Camillo de Lellis

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Skript
Analysis III
Herbstsemester 2011
Prof. Dr. Camillo de Lellis
Stand: 26. Dezember 2012
INHALTSVERZEICHNIS
i
Inhaltsverzeichnis
1 Gewöhnliche Differentialgleichungen
1.1 Systeme von gewöhnlichen Differentialgleichungen
1.2 Lineare Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Das Theorem von Picard-Lindelöf . . . . . . . . .
1.4 Eindeutigkeit und stetige Abhängigkeit . . . . . .
1.5 Differenzierbare Abhängigkeit . . . . . . . . . . .
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2
2
2
7
11
14
2 Einführung in die Masstheorie von Lebesgue
2.1 Elementare Voraussetzungen . . . . . . . . . .
2.2 Das äussere Lebesgue-Mass . . . . . . . . . .
2.3 Lebesgue-Messbarkeit . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Das Lebesgue-Mass . . . . . . . . . . . . . . .
2.5 Charakterisierungen der Messbarkeit . . . . .
2.6 Lipschitz-Abbildungen und messbare Mengen
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20
24
26
33
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36
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3 Lebesgue-messbare Funktionen
3.1 Definition der messbaren Funktionen . . . . .
3.2 Eigenschaften messbarer Funktionen . . . . .
3.3 Approximationssatz mit einfachen Funktionen
3.4 Die Sätze von Egorov und Lusin . . . . . . . .
3.5 Konvergenz nach Mass . . . . . . . . . . . . .
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43
43
46
49
52
55
4 Das
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
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59
59
61
64
67
68
Lebesgue-Integral
Definition des Lebesgue-Integrals . . . .
Elementare Eigenschaften des Integrals .
Konvergenzsätze I . . . . . . . . . . . . .
Verallgemeinerung des Lebesgue-Integrals
Konvergenzsätze II . . . . . . . . . . . .
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5 Die Sätze von Fubini und Tonelli
70
5.1 Der Satz von Fubini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5.2 Der Satz von Tonelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
6 Abstrakte Masstheorie
6.1 Allgemeine σ-Algebren
6.2 Messbare Funktionen .
6.3 Integrale . . . . . . . .
6.4 Konvergenzsätze . . .
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7 Transformationssatz und Zerlegung der Einheit
7.1 Der Transformationssatz . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Beweis des Transformationssatzes: Teil I . . . . .
7.3 Beweis des Transformationssatzes: Teil II . . . . .
7.4 Die Zerlegung der Einheit . . . . . . . . . . . . .
8 Der
8.1
8.2
8.3
8.4
Satz von Gauss
Hyperflächen des Rn . .
Das Flächenintegral . . .
Reguläre offene Mengen
Der Satz von Gauss . . .
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78
79
79
85
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87
87
89
91
93
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96
96
98
101
103
INHALTSVERZEICHNIS
8.5
ii
Beweis des Satzes von Gauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
A Das Cantor-Diagonalargument
106
B Symbolverzeichnis
107
Abbildungsverzeichnis
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Sich nicht überlappende Intervalle in R2 . . . . . . . . . . . . . . .
Intervalle wie im ersten Teil von Satz 2.3. . . . . . . . . . . . . . .
Die Whitney-Zerlegung einer offenen Teilmenge von R2 . . . . . . .
Ei ↓ E und Ei ↑ E. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I ⊂ R2 : eine Überdeckung A ∈ U(I) mit σ(I) < ε. . . . . . . . . .
Die Zerlegung von K. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Vereinigung der Rechtecke ist BN . . . . . . . . . . . . . . . .
Zwei fast überall gleiche Funktionen. . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Indikatorfunktion der Vereinigung einiger Intervalle. . . . . .
Treppenfunktion als Beispiel für eine einfache Funktion. . . . . . .
Die definierte Funktion fk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Funktionen f + und f − . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Folge Ak ↑ A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kartenwechsel mit den Abbildungen Φ, Ψ, ϕ und ψ. . . . . . . . .
Die Bedingung (R): In diesem Fall liegt Ω unter dem Graphen von
Das äussere Normalenfeld einer Menge. . . . . . . . . . . . . . . .
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f.
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20
21
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23
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41
42
46
49
50
51
51
95
98
102
102
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
1
1.1
2
Gewöhnliche Differentialgleichungen
Systeme von gewöhnlichen Differentialgleichungen
Sei F : I × Rn × ... × Rn → Rn , wobei I ⊂ R ein Intervall ist. In diesem Kapitel betrachten wir nur solche Abbildungen F , die mindestens stetig sind. Eine Funktion
y : I → Rn , die k-mal differenzierbar ist, ist eine Lösung des Systems
F (t, y, y 0 , ..., y k ) = 0 ,
(1)
falls
F (t, y(t), y 0 (t), ..., y (k) (t)) = 0
∀t ∈ I.
Da wir annehmen, dass F stetig ist, ist jede Lösung von (1) eine C k -Funktion.
Wenn n = 1 ist, heisst (1) gewöhnliche Differentialgleichung.
Beispiel 1.1. Sei f : I → R stetig und F : I × R × R → R wie folgt definiert:
F (t, x1 , x2 ) := x2 − f (t) .
Eine Lösung y : I → R ist eine differenzierbare Funktion, so dass
y 0 (t) − f (t) = 0 ∀ t ∈ I.
D.h. y ist eine Stammfunktion von f . Wenn I = [a, b] ist, dann gilt:
Z t
f (τ ) dτ + C,
y(t) =
a
wobei C ∈ R die Integrationskonstante ist.
Beispiel 1.2. Seien f, g : I → R zwei stetige Funktionen und F (t, x1 , x2 ) = x2 −
f (t)x1 − g(t). (1) ist dann gegeben durch
y 0 (t) − f (t)y(t) − g(t) = 0,
d.h. eine inhomogene lineare Differentialgleichung erster Ordnung. Die Formel, die
alle Lösungen dieser Gleichung beschreibt, haben wir bereits in Analysis I hergeleitet.
1.2
Lineare Systeme
Definition 1.3. Sei A : Rn → Rn eine lineare Funktion, d.h. ∃ M ∈ Rn×n , so dass
A(x) = M · x
P
( A(x) = (A1 (x), . . . , An (x)) und Aj (x) = ni=1 Mji xi ). Das System
y 0 (t) = A(y(t)) = M · y(t)
heisst homogenes lineares System erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten.
Eine differenzierbare Funktion v : [a, b] → Rn ist genau dann eine Lösung von
v 0 = A(v) = M · v, wenn
v 0 (t) = A(v(t)) = M · v(t) ∀ t ∈ [a, b].
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
3
Ausgeschrieben bedeutet dies:

