JATROS Infektiologie 4 I 2008 Epidemiologie der Tuberkulose D. Schmid, Wien Das Genus Mycobacterium umfasst neben den Erregern der Tuberkulose (M.-tuberculosis-Komplex) über 100 andere Spezien. Als Erreger der Tuberkulose gilt der Mycobacterium-tuberculosis-Komplex. Der M.-tuberculosis-Komplex ist eine Gruppe von genetisch sehr nahe miteinander verwandten Varianten bzw. Subspezies der Tuberkulosebakterien. I 12 1-Jahres-Inzidenz der Tuberkulose Anzahl der Fälle pro 100.000 Personen 70 60 50 54,00 40 30 20 12,27 12,22 10 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Jahr Abb. 1: 1-Jahres-Inzidenz der Tuberkulose in Österreich und die 1-Jahres-Inzidenz der Tuberkulose in Österreich nach Staatsangehörigkeit, 1997–2006 Häufigkeitsverteilung 100 90 80 Proportion (%) Neben M. tuberculosis und M. africanum gehören auch M. bovis, der davon durch jahrelange Passage abgeleitete Impfstamm M. bovis-BCG (Bacille Calmette-Guérin, eine Deletionsmutante von M. bovis sowie M. canettii und M. microti (Erreger einer „Tuberkulose“ bei verschiedenen Tierrassen, insbesondere bei Nagetieren und Lamas, der in Einzelfällen auch beim Menschen nachgewiesen wurde) zum Mycobacterium-tuberculosis-Komplex.1 Seit dem Jahr 2003 wird zudem M. caprae als eigene Spezies diesem Komplex zugeordnet.2, 3 Alle M.-tuberculosis-Komplex-Bakterien können beim Menschen eine Tuberkulose (Tb) verursachen. Im Jahr 2007 wurden beim Menschen 507 Infektionen mit M. tuberculosis, ein Fall mit M. bovis und einer mit M. caprae registriert. Im Unterschied zu den M.-caprae-Infektionen werden Primärinfektionen mit M. bovis heute vorwiegend im Ausland akquiriert. Infektionen mit dem attenuierten M.-bovis-BCG-Impfstamm kommen nach Impfung von Säuglingen mit zum Zeitpunkt der Impfung noch nicht diagnostizierten schweren Immundefekten vor oder können als Komplikation nach der intravesikalen BCG-Immunstimulation bei Patienten mit Blasenkrebs disseminierte Infektionen verursachen. Seit einem BCGitis-Ausbruch im Jahr 1991 bei über 20 erkrankten Neugeborenen kommt die BCG-Impfung in Österreich kaum mehr zum Einsatz.4 Bei einer 70 60 50 40 30 20 10 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Jahr Abb. 2: Häufigkeitsverteilung der Tuberkuloseerkrankungsfälle von Personen mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft gemäß deren Staatsangehörigkeit pro Jahr; 1997–2006 universimed.com T U B E R K U L O S E | schwerpunkt Herkunftsländer der TB-Fälle kumulativ über den Zeitraum 1997–2006 Anzahl der Fälle in Klammer Ehemaliges Jugoslawien (1.319), Türkei (500), Rumänien (148), Russische Föderation (221) Asien (407): China (50), Indien (167), Mongolei (28), Vietnam (16), Bangladesch (21), Kambodscha (3), Indonesien (9), N-Korea (1), S-Korea (3), Malaysien (1), Nepal (6), Philippinen (66), Sri Lanka (3), Taiwan (1), Thailand (29), unbekannt (3) Andere europäische Länder mit hoher Tb-Inzidenz (148): Armenien (16), Aserbaidschan (4), Moldawien (29), Georgien (78), Ukraine (15), Kasachstan (2), Litauen (1), Usbekistan (3) Andere europäische Länder mit niedriger Tb-Inzidenz (173): Albanien (36), Belgien (1), Bulgarien (17), Tschechische Republik (4), Frankreich (1), Deutschland (21), Griechenland (4), Ungarn (13), Israel (2), Italien (4), Niederlande (3), Norwegen (1), Polen (32), Portugal (7), Slowenien (1), Spanien (4), Schweden (3), Schweiz (1), Großbritannien (1), unbekannt (17) Afrika (241): Nigeria (84), afrikanisches Land – unbekannt (7), Algerien (11), Angola (12), Kamerun (10), Kongo(15), Côte d’Ivoire (2), Eritrea (3), Äthiopien (13), Gambia (18), Ghana (11), Guinea (4), Kenia (9), Liberia (11), Mauretanien (3), Senegal (3), Sierra Leone (15), Südafrika (1), Tansania (1), Uganda (4), Zaire (2), Sambia (1), Simbabwe (1) EMRO (232): Afghanistan (60), Ägypten (15), Iran (15), Irak (8), Libyen (3), Marokko (10), Pakistan (68), Saudi-Arabien (1), Somalia (34), Sudan (6), Syrien/Arabische Republik (3), Tunesien (9) Latein/Südamerika (24): Bolivien (1), Brasilien (5), Kolumbien (1), Dominikanische Republik (11), Ecuador (1), Nicaragua (1), Paraguay (1), Peru (3) Unbekannter Herkunft (57) Tab. 1: Verteilung der Herkunftsländer der in Österreich bei „Personen mit anderer Staatsangehörigkeit“ im Zeitraum 1997–2006 diagnostizierten Tuberkulose und MDR-Tuberkulose universimed.com Inzidenzrate Anzahl der Fälle pro 100.000 Personenjahre 35 32,3 30 27,6 25 19,9 20 17,3 15 22,7 23,7 18,2 16,9 14,9 14,4 12,7 16,1 11,5 10 7,4 6,7 5 6,0 10,9 0–4 9,8 8,9 8,9 8,9 55–64 45–54 3,1 2,6 0 2,9 5–14 15–24 25–34 35–44 64+ Altersgruppe Abb. 3: Mittlere jährliche alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzrate, 1997–2006 schen 1997 und 2001 von 54 Fällen pro 100.000 Personen auf 38,01 Fälle pro 100.000 Personen gesunken, in den Jahren von 2001 bis 2004 aber um 50% ge- stiegen (von 38,01 auf 57,69/100.000 Personen) und in den Jahren 2004 bis 2006 um 31% auf 40,86 Fälle/100.000 Personen gefallen. 1-Jahres-Inzidenz der MDR-Tuberkulose 3,00 Anzahl der Fälle pro 100.000 Personen Erstinfektion entwickeln ca. 3–4% der Infizierten innerhalb eines Jahres eine aktive Tuberkulose (i.e. Primärtuberkulose). Bei den übrigen Infizierten kommt es bei 3–15% der Fälle im Laufe des Lebens zu einer Reaktivierung dieser latenten Infektion (Postprimärtuberkulose). Bei exponierten Immunkompetenten liegt das Gesamtlebenszeitrisiko für eine aktive Tuberkulose bei ca. 10%.1 Durch eine frühe Diagnosestellung, umfassende Identifizierung von Folgefällen unter den Kontaktpersonen und konsequente Überwachung der Therapie konnte die Sterblichkeit bedingt durch Tuberkulose in den entwickelten Ländern weitgehend zurückgedrängt werden. 96% der tuberkuloseassoziierten Todesfälle entfallen heute auf die ökonomisch unterentwickelten Länder der Erde (WHO). In Österreich ist die Inzidenz an Tuberkulose in den Jahren 1997–2006 um durchschnittlich 5,2% (95% CI 4,0–6,3) gesunken (Abb. 1). Weiters zeigt die Abbildung 1 die Inzidenz der Tuberkulose (inkludiert laborbestätigte und nicht laborbestätigte Neuerkrankungen) bei Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft gegenüber jener bei Personen mit nicht österreichischer Staatsbürgerschaft. Die Inzidenz der Tuberkulose bei Personen mit österreichischer Staatsangehörigkeit ist in den Jahren von 1997 bis 2006 linear um 8,1% (95% CI: 7,3–8,8) pro Jahr gesunken. Die Inzidenz der Tuberkulose von Personen mit nicht österreichischer Staatsangehörigkeit ist zwi- 2,50 2,00 1,62 1,50 1,00 0,57 0,50 0,29 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Jahr Abb. 4: 1-Jahres-Inzidenz der MDR-Tuberkulose bei Personen mit österreichischer Staatsangehörigkeit versus Personen anderer Staatsangehörigkeit 13 I JATROS T U B E R K U L O S E Infektiologie 4 I 200 2008 8 | schwerpunkt MDR-Tuberkulose in Österreich Jahr Ehemaliges Jugoslawien Türkei Rumänien Russische Föderation andere europäische Länder mit hoher Tbc-Inzidenz1 Afrika2 Süd/Ostasien, West-Pazifik3 Albanien 1997 0 1 0 0 0 1 0 0 1998 1 1 0 0 1 0 1 0 1999 1 1 1 0 1 0 1 0 2000 0 1 1 0 0 1 1 0 2001 0 0 0 1 0 0 1 1 2002 1 0 0 0 1 0 1 0 2003 0 0 1 5 2 0 2 0 2004 0 0 0 9 7 0 3 0 2005 1 1 2 5 4 0 0 0 2006 0 0 0 4 3 0 2 0 total 4 (6%) 5 (7%) 5 (7%) 24 (33%) 19 (26%) 2 (3%) 12 (17%) 1 (1%) Tab. 2: Anzahl der Fälle von MDR-Tuberkulose in Österreich bei „Personen mit anderer Staatsangehörigkeit“, dargestellt nach deren Herkunftsland und Erkrankungsjahr, 1997–2006; 1Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine; 2Nigeria, afrikan. Land; 3China, Indien, Mongolei, Vietnam Abbildung 2 und Tabelle 1 zeigen die Verteilung der Herkunftsländer der „Personen mit anderer Staatsangehörigkeit“, bei denen in Österreich im Zeitraum von 1997 bis 2006 Tuberkulose diagnostiziert wurde. Die Tuberkuloseerkrankungsfälle von Personen mit Herkunft aus dem ehemaligen Jugoslawien nahmen durchgehend von 1997 bis 2006 den größten Anteil unter allen Tuberkuloseerkrankungsfällen von Personen mit nicht österreichischer Staatsangehörigkeit ein; zwischen 1997 und 2003 nahmen Tuberkulosefälle von Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit den zweitgrößten Anteil ein. Von 2002 bis 2004 zeigte sich eine deutliche anteilsmäßige Zunahme bei den Tuberkuloseerkrankungsfällen von Personen, die aus Ländern der Russischen Föderation stammten. Die Abbildung 3 zeigt die mittlere jährliche alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzrate der Jahre 1997–2006. Das Risiko, an Tuberkulose zu erkranken, ist im Kleinkindesalter erhöht: In der Altersgruppe 0–4 Jahre finden sich 6,7 Fälle pro 100.000 Personenjahre. Dies entspricht der erhöhten Primärinfektionsrate in der Altersgruppe <5 Jahre. In Österreich haben Personen in der Altersgruppe >64 Jahre das höchste Risiko, an Tuberkulose zu erkranken: 22,7 Fälle pro 100.000 Personenjahre. Dies spiegelt das erhöhte Risiko für eine endogene Reaktivierung in einer Alterskohorte mit (verglichen mit jüngeren Geburtsjahrgängen) hoher Durchseuchung wider. Das Risiko, an Tuberkulose zu erkranken, steigt mit I 14 zunehmendem Alter bei Männern stärker als bei Frauen. Tuberkulose kann im Normalfall mit einer Kombination von vier Standard- oder Erstrangantituberkulotika behandelt werden. Das Auftreten von multiresistentem M. tuberculosis erschwert und verteuert die Behandlung. Multiarzneimittelresistente Tuberkulose (MDR-Tb) entsteht durch Tuberkelbakterien, die mindestens gegen Isoniazid und Rifampicin, beide wirkungsvollste Erstrangantituberkulotika, resistent sind. Mangelhafte Patientencompliance, unfachgemäße Medikamentenverschreibung, irreguläre Medikamentenversorgung und Vorkommen minderwertiger Medikamente gelten als die Hauptursachen der Entwicklung von Antituberkulotikaresistenzen.5 In Österreich ist die Inzidenz an multiarzneimittelresistenter Tuberkulose für Personen mit österreichischer Staatsangehörigkeit in den Jahren von 1997 bis 2006 weitgehend gleich geblieben; die mittlere jährliche Inzidenzrate von 1997 bis 2006 betrug 0,016 MDR-Tb-Fälle pro 100.000 Personenjahre (Schwankungsbereich: 0–0,03 Fälle pro 100.000 Personenjahre, Abb. 4). Demgegenüber fällt bei Personen mit anderer Staatsangehörigkeit in der Zeit von 2002 bis 2004 ein Anstieg der Inzidenz an MDRTb von 0,40 auf 2,46 Fälle/100.000 Personen auf. Die Tabelle 2 zeigt die Verteilung der Fälle von MDR-Tuberkulose in Österreich bei „Personen mit anderer Staatsangehörigkeit“ nach Herkunftsland/region und Erkrankungsjahr von 1997 bis 2006. Der steile Anstieg der MDR-Tuberkulose von 2002 bis 2004 wird dominiert von Tuberkuloseerkrankungsfällen von Personen, die aus der Russischen Föderation und aus den osteuropäischen Ländern Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien und Ukraine stammen. Somit sollte bei Patienten, die die Infektion wahrscheinlich in Regionen von Osteuropa akquiriert haben, stets an das Vorliegen einer Infektion mit multiresistentem M. tuberculosis gedacht werden. Literatur: 1 Kirschner P: Mykobakterien. In: Spektrum der Infektionskrankheiten. H. Mittermayer und F. Allerberger (Hrsg.) Spitta Verlag, Balingen, 2006, S. 508-517 2 Aranaz A, Cousins D, Mateos A, Dominguez L (2003): Elevateron of Mycobacterium tuberculosis subsp. caprae. Aranaz et al: 1999 to species rank as Mycobacterium caprae comb. nov., sp. Nov. Int J Syst Evol Microbiol 53: 1785-1789 3 Prodinger WM et al (2005): J Clin Microb 43: 49844992 4 Allerberger F (1991): An outbreak of suppurative lymphadenitis connected with BCG vaccination in Austria, 1990-1991 (Letter). Amer Rev Resp Dis 144: 469 5 Editorial team: Screening programmes for tuberculosis in new entrants across Europe. Int J Tuberc Lung Dis 2004; 8: 1022-1026 N Autoren: Dr. Daniela Schmid ([email protected]), H.-W. Kuo, S. Pfeiffer, A. Indra, F. Allerberger Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), Nationale Referenzzentrale für Tuberkulose, Währinger Straße 25a, 1090 Wien inf080412 universimed.com