Spezifische psychische Probleme im Jugendalter Klagenfurt 9.10.2014 Dr. Christa Schaff Weil der Stadt [email protected] Pubertät und Adoleszenz • Pubertät ist die Zeit der biologischen Veränderungen - mit zerebralen, neuro-vegetativen, und hormonellen funktionellen Differenzierungen. Menarche vor 100 bis 150 Jahren mit 16-17 Jahren jetzt mit 9-12 Jahren • Adoleszenz beginnt mit der Pubertät und ist eine Übergangsphase für die psychosoziale und kognitive Entwicklung zum Erwachsenenalter – eine Zeit der Wandlung, Loslösung, Verselbständigung, Neuorientierung… Frühe Adoleszenz (11-14 Jahre) • Abschied von der Kindheit • Bisherige Sicherheit geht verloren • Fremdheit mit sich selbst und gegenüber anderen • Schamgefühle • Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Intimität sind sehr wichtig Mittlere Adoleszenz (15-17 Jahre) • Verunsicherung und Orientierungslosigkeit • Rückzug in Tagtraum, Größenphantasien bzw. Abwertung realer Bezugspersonen. • Erproben innerer und äußerer Eigenständigkeit • Suche nach neuem Selbstbild • Ablösung von Eltern/Bezugspersonen Späte Adoleszenz (18-21Jahre) • Eigenständigkeit (Autonomie) und Getrenntheit wird zunehmend bewusst • Desidealisierung der Elternbilder • Überwindung der Elternbilder • Entwicklung eines realistischen Selbst mit positiver Selbstwertregulation Baustelle Jugend Veränderungen im Gehirn Jay Giedd, National Institute of Health, Maryland, GEO 9/2005 • Das Frontalhirn ist bei Pubertierenden offenbar eingeschränkt funktionsfähig. • Im Frontalhirn werden Denkleistungen wie Planung von Handlungen, Abwägen von Konsequenzen, Setzen von Prioritäten und Unterdrückung von Impulsen gesteuert. • Es gibt einen Wachstumsschub zu Beginn der Pubertät im Gehirn, vor allem im Frontalhirn, mit Bildung neuer Kontaktstellen und neuer Verschaltungen, mit deren Hilfe es Informationen verarbeiten und speichern kann. • Anschließend wird der Informationsfluss optimiert bzw. wieder beschnitten: Verknüpfungen, die häufig beansprucht werden, bleiben erhalten oder werden verstärkt, andere verkümmern oder verschwinden. „Baumaßnahmen im Hirn“ Neustrukturierung der Hirnfunktionen mit Umbildung der Netzwerke im Hirn! Neuronale Kreisläufe im Hirn werden neu organisiert! Veränderungen in der weißen und grauen Hirnsubstanz Veränderungen im Volumen einzelner Hirnregionen (Jay Giedd National Institute of Health, Maryland) Ungleichgewicht zwischen kognitiven Kontrollen und emotionalen Impulsen Entscheidungen werden in der Pubertät eher emotional gesteuert, im Mandelkern (Amygdala) statt im Frontalhirn Gefühls- und Erregungszustände können schwer reguliert werden, was vor allem im sozialen Miteinander Probleme machen kann! Pubertätsbedingte Veränderungen bei den Botenstoffen zwischen den Nervenzellen im Hirn (Neurotransmittersystem) Daher scheint es zu einem Anstieg von Neugierverhalten, erhöhter Impulsivität und Risikoverhalten zu kommen! Dieser Prozess wird durch Hormone beeinflusst Das Schlafhormon Melatonin wird mit zwei Stunden Verspätung ausgeschüttet. Daher kommen Jugendliche abends nicht aus dem Bett und am Morgen nicht raus… Komplexe bio-psycho-soziale Regulationsmechanismen • Der Umbauprozess im Gehirn wird auch durch gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse und praktische Lebenserfahrungen mit der Umwelt und in Beziehungen moduliert. • Individuelle Faktoren spielen eine Rolle , wie: genetische Disposition Geschlecht Erfahrungen in der Kindheit Einfluss von Gleichaltrigen familiäre und gesellschaftliche Strukturen • Imbalancen beim Zusammenwirken verschiedener Reorganisationsprozesse in Gehirn und Körper mit zunehmenden Anforderungen in der Umwelt werden als Risikofaktoren für psychische Störungen gesehen. Entwicklungsaufgaben Psychische Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz • Körperlichen Veränderungen akzeptieren • Gute Beziehungen zu Gleichaltrigen halten bzw. aufbauen • Sexuelle Bedürfnisse in Beziehungen integrieren • Selbstvertrauen neu ordnen bzw. aufbauen • Eigene innere Wertesystem modifizieren • Eine eigene soziale und berufliche Identität zu finden • Loslösung von den Eltern Was erwartet die Jugendlichen in der Welt? Gesellschaftssystem, das durch Vielfalt geprägt ist: – Informationsvielfalt – Medien – Vielfalt der Wertemaßstäbe – Kulturelle Vielfalt – Mobilität Komplexität gesellschaftlicher Anforderungen mit • hohen Ansprüchen an soziale Rollen (Job-, Rollen-, Ortswechsel), • Beweglichkeit in verschiedenen Lebensbereichen, • Erfolgsorientierung, wo Leistung mit Effektivität und Qualität gefordert ist • Verarmung an menschlichen Begegnungen und persönlicher Zuwendung Unsichere Zukunftschancen in Ländern mit ökonomischen Krisen und Jugendarbeitslosigkeit („Jugend ohne Zukunft“) Wie kommen Jugendliche damit zurecht? • Ca. 80% der Jugendlichen kommen zurecht! • Ein Drittel der Jugendlichen „schwimmen in der Welt wie ein Fisch im Wasser“ und können sich die globale Welt zunutze machen • 15-20% der Jugendlichen schaffen den Anschluss nicht wirklich • Folgen können sein: – Probleme in Identitätsfindung und sozialer Rollenfindung („ich kann nicht“ statt „ich darf nicht“ wie früher) – verschiedene Formen von Risikoverhalten: Medien, Alkohol, Drogen werden im Sinne einer Ersatzwelt vermehrt konsumiert – Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit in der Erwachsenenwelt funktionieren zu können Herpertz-Dahlmann, Beate; Bühren, Katharina; Remschmidt, Helmut Erwachsenwerden ist schwer: Psychische Störungen in der Adoleszenz Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432-40; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0432 Psychische Probleme im Jugendalter Häufigkeit psychischer Symptome • Psychische Auffälligkeiten fanden sich bei 24,9% der männlichen und 22,2% der weiblichen Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren (Bella Studie) • In der KIGGs- Basiserhebung (2003-2006 ) waren 20,0% der Kinder und Jugendlichen psychisch auffällig • In der KIGGS Welle 1 gaben 20,2% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3-17 Jahren Symptome an. • Es gibt keinen Anstieg psychischer Störungen in den letzten 10 Jahren • Gravierende psychische Störungen, welche dringend behandlungsbedürftig sind, werden bei 10% der Kinder und Jugendlichen angenommen Psychische Auffälligkeiten und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen mi Alter von 3-17 Jahren in Deutschland – Prävalenz und zeitliche Trends zu 2 Erhebungszeitpunkten. Erste Folgebefragung (KIGGS Welle 1), Hölling et.al. Springer Heidelberg 2014 KIGGS Welle 1 der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland • Jungen sind mit 23,4 Prozent psychischer Auffälligkeiten zwischen 3 und 17 Jahren häufiger betroffen als Mädchen mit 16,7% • Jungen sind häufiger infolge emotionaler und verhaltensbedingter Probleme in Alltagsfunktionen beeinträchtigt • Bei 12,4% der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten sind zusätzlich deutliche Beeinträchtigungen im sozialen und familiären Alltag zu verzeichnen • Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialem Status sind häufiger betroffen. Psychische Auffälligkeiten und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen mi Alter von 3-17 Jahren in Deutschland – Prävalenz und zeitliche Trends zu 2 Erhebungszeitpunkten. Erste Folgebefragung (KIGGS Welle 1), Hölling et.al. Springer Heidelberg 2014 KIGGS Welle 1 der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland • Seit der KIGGS-Basiserhebung hat sich die Raucherquote bei 1117-jährigen von 20,4% auf 12% fast halbiert • Insgesamt ist der Anteil der Jugendlichen, die angaben jemals Alkohol getrunken zu haben, im Vergleich zur KIGGSBasiserhebung von 62,8% auf 54,4 % gesunken. • Riskanter Alkoholkonsum wurde bei 15,8% der Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren festgestellt • „Rauschtrinken“ mit mindestens 1x im Monat sechs oder mehr alkoholischen Getränken wurde bei 11,5 % der Jugendlichen gefunden. • Es war mit 23,1% bei 14-17-jährigen Jungen stärker verbreitet als bei Mädchen mit 16,5% Psychische Auffälligkeiten und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen mi Alter von 3-17 Jahren in Deutschland – Prävalenz und zeitliche Trends zu 2 Erhebungszeitpunkten. Erste Folgebefragung (KIGGS Welle 1), Hölling et.al. Springer Heidelberg 2014 Geschlechtsspezifisches Risikoverhalten • 2,9% Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren zeigen Suizidversuche, 3,8% Suizidideen • Bei männlichen Jugendlichen: – – – – Körperliche Angriffe körperlichen Verletzungen Tabakkonsum Alkohol- und Drogenmissbrauch Ein-Jahres-Prävalenz bei männlichen Jugendlichen etwa 14% • Bei weiblichen Jugendlichen: • • Sexuelle Übergriffe Selbstverletzendes Verhalten/Ritzen Ein-Jahres- Prävalenz bei weiblichen Jugendlichen etwa 25% – Herpertz-Dahlmann, Beate; Bühren, Katharina; Remschmidt, Helmut Erwachsenwerden ist schwer: Psychische Störungen in der Adoleszenz Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432-40; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0432 Psychische Störungen im Jugendalter Adoleszentenkrisen • • • • • • Störung der Sexualentwicklung Autoritätskrisen Identitätskrisen Narzistische Krisen Derealisationserscheinungen Depersonalitätserscheinungen Angststörungen • 19% aller Jugendlichen leiden an einer Angststörung, meist einer Phobie (siehe auch Bremer Jugendstudie, Essau,Petermann, 1999) – Besonders häufig sind: – soziale Phobie, – Agoraphobie – generalisierte Angststörungen • Soziale Phobien treten vor allem bei weiblichen Jugendlichen auf • Damit ist das Risiko später an einer Depression zu erkranken um das 2-3fache und das Risiko für Alkoholabhängigkeit um das 4-5 fache erhöht Herpertz-Dahlmann, Beate; Bühren, Katharina; Remschmidt, Helmut Erwachsenwerden ist schwer: Psychische Störungen in der Adoleszenz Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432-40; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0432 Symptome einer Depression in der Adoleszenz • • • • • Erniedrigtes Selbstvertrauen Antriebsminderung „Langeweile“ Traurigkeit, Stimmungslabilität Melancholische Symptome: • Apathie, Anhedonie, Appetitosigkeit, Ein- und Durchschlafstörung, Gewichtsverlust • Psychosomatische Beschwerden Lebenszeitprävalenz für 14- bis 24-jährige Jugendliche und junge Erwachsene wird mit 12% angegeben. Herpertz-Dahlmann, Beate; Bühren, Katharina; Remschmidt, Helmut Erwachsenwerden ist schwer: Psychische Störungen in der Adoleszenz Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432-40; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0432 Essstörungen In der Bella-Studie haben 23% der 14-17-Jährigen ein gestörtes Essverhalten an. Etwa 40% aller Neuerkrankungen an Magersucht finden in der frühen oder mittleren Adoleszenz statt. Hypothesen für die Entstehung oder den Anstieg: • Zunahme des Fettgewebes bei weiblichen Geschlecht • Hormonelle Veränderungen in der Pubertät • Menarche vor dem 12. Lebensjahr • Erwartungshaltung der Gesellschaft bzgl. Eigenständigkeit und Autonomie • Einfluss der Peer-Group mit Wertvorstellungen und Schlankheitsideal Herpertz-Dahlmann, Beate; Bühren, Katharina; Remschmidt, Helmut Erwachsenwerden ist schwer: Psychische Störungen in der Adoleszenz Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 432-40; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0432 Störungen des Sozialverhaltens • • • • • Vorwiegend bei männlichen Jugendlichen Prävalenz im Jugendalter 5-10% „Early starter“ – höheres Risiko für spätere Gewaltdelikte (33%) „Late starter“ – viel geringeres Risiko (10%) Beide Gruppen zeigten eine hohe Prävalenz von 20% bzgl. Alkoholismus ADHS-Symptomatik im Jugendalter • Impulsivität und verminderte Aufmerksamkeit • Weniger Hypermotorik • Begleitsymptome: – Schlechte Schul- und Arbeitsleistungen – Emotionale Unreife – Aggressivität – Belastete soziale Beziehungen – Suchttendenz – Suizidalität – Ungewollte Schwangerschaften • Besonders häufige Komorbiditäten: – emotionale Störungen wie Ängste, Zwangsgedanken, -handlungen – Depressionen, Stimmungslabilität – Suchttendenzen: Cave: früher Nikotinabusus – Störungen im Sozialverhalten mit Aggressivität oder Rückzugsverhalten Stabilität der Symptome bis ins Erwachsenenalter In Mannheimer Studie hatten 25 % der Kinder, die mit 8 Jahren die Diagnose HKS bekamen, noch mit 25 Jahren Symptome! Probleme der kognitiven Kontrolle: • erhöhte Ablenkbarkeit Probleme der Verhaltenskontrolle • Planlosigkeit • geringe Ausdauer • • geringe Flexibilität im Denken • Schwierigkeit Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden Probleme der affektiven Instabilität • Stimmungsschwankungen • Launenhaftigkeit geringes Durchhaltevermögen • Reizbarkeit • • Unzufriedenheit Wutausbrüche • • Stressintoleranz nur kurzfristige Zielsetzung • innere Unruhe • emotionale Spannung • Hypersensivität • Geringe Frustrationstoleranz Risikofaktor Co-/ Multimorbidität Retz-Junginger, Sobanski, Alm, Retz, Rösler: Nervenarzt 2008.79:809-819 • Persönlichkeitsstörungen bis 35% (Antisozial, emotional unsicher, selbstunsicher, zwanghaft) • Suchterkrankungen (Alkohol, Drogen) bis 60% • affektive Störungen (depressiv, bipolar) bis 40% • Angststörungen ca. 20% • Essstörung (Frauen) ca. 4% • Somatische Störungen: Restless-legs, gastrointestinale Störungen, Muskulatur/Skelett, metabolische Störungen etc. Aufgaben für Pädagogen und Therapeuten Allgemeine Feststellungen zur ”transition” Diskussionspapier der UEMS-CAP Section • Hauptziel muss es sein aus Sicht des Pat., der Eltern und des Arztes eine gute Behandlung des Pat. zu garantieren • Die Voraussetzungen und Bedingungen dazu sind in den verschiedenen Gesundheitssystemen von Land zu Land unterschiedich • Die UEMS-Sektion wird eine Rahmenvorgabe mit allgemeinen Gesichtspunkten anstreben um die Analyse von konkreten Problemen und Situationen zu erleichtern Voraussetzungen Diskussionspapier der UEMS-CAP-Section • Es ist ein gemeinsames Denken und eine gemeinsame Sprache zu suchen für: – Klinische psychiatrische Diagnosen – Psychopathologie und die verschiedenen genetischen oder psychosozialen Bedingungsfaktoren – Therapeutische Möglichkeiten mit • Familienorientierung der Arbeit • Entwicklungsorientierung • Kooperation in Netzwerken • Die jeweilig kooperierenden Einrichtungen sollten die Strukturen und Arbeitsbedingungen, sowie das therapeutische Vorgehen in der jeweils anderen Einrichtung kennen. • Der Pat. und seine Familie sollten professionellen Respekt zwischen den handelnden Personen in den jeweiligen Einrichtungen spüren, damit sie sich in guten Händen und sicher fühlen können. Vorschläge zur Gestaltung der ”transition” Diskussionspapier der UEMS-CAP-Section • Vorbereitung des Pat. und seiner Bezugspersonen: – Rechtzeitige Information zu geplanten Maßnahmen – Berücksichtigung der Wünsche des Pat./der Eltern • Übergang in die Psychiatrie ohne strikte zeitliche Altersvorgabe, sondern an die Lebenssituation und die Behandlung des Pat. angepasst • Gewährleistung der Kontinuität der Behandlung: – – – – bzgl. Medikation Familienarbeit Dokumentation Kooperation der Behandler miteinander • Rückmeldung der Behandler, auch mit Pat., zur Qualität der Zusammenarbeit Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Foto © pendergast · photocase.de www.achtung-kinderseele.org