P

v10 (t) = Pni=1 M1i vi (t)


n
 v 0 (t) =
2
i=1 M2i vi (t)
..

.


 v 0 (t) = Pn M v (t) ,
ni i
n
i=1
wobei Mij die Einträge der Matrix M sind.
Beispiel 1.4. Für n = 1 haben wir A(x) = cx, d.h. M = (M11 ) = (c). Die Differentialgleichung lautet nun also v 0 = cv und wir wissen schon, dass jede Lösung (auf
einem Intervall!) von der Form v(t) = Cect ist.
Beispiel 1.5. Sei A : R2 → R2 mit A(x) = M · x gegeben durch
0 1
M :=
.
−1 0
In diesem Fall haben wir ein System von zwei Differentialgleichungen:
0
v1 = v2
v20 = −v1 .
(2)
Wenn v eine Lösung von (2) ist, dann ist v1 zweimal differenzierbar. Falls wir y := v1
setzen, dann ist y 00 = −y. Umgekehrt gilt, falls y zwei mal differenzierbar ist und
y 00 = −y, dann ist (v1 , v2 ) := (y, y 0 ) eine Lösung von (2).
Die zwei letzten Beispiele sind Spezialfälle des folgenden Lemmas:
Lemma 1.6. Seien c0 , ..., ck−1 ∈ R und sei M ∈ Rk×k die folgende Matrix:


ck−1 ck−2 . . . . . . c0
 1
0
0 ... 0



1
0 ... 0
M :=  0
.
 ..
..
.. 
.
.
 .
.
.
.
0
... ... 1 0
(3)
Die Funktion y : I → R löst die Gleichung
y (k) = ck−1 y (k−1) + ck−2 y (k−2) + . . . + c1 y 0 + c0 y
genau dann, wenn die vektorwertige Abbildung v := (y (k−1) , . . . , y 0 , y) das System
v 0 = M · v löst.
Beweis. Trivial.
Nun wollen wir eine allgemeine Formel für die Lösung des Systems v 0 = M · v
herleiten. Dazu brauchen wir eine Art “Exponential der Matrix tM ”.
Definition 1.7. Sei M ∈ Rn×n (bzw. ∈ Cn×n ) eine Matrix. Dann ist
exp(M ) :=
∞
X
Mk
k=0
k!
= Id +
∞
X
Mk
k=1
k!
.
(4)
Hier nutzen wir die Konvention, dass M 0 = Id, auch wenn M = 0. Deswegen ist
exp(0) = Id.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
4
Beispiel 1.8. Wenn


λ1 . . . 0


M :=  ... . . . ...  ,
0 . . . λn
dann ist

exp (λ1 ) . . .

..
...
exp(M ) = 
.
0

0
..
.

.
. . . exp (λ2 )
Der folgende Satz ist der Hauptsatz dieses Kapitels:
Satz 1.9. Für jede Matrix M ∈ Rn×n (bzw. ∈ Cn×n ) ist exp(M ) eine wohldefinierte
Matrix, d.h. die Reihe in (4) konvergiert. Zudem ist die Abbildung t 7→ exp(tM )
analytisch und für jeden Vektor v0 ∈ Rn ist die Funktion t 7→ [exp(tM )] · v0 eine
Lösung des Systems v 0 = M · v auf ganz R.
Die Partialsumme von (4) ist einfach die Matrix
SN :=
N
X
Mk
k=0
k!
.
Wenn wir die entsprechenden Einträge mit (SN )ij bezeichnen, erhalten wir eine Folge
{(SN )ij }N ∈N für jede Wahl von i, j ∈ {1, . . . , n}. Die Konvergenz von (4) bedeutet
dann, dass jede solche Folge gegen eine reelle (bzw. komplexe) Zahl konvergiert.
Deswegen ist exp(tM ) eine Matrix und [exp(tM )]ij sind die entsprechenden Einträge. Dass die Abbildung t 7→ [exp(tM )] analytisch ist, bedeutet, dass jede der
reellwertigen Funktionen t 7→ [exp(tM )]ij analytisch ist.
Um Satz 1.9 zu beweisen, brauchen wir einige Lemmata. Wir erinnern uns an
die Definition der Hilbert-Schmidt-Norm


sX
sX
bzw.
(Mij )2
|Mij |2 
kM kHS :=
ij
ij
und der Operator-Norm
kM kO :=
max
v∈Rn ,kvk=1
bzw.
kM · vk
max
v∈Cn ,kvk=1
kM · vk .
Die Operator-Norm ist die kleinste positive Zahl C ∈ [0, ∞[, so dass die Ungleichung
kM · vk ≤ Ckvk für alle Vektoren v gilt.
Lemma 1.10. Für jede Matrix M ∈ Rn×n (bzw. M ∈ Cn×n ) gilt:
√
kM kO ≤ kM kHS ≤ nkM kO
kM k kO ≤ kM kkO
∀k ∈ N .
(5)
(6)
Beweis. Sei v ∈ Rn (bzw. ∈ Cn ). Mit der Cauchy-Schwarz-Ungleichung erhalten
wir:
2
!
X X
X
X
X
kM · vk2 =
Mij vj ≤
|Mij |2
|vk |2 = kM k2HS kvk2 .
i
i
i
j
k
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
5
Deswegen ist kM kO ≤ kM kHS . Nun sei für jedes i ∈ {1, . . . , n}
ei := (0, . . . 0, |{z}
1 , 0, . . . , 0) .
i-te Stelle
Dann ist
X
|Mij |2 = kM · ei k2 ≤ kM k2O kei k2 = kM k2O
j
und somit
kM k2HS =
X
|Mij |2 ≤ nkM k2O .
i,j
Wir beweisen nun (6) mittels vollständiger Induktion. Der Induktionsanfang ist
kM 0 kO = kIdkO = 1 = kM k0O . Der Induktionsschritt ist einfach: ∀v ∈ Rn (bzw.
∈ Cn ) gilt:
kM k · vk = kM · (M k−1 · v)k ≤ kM kO · kM k−1 · vk ≤ kM kO kM k−1 kO kvk .
Wegen der Induktionsannahme, kM k−1 · vk ≤ kM kk−1
O kvk, ist
kM k · vk ≤ kM kkO kvk .
Da v ein beliebiger Vektor war, folgt kM k kO ≤ kM kkO .
Lemma
P 1.11. Sei {Ak } eine Folge vonPMatrizen, so dass die entsprechenden Reihen
k kAk kHS < ∞). Dann konvergiert auch
k AkPabsolut konvergieren (d.h.
die Reihe k Ak , d.h. auch die Reihen der Koeffizienten der Partialsummen konvergieren.
Beweis. Der Raum der Matrizen Rn×n (bzw. Cn×n ) versehen mit der Norm k · kHS
2
2
ist der übliche Euklidische Raum Rn (bzw. Cn ). Deswegen gelten die Dreiecksungleichung und die Charakterisierung der Konvergenz durch die Cauchy-Eigenschaft.
Es genügt also zu zeigen, dass
N
X
SN :=
Ak
k=0
die Cauchy-Eigenschaft erfüllt. Seien nun N ≤ r < s ∈ N. Dann ist
kSs − Sr kHS ≤
s
X
k=r+1
kAk kHS ≤
∞
X
kAk kHS .
k=N +1
Die Cauchy-Eigenschaft folgt dann aus der Konvergenz von
P∞
k=0
kAk kHS .
Beweis des Satzes 1.9. Wohldefiniertheit: Aus (5) und (6) folgt kM k kHS ≤
Deswegen ist
∞
∞ X
Mk √ X
kM kkO √ kM kO
≤ n
= ne
< ∞,
k! k!
HS
k=0
k=0
√
nkM kkO .
d.h. die Reihe in (4) konvergiert absolut. Lemma 1.11 impliziert nun, dass exp(M )
wohldefiniert ist.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
6
Analytizität: Wir betrachten die Funktion R 3 t 7→ E(t) := exp(tM ). Weiter
seien Eij (t) die Einträge der Matrix E(t). Wenn (M k )ij die Einträge der Matrix M k
bezeichnet, dann ist
∞
X
(M k )ij k
Eij (t) :=
t .
(7)
k!
k=0
Die Wohldefiniertheit von exp(tM ) impliziert die Konvergenz der Reihe (7) für jedes
t ∈ R. Aber dann ist die Funktion Eij analytisch.
Ableitung: Die Ableitung einer Potenzreihe ist die Reihe der Ableitungen. Deshalb ist
∞
X
(M k )ij k−1
0
t .
(8)
Eij (t) =
k
k!
k=1
Nun schreiben wir die Identität (8) wie folgt um:
∞
∞
∞
X
X
M k−1 k−1
M k k−1 X
M k−1 k−1
0
=M·
t
=
t
t
E (t) =
M·
(k
−
1)!
(k
−
1)!
(k
−
1)!
k=1
k=1
k=1
= M·
∞
X
Mj
j=0
j!
tj = M E(t) .
(9)
Matrixwertige Funktionen werden als Vektorfunktionen behandelt: Die Ableitung ist
einfach eine Matrixfunktion, deren Einträge die Ableitungen der Koeffizienten der
ursprünglichen Funktion sind. Deswegen gilt die Leibniz-Regel auch für Produkte
von Matrizen und Vektoren. Sei v0 ∈ Rn und v(t) := [exp(tM )] · v0 Dann folgt:
d
0
[exp(tM )] · v0 = (M · exp(tM )) · v0 = M · (exp(tM ) · v0 ) = M · v(t) .
v (t) =
dt
Korollar 1.12. Die Funktion t 7→ [exp(tM )] · v0 löst das Anfagswertproblem
(
v0 = M · v
v(0) = v0 .
(10)
Beweis. Satz 1.9 impliziert v 0 (t) = M · v(t). Zudem ist v(0) = [exp(0 · M )] · v0 =
[exp 0] · v0 = Id · v0 = v0 .
Vermutung 1. v(t) = exp (tM ) · v0 ist die einzige Lösung von (10).
Diese Vermutung werden wir später beweisen; sie ist eine Konsequenz des Eindeutigkeitsatzes 1.32.
Beispiel 1.13. Sei M ∈ R1×1 , d.h. M = c und wir setzen v := y, v0 := y0 , wobei
y : I → R und y0 ∈ R. In diesem Fall ist (10) einfach
(
(
0
v =M ·v
y 0 = cy
⇐⇒
(11)
v(0) = v0
y(0) = y0 .
Ausserdem ist v(t) = exp tM · v0 ⇔ y(t) = ect · y0 . Wir haben schon gesehen, in
Analysis I, dass ect y0 die einzige Lösung von (11) ist. Also ist Vermutung 1 in diesem
Fall richtig.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Beispiel 1.14. Sei n = 2 und A :=
Dann ist
7
0 1
.
−1 0
(
v10 = v2
v20 = −v1 .
Wir bemerken, dass
0
A = Id,
1
A = A,
2
0 1
0 1
−1 0
·
=
= −Id,
0 −1
−1 0
−1 0
A =
A3 = A2 · A = −A,
A4 = A3 · A = −A · A = Id.
Deswegen ist
X
∞
∞
∞
X
tk k X t2i
t2i+1
0 t
i
exp (tA) = exp
=
A =
(−1) Id +
(−1)i A
−t 0
k!
(2i)!
(2i
+
1)!
i=0
i=0
k=0
cos t sin t
=
.
− sin t cos t
Daraus folgt nun auch,
v1 (t)
cos t sin t
c1
c1 cos t + c2 sin t
= v(t) = exp (t · A) · v0 =
·
=
v2 (t)
− sin t cos t
c2
c1 sin t + c2 cos t
und somit ist v1 (t) = c1 cos t+c2 sin t. Wir haben wieder die Formel für die Lösungen
der Differentialgleichung v100 = −v1 gefunden, die wir in der Vorlesung Analysis I
schon gesehen haben.
1.3
Das Theorem von Picard-Lindelöf
Wir betrachen nun das “Anfangswertproblem”
 0
 γ (t) = F (t, γ(t))

(12)
γ(t0 ) = x0 ,
d.h. ein System von gewöhnlichen Differentialgleichungen mit der zusätzlichen Bedingung, dass die Lösung einen bestimmten Wert zu einem bestimmten Zeitpunkt
annimmt. Die Unbekannte ist die Abbildung γ : I → Rn , wobei I ein Intervall mit
t0 ∈ I ist. Die Abbildung F : I × Rn → Rn heisst auch Vektorfeld.
Beispiel 1.15. Wenn F (t, x) = M ·x mit M ∈ Rn×n ist, dann ist (12) ein homogenes
lineares System mit konstanten Koeffizienