„Die Spinne mit den Rollschuhen“ – Ressourcenorientierte Akutbehandlung im BHK Augsburg Dr. Silvia Kratzer Psychologische Psychotherapeutin BKH Augsburg – Tagklinik bei Traumatisierung • Typ II-Trauma: anhaltende oder wiederholte (kumulative) Traumatisierung Im personellen Nahbereich: wiederholte körperliche/sexuelle Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, wiederholte Vergewaltigung Trauma griech. Wunde/Verletzung durchbohren/durchtrennen Traumamechanismen Überforderung aller Ich-Funktionen in der traumatischen Situation – überflutende Angst – Hilflosigkeit („keine Flucht möglich“) – Ohnmacht („nichts tun können“) Intrapsychische Verarbeitung gelingt nicht, traumatische Erfahrungen können nicht bewältigt (symbolisiert) werden und bleiben im Kern isolierte (abgekapselte) Erfahrungen Traumamechanismen • Überforderung der Informationsverarbeitung, da die Inhalte der traumatischen Erfahrung nicht in bestehende innere Ordnungsschemata integrierbar sind. • Neurobiologische Veränderungen, u.a. – Hyperreagibilität der Amygdala (re) – Hippocampusvolumen (li) – Veränderung von Gedächtnisfunktionen Symptome • Intrusionen - sich aufdrängende Erinnerungen – Flashbacks, Alpträume • Vermeidung von Orten, Situationen – führen zu erheblichen Einschränkungen • Vegetatives Arousal – Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz, Konzentrationsstörungen, Unruhe, Zittern, intermittierende Aggressionsanfälle, Reizbarkeit, Ängste • Numbing – emotionale Taubheit – allgemeiner Rückzug, Interessenverlust, innere Teilnahmslosigkeit Überdauernde traumatische Affekte • • • • • • • Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein Gefühle des Verlassenseins Schamgefühle Schuldgefühle Ekel, Selbsthass Gefühle von Leere Gefühle der Wut und des Hasses Komplexe PTBS • Störungen der Affektregulation (Impulsivität, SVV, Suizidalität) • Störungen von Aufmerksamkeit und Bewusstsein (Amnesie, Dissoziationen, z.B. Depersonalisitation/-realisation) • Somatisierungsstörungen (Bauch-, und/oder Rückenschmerzen) • Chronische Persönlichkeitsveränderungen (Selbst- und Fremdwahrnehmung, Verlust der Selbstwirksamkeit, Schuldgefühle, Selbsthass, pathologisches Bindungsverhalten zum Schädiger) • Charakteristische Beziehungsstörungen (keine oder nur sehr kurze oder schädigende Partnerwahl) Was bietet das BKH? - Krisenintervention auf den allgemeinen Stationen - stationäre Stabilisierungsbehandlung und Behandlung von Folgestörungen auf der Psychotherapiestation - teilstationäre Intervalltherapie und Behandlung von Folgestörungen in der Tagklinik - Zusammenarbeit mit beratenden Vorund Nachsorgeinstitutionen sowie ambulanten Traumatherapeutinnen Behandlung von Folgestörungen und Traumakonfrontation Ziel: Behandlung v. Traumasymptomen durch Behebung der Ursache der Symptomatik Verhaltenstherapeutische Techniken Exposition in sensu Verhaltensexperimente (mit und ohne Hilfsperson) Kognitive Umstrukturierung negativer Überzeugungen Imaginative Techniken Bildschirm – Technik Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT) Arbeit mit Metaphern – innerer Phantasiewelt Erfahrungsorientierte Körpertherapie Sondentechnik sensomotorische Verarbeitung Dialektische-Behaviorale-Therapie (DBT) Eye Movement Desensitisation and Reprocessing Therapy (EMDR) Intervalltherapie in der Tagklinik 