelenkt. Zwar appellierten die
Regierung und die streitenden politischen Lager im öffentlichen Raum an dasselbe Bezugssystem der Nation. Doch gleichartig waren die Nationsvorstellungen in keiner Weise. Das zeitgenössische wie das wissenschaftliche Reden von dem Nationalismus suggeriert zu Unrecht die Existenz einer
geschlossenen Doktrin. Denn die scheinbare semantische Eindeutigkeit der
Begriffe »Nation« und »Nationalismus« täuscht darüber hinweg, dass diese
Kategorien in Deutschland und in Großbritannien (oder anderswo) in den
vergangenen beiden Jahrhunderten nie fest oder abschließend bestimmbar
waren und dass auch im Ersten Weltkrieg die unterschiedlichsten Vorstellungen von der Nation nebeneinander bestanden. Den Nationalismus als eine geschlossene Doktrin gibt es daher nicht. Das heißt nicht nur, dass wie auch
immer geartete substantialistische Vorstellungen und der Glaube an vermeintlich »objektive« Kriterien der »Nation« in die Irre führen. Vielmehr wäre es
strenggenommen geboten, stets von einer Vielzahl konkurrierender Nationalismen zu sprechen.
Die deutsche und die britische Nation wurde das, was die politisch Handelnden aus ihr machten. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Nationalismen innerhalb beider Kriegsgesellschaften entsprach in etwa den jeweiligen politischen
Lagerbildungen. Die Grenzziehung der Nation variierte abhängig von Akteur,
Kontext und Zeit und verdeutlichte, dass die Nation und ihre Feinde nicht
abschließend definiert, sondern in einem politischen Prozess immer neu ausgehandelt wurden. Die Nation hat deshalb einen kontextuellen und prozessualen
Charakter. Offenbar projizierten unterschiedliche Gruppen und Individuen,
abhängig von ihrer Klasse, ihrer Konfession, ihrem Geschlecht oder ihrer politischen Orientierung, jeweils ihre eigenen Wertvorstellungen und Utopien in
die interpretierbare »vorgestellte Gemeinschaft« der Nation. Die divergierenden Nationalismen entwickelten sich in Verbindung mit den verschiedensten
Weltbildern und Loyalitäten, weil diese weiterhin Bestand hatten und mit dem
Nationalismus symbiotisch koexistierten. Die semantische und ideelle Unschärfe der Nation ist damit eine wesentliche Ursache für ihre Durch15 Vgl. O. Müller, Legitimationsprobleme.
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