Altern und Demenz bei Menschen m. intellekt. Beeintraechtigung

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Zusammenfassung
des internationalen Bildungsworkshops
Altern und Demenz
bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung
Lebenshilfe Österreich in Kooperation mit
der Universität Wien, Fakultät für Psychologie
Die Fachleute, die am 3. Oktober 2012 bei einem vollbesetzten internationalen
Workshop der Lebenshilfe Österreich an der Universität Wien referierten, waren sich
einig: Demenz wird immer mehr zum zentralen Thema im Leben von alten Menschen
mit intellektueller Beeinträchtigung. Noch mangelt es an Wissen und
Qualitätsstandards in der fachgerechten medizinischen und pädagogischen
Begleitung dieser Personengruppe. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat auf
die Zeichen der Zeit reagiert und die Gruppe der Menschen mit intellektueller
Beeinträchtigung in ihrem aktuellen Report zu Demenz aufgenommen. Die
Lebenshilfe Österreich empfiehlt auf nationaler Ebene, einen Strategieplan zu
Demenz auszuarbeiten. Dieser soll die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass
demenzerkrankte Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung weiterhin in ihrem
gewohnten Umfeld bleiben können und hier die notwendige Unterstützung, von
mobilen Diensten über 24-Stunden-Pflege bis hin zur Hospizbegleitung, erhalten.
Das Wichtigste auf einem Blick:
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Immer mehr Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sind von einer
Demenzerkrankung betroffen. Grund dafür ist, dass dieser Personenkreis immer
älter wird.
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Die Kombination von Behinderung und Demenz ruft im medizinischen Bereich oft
Ratlosigkeit hervor. Sicherheit und Umsichtigkeit im Umgang mit Menschen mit
Beeinträchtigungen ist ein Thema.
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Die Diagnoseverfahren beim Erkennen von Demenz bei Menschen mit
Beeinträchtigungen stecken in der Pionierphase. Es geht hier um die frühzeitige
und laufende Dokumentation der Krankheitsverläufe und um neue
Screeningmethoden.
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In der Begleitung von Menschen mit Demenz und intellektueller Beeinträchtigung
ist vor allem auf die Beziehungsqualität zu achten. Mit einfachen Adaptionen im
Wohnumfeld, wie z.B. stärkere Beleuchtung oder Orientierungshilfen, lässt sich
die Lebensqualität deutlich verbessern.
Zahlen und Fakten:
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Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung in
einem Alter ab 60 Jahren an Demenz erkranken, liegt bei über 60 %.
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Bei Menschen mit Down-Syndrom kann die Krankheit sogar schon in ihren
Dreißigern oder Vierzigern ausbrechen.
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Auswirkungen einer Demenzerkrankung sind grobe Verhaltensänderungen
und eine radikaler Gedächtnisabbau. Gerade bei Menschen mit intellektueller
Beeinträchtigung ist eine treffsichere Diagnose äußerst schwierig. Meistens
müssen zunächst andere Krankheiten ausgeschlossen werden, bis es zu einer
eindeutigen Diagnose kommt.
Statements:
Matthew P. Janicki, Professor an der University of Illinois at Chicago, gab einen
Überblick zur aktuellen Situation und verwies auf den Strategieplan des USGesundheitsministeriums „My Thinker´s not working“. Link zur nationalen
Strategiegruppe www.aadmd.org
Er trat für das „community based living“-Konzept ein, das dezentrale, kleine
Wohnformen für die betroffene Personengruppe vorsieht, sogenannte „Small group
homes“, wie sie in Japan, Kanada und in den Niederlanden bereits existieren.
„Während die durchschnittliche Bevölkerung mit 60 oder 70 Jahren an Demenz
erkrankt, können Menschen mit Down Syndrom schon in ihren Vierzigern davon
betroffen sein. Viele Betreuungseinrichtungen sind nicht darauf vorbereitet, die
Anzeichen einer beginnenden Demenzerkrankung richtig zu deuten.
Demenz hat eine dramatische Auswirkung auf erwachsene Menschen mit
intellektueller Beeinträchtigung genauso wie auf deren Familien, Freunde,
Mitbewohnerinnen und Mitbewohner in Wohngemeinschaften und natürlich auf
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die wesentlichen Unterstützungs- und
Pflegeleistungen erbringen.“
Prof. Dr. Michael Seidel, ärztlicher Direktor bei Bethel.regional v.
Bodelschinghsche Stiftungen Bethel, zeigte die Versorgungsproblematik von
Menschen mit Beeinträchtigungen in Krankenhäusern auf und sprach sich für mehr
Beziehungsgestaltung in der Pflege aus.
„Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung haben eine höhere Anfälligkeit für
Demenz. Die Krankheit tritt häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung und auch
früher in Erscheinung, der Verlauf kann aggressiver sein. Es gibt auch andere
Anforderungen für die Alltagsbegleitung und Umweltgestaltung dieser
Personengruppe.
Die zentrale Herausforderung sind die Verhaltensauffälligkeiten der erkrankten
Menschen, wie wiederholtes Fragen, Wahnideen, Illusionen, Schreien etc. Wichtig ist
hier, den Menschen die notwendige Wertschätzung entgegenzubringen und sie in
ihren vorhandenen Kompetenzen zu ermutigen. Stichworte dazu sind
Entschleunigung von Abläufen, Orientierung und Rückzugsmöglichkeiten geben,
Überforderung vermeiden, einfache Kommunikation anbieten.
Die Pflege ist nicht alleine Handwerk, sie ist vor allem Beziehungsgestaltung. Damit
ist Wertschätzung, Geduld, Einfühlungsvermögen und fachliche Kompetenz gemeint.
Pflege muss als ein Bestandteil der Begleitung von Menschen mit intellektueller
Beeinträchtigung verstanden werden.
Wir haben bei weitem noch keine ausreichende Qualität in der medizinischen
Versorgung dieser Patientinnen und Patienten und stehen vor riesigen
versorgungspraktischen Problemen – zu wenig spezialisierte Abteilung in den großen
Krankenhäusern. Die wenigen Strukturen, die es gibt, sind finanziell bedroht.“
Dr. Sylvia Carpenter, Psychiaterin aus Bristol, referierte über die Tücken der
diagnostischen Abklärung und Qualitätsstandards zur Demenzversorgung in
Großbritannien.
„Menschen mit Down Syndrom können schon ab 30 Jahren an Demenz erkranken.
Was sind die ersten Anzeichen? Die Diagnose ist eine sehr komplexe Angelegenheit,
wir haben medizinische und psychiatrische Aspekte zu berücksichtigen. Bei
Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sind es die Verhaltensstörungen, die
Persönlichkeitsveränderungen, die überhöhte Reizbarkeit, die zuallererst auffällt. Erst
später bemerkt man den Gedächtnisverlust.
„Nicht was man nicht mehr tun kann ist wichtig, sondern was man noch tun kann. Der
Blick richtet sich auf die Ressourcen und die Fähigkeiten.
Eine umfassende, systematische medizinische Abklärung ist zentral, so früh wie
möglich damit beginnen, ab den 30. Lebensjahr, und über einen längeren Zeitraum.“
Schlüsselpunkte bei der Diagnose:
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Die Pfleger, Behindertenbetreuer und nahe Angehörige sind die ersten, die die
Anzeichen erkennen. Sie sind für die Diagnoseerstellung von enormer
Bedeutung, denn sie kennen den Menschen am besten.
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Die Abklärung ist multiprofessionell und mehrdimensional: medizinisch
(Ausschließungsmechanismus), psychiatrisch (Depressionen, Angstgefühle,
Wahnideen, Psychosen, Persönlichkeitsveränderung), sozial (Veränderungen
in der Arbeit oder beim Wohnen, Verlust der Eltern oder naher Angehöriger
können Verhaltensänderungen auslösen).
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Diagnose ist schwieriger, weil sich die Menschen in der Regel weniger gut
ausdrücken können und die Medizinerinnen und Mediziner mehr ins Detail
gehen müssen.
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Die Dokumentation sollte im Alter von 30 Jahren beginnen, um
Veränderungen im Zeitablauf zu erkennen. Eine exakte Diagnose kann erst
nach Jahren erstellt werden.
Kernpunkte für eine verbesserte Lebensqualität:
- gute Frühdiagnostik
- Maßgeschneiderte Hilfe, Würde und Respekt, den Mensch sehen und nicht die
Erkrankung
- Qualitätsstandards: Aufklärungskampagnen und Training für Angehörige,
Menschen mit Beeinträchtigungen und Helfer
Primar Univ.-Prof. Dr. Josef Marksteiner, ärztliche Leiter Psychiatrie und
Psychotherapie, Landeskrankenhaus Hall in Tirol, plädierte dafür, dass Demenz
bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zum zukünftigen Thema für den
europäischen Alzheimer-Kongress wird und betonte die Problematik der
unterschiedlichen Kostenträgersituation in den Bundesländern.
Er setzte den Schwerpunkt seines Referates auf die Diagnose.
„Die Aufenthaltsdauer in der Psychiatrischen Klinik beträgt 10 Tage, das ist für eine
gute Diagnoseerstellung ein großes Problem. Die Zeit, um gut abklären zu können,
geht verloren. Damit besteht die Gefahr, dass sich die Psychiatrie in diesem Bereich
zurückzuzieht.
Gute Diagnosezentren wären Memory Kliniken, das sind spezialisierte Einheiten mit
einem multiprofessionellen Team. Der Anteil der hier behandelnden Menschen mit
Beeinträchtigung liegt unter 5%, also eine Minderheit. Es gibt kein etabliertes,
standardisiertes Protokoll und keine Basisdokumentation wie in England, hier muss
man weiterarbeiten und einen österreichweiten Aufruf starten, dass es notwendig ist,
damit zu beginnen. Die Alzheimer Gesellschaft könnte hier als Partner eingeschaltet
werden. Es dauert lange, bis es zur Diagnose kommt, weil viele Aspekte sind
abzuklären sind, meist im Ausschlussverfahren. Die Forschung widmet sich bereits
mit dem Thema.“
Dr. Michael Splaine, Berater bei Alzheimer Disease International, brachte den
menschenrechtlichen Aspekt in die Diskussion mit hinein.
„Demenz betrifft weltweit 115 Millionen Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) hat in ihrem Report über Demenz erstmals die Zielgruppe der Menschen mit
intellektuellen Beeinträchtigungen erwähnt. Auch in der Politik bekommt dieses
Thema immer mehr Relevanz. So gibt es bereits in einigen europäischen Ländern
nationale Alzheimer Pläne. Es haben sich sogenannte „Friendly Communities“
gebildet, die sich auf gemeindenahe Unterstützung für ältere und kranke Menschen
spezialisieren.
Praxisbeispiele in der Begleitung von Menschen mit Alzheimer und
intellektueller Beeinträchtigung:
Das schottische Modell von Karen Watchman wurde von Mag. Elisabeth Zeilinger
und Mag. Andreas Kocman, beide von der Universität Wien, präsentiert. Sie gaben
den Zuhörerinnen und Zuhörern einen Einblick in die Welt von Menschen mit
Beeinträchtigungen und Demenz und brachten Anregungen für den Arbeitsalltag in
der Behindertenhilfe.
Wichtige Faktoren im Umgang mit demenzerkrankten Menschen mit
Beeinträchtigungen sind:
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Sich immer vor Augen zu halten, dass die Betroffenen sich nicht anders
verhalten können
Alle Personen im Betreuungsteam verfolgen das gleiche Konzept
in der Realität der Person bleiben
Biographiearbeit - Kommunikation vor dem Hintergrund der persönlichen
Vergangenheit. Hintergrundwissen ist notwendig, das sonst die Gefahr
besteht, traumatische Erfahrungen auszulösen
Für jedes herausforderndes Verhalten gibt es einen Grund, die betreffende
Person sieht darin einen Sinn.
Zu einer Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten führt eine entsprechende
Gestaltung des Umfelds: Hinweise, Schilder, Piktogramme, Tischtücher ohne
ablenkende Muster, klare Kontraste bei Tellern, damit das Essen gut sichtbar
ist, Vermeiden von zu lauter Musik und zu viel akustische Einflüsse
Das Wohnhaus für Seniorinnen und Senioren der Lebenshilfe Wien wurde von Mag.
Werner Trojer, Heilpädagogischer Geschäftsführer, vorgestellt.
19 Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung werden in der Nauschgasse im 22.
Bezirk in Wien von einem multiprofessionellen Team in einem 2:1
Betreuungsschlüssel begleitet. 2 Personen leben mit einer Demenz und sind gut in
das Gruppengeschehen integriert, sie brauchen keine zusätzliche Assistenz. Der Bau
des Wohnhauses wurde notwendig, da die anderen Häuser teilweise die Kriterien zur
Barrierefreiheit nicht erfüllen und eine Unterbringung im Pflegeheim abgelehnt wurde.
Daten und Details zum pflegerischen Konzept können der Präsentation entnommen
werden.
Das Wohnhaus Söding der Lebenshilfe Graz und Umgebung Voitsberg wurde
von Gertraud Fließer, der Wohnhausleiterin, präsentiert.
Sie betonte folgende Aspekte:
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Durch bauliche Adaptierungen, wie eine stärkere Beleuchtung, sind die Stürze
um 70% zurückgegangen.
Flexible Strukturen in der Tagesbegleitung und auch im Nachtdienst sind
notwendig.
Mitarbeiter müssen kleine Zeichen im Verhalten erkennen können, sollen in
ihrer Haltung Ruhe, Sicherheit und Gelassenheit vermitteln.
Die Kommunikation erfolgt oft nur über Blicke, Gesten, stabile Berührungen
Die Begleitung setzt hohe fachliche Kompetenz, Flexibilität und Kreativität
voraus
Einige Stimmen zur Diskussion rund um die Zusammenarbeit von Medizin und
Behindertenhilfe:
„Es war nicht einfach, einen Hausarzt für die Klientinnen und Klienten zu finden, das
ist eine Erfahrung, die wir generell machen. Da steckt dahinter, dass die Ärzte zu
wenig Wissen über Behinderung haben, und sie werden mit dem Unwissen alleine
gelassen.“, Werner Trojer
„Die Zusammenarbeit mit Krankenhäusern ist schwierig, Menschen mit
Behinderungen werden nicht so gerne aufgenommen. Wir suchen aktiv und bewusst
eine Kooperation mit einem Krankenhaus.“, Gertraud Fließer
„Die Kundinnen und Kunden sollen aufgeklärt werden, damit sie den Verlauf ihrer
Erkrankung nachvollziehen können. Wir sollten sie in das Wissen und in die
Verantwortung holen.“, Martin Hochegger
„Es ist wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte mit beeinträchtigten Menschen gut
umgehen und das gerne machen. Das Problem besteht darin, dass sie für die
Untersuchung des Personenkreises zu wenig ausgebildet sind. Der Verein VUP
Austria wurde gegründet, um hier entgegenzuwirken“, Dr. Maria Bruckmüller
Univ.-Prof. Dr. Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe Österreich und
Hauptinitiator des Workshops, fasste die Ergebnisse zusammen und betonte, wie
wichtig es ist, die Ärzteschaft in die Diskussion mit einzubeziehen und die
Berufsgruppe der Neurologen für dieses Thema zu gewinnen. Die Lebenshilfe hat
ein großes Interesse daran, sich an der Weiterentwicklung von
Untersuchungsmethoden und Instrumentarien zu beteiligen und mit der Gesellschaft
für Down-Syndrom und der Alzheimer- Gesellschaft zusammenzuarbeiten.
Gesundheit ist eines der Schwerpunktthemen für das nächste Jahr und es laufen
bereits einige Forschungsprojekte dazu in Kooperation mit der Universität Wien.
Weber lobt die Pionierarbeit in der Begleitung von älteren Menschen mit Demenz und
intellektueller Beeinträchtigung, die in der Steiermark und in Wien geleistet wird und
streicht einmal mehr den Aspekt der Beziehungsarbeit in der Pflege hervor.
Kontakt:
Eva Schrammel
Lebenshilfe Österreich
Telefon 01 812 26 42 79
Email [email protected]
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