1. Beziehungsangebot – Beziehungssicherheit (z.B. geringe personelle Fluktuation, gute Abstimmung Therapeut und Bezugspflege, Unterstützung durch Stationen/Notaufnahme) 2. Stufenweises Vorgehen mit situationsangepassten Therapieeinheiten (Stabilisierung vs. Traumaverarbeitung) 3. Transfer in den Alltag - mit Rückmeldung (Zusammenarbeit mit KK, amb. PT, ambulante Institutionen) 4. teilweise Neuorientierung korrigierende Beziehungserfahrung Traumatisierendes Umfeld –Unberechenbarkeit Traumapädagogisches Milieu in der Tagklinik • Transparenz /Berechenbarkeit –Einsamkeit • Beziehungsangebote –Nicht gesehen/gehört werden • Beachtet werden/wichtig sein –Geringschätzung • Wertschätzung (Besonderheit) –Bedürfnisse missachtet • Bedürfnisorientierung –Ausgeliefert sein – andere bestimmen absolut über mich • Mitbestimmen können – Partizipation –Leid • Freude Fallbeispiel – Frau in mittleren Jahren • als Kind über mehrere Jahre sexuelle und körperliche Gewalt erlitten • seit einigen Jahren depressiv in wechselnder Intensität, seit einem Jahr fast nur noch zu Hause • sie habe Angst vor „allem und jedem“ • Panikattacken zu Hause oder in der Straßenbahn • selbstverletzendes Verhalten mit Schneiden ins linke Handgelenk • als Kind mehrmonatiger Aufenthalt in einer Klinik wegen Problemen in der Schule sowie kleptomanem Verhalten • mehrere Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken • Suizidanamnese: 3 Suizidversuche mit Tabletten • Suchtanamnese: Alkohol manchmal, um SVV zu vermeiden Psychischer Befund - Diagnostik • • Antrieb und Psychomotorik stark reduziert Im interpersonellen Kontakt zurückhaltend • • Affektiv depressiv stark herabgestimmt, kaum schwingungsfähig. Agoraphobische Ängste mit Panikstörung, ausgeprägte Schreckhaftigkeit • • • • Selbstverletzendes Verhalten mit Schneiden am Unterarm Dissoziative Zustände, zudem häufig Intrusionen und Flashbacks Vegetatives Hyperarousal Ein- und Durchschlafstörungen, mit Träumen, die aufschrecken lassen und nach dem Erwachen beim Wiedereinschlafen fortgesetzt werden Appetit gesteigert, manchmal Essattacken keine lebensmüden Gedanken, die Patientin ist glaubhaft von Suizidalität distanziert • • • Andauernde Persönlichkeitsveränderung aufgrund komplexer Traumatisierung Therapie in Intervallen (1) • Exposition: Anwesenheit im Gruppenraum beim Mittagessen, Kaffeerunde, Abschlussrunde, Foren) • spezifischen Therapie nach chronischer Traumatisierung (nach Boos); mittels Visualisierungs- und Imaginationsübungen konnten belastende Biographiestationen neu imaginiert und bewertet werden Arbeit mit dem inneren Kind nach Reddemann Hilfreiche Sonden aus der erfahrungsorientierten Körpertherapie („Du bist hier sicher!“ „Du hast das Recht hier zu sein!“ „Du gehörst dazu!“) Reizdiskriminationstraining zur Reduktion der Triggerhäufigkeit im Alltag • • • • • • Stresstoleranzübungen der DBT mit der Bezugspflege Musiktherapie - Einzelsitzungen Planung von ambulanter Musiktherapie zwischen den Intervallen, kurze Telefonate in Krisensituation mit der Therapeutin Arbeitsblatt - Traumaerfahrung • • • • • Schlimmster Moment – welches Alter? Gefühle – damals? Primäre Bewertung – damals? Behaviorale Reaktion – damals? Körperliche Reaktionen – damals? • • • • Intrusionen - Flashbacks überdauernde sekundäre Überzeugungen überdauernde emotionale und körperliche Reaktionen Welche Konsequenzen / Folgen? Imagery Rescripting an Reprocessing Therapy (IRRT) - Phasen • Identifikation von intrusiven Schlüsselreizen (I) • Konfrontation mit den intrusiven Schlüsselerinnerungen (II) • Modifikation der katastrophisierenden Bedeutung der Erinnerungen mithilfe der Bewältigungsbilder (III) - Mächtiger Beschützer aus der Phantasiewelt - „die gute Mutter“ - Patientin selbst als erwachsene, starke Frau • Kognitive Nachbearbeitung: Explizierung der in den Phasen I bis III gewonnenen Neubewertungen • Integration der neuen Sichtweisen durch Wiederholungen bzw. Tonmitschnitte Therapie in Intervallen (2) • Entspannungsverfahren (Atementspannung, Imaginationsübungen) in Einzelsitzungen mit der Bezugspflege • Kunsttherapie und Ergotherapie • Themenzentrierte Gesprächsgruppe (oft nur wenige Minuten erträglich) • Aktuelle Problematik: kognitive Umstrukturierung zur besseren Abgrenzung gegenüber inadäquaten Forderungen und Erwartungen ihrer Schwester • Sonde: „Du bist genau so viel Wert, wie deine Schwester!“ • plus alle Therapien des ersten Aufenthalts • ambulante Musiktherapie in Einzelstunden, kurze Telefonate in Krisensituation mit der Therapeutin und Anbindung kkgeförderte ambulante Betreuung Therapie in Intervallen (3) • Arbeitstherapie (PC-Training, PC-Skillstraining für BPPatienten) • Ambulante Skillsgruppe für Borderline-Patienten (DBT) • Leitung der Origami-Gruppe mit interessierten Mitpatienten • Thema: Gute Mutter - Sonde: „Ich bin stolz auf dich, weil du so bist, wie du bist!“ • Aktuelle Problematik: Exposition am Grab einer Freundin • Fokus der therapeutischen Einzelarbeit auf Integration der machtvollen Aspekte der Fantasiefiguren in die eigene Persönlichkeit („Jetzt kann ich mich immer besser selbst schützen.“ „Ich bin sehr viel mutiger und offener geworden.“) • plus alle Therapien des ersten und zweiten Aufenthalts • Überführung in die ambulante PT möglich Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und viel Freude bei der Einweihungsfeier ! Quellen/Literatur • Boos, A. (2005). Kognitive Verhaltenstherapie nach chronischer Traumatisierung. Göttingen: Hogrefe. • Bohus, M. & Wolf, M. (2009). Interaktives SkillsTraining für Borderline-Patienten. Stuttgart: Schattauer. • Dilling et al. (2000). Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F). Göttingen: HansHuber. • Drossmann, D. A. et al. (1995): Sexual and physical abuse and gastrointestinal illness. Ann Intern Med, 123 (10), 782-194. • Egle, U.T & Nickel, R. (1998). Kindheitsbelastungsfaktoren bei Patienten mit somatoformen Störungen. Z Psychosom Med Psychoanal 44, 21-36. • Ehlers, A. (1999). Posttraumatische Belastungsstörung. Göttingen: Hogrefe. • Kröger, C., Kliem, S., Sarmadi, N.B. & Kosfelder, J. (2010). Versorgungsrealität bei der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 39(2), 116-127. • Marlock, G. & Weiss, H. (2006). Handbuch der Körperpsychotherapie. Stuttgart: Schattauer. • Neuner, F. (2008). Stabilisierung vor Konfrontation in der Traumatherapie- Grundregel oder Mythos? Verhaltenstherapie, 18, 109-118. • Reddemann, L. (2008). Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Klett-Cotta (v.a. Kapitel 3). • Schofferman, J. et al. (1993). Childhood psychological trauma and chronic refractory low-back pain. Clin J Pain, 9, 260-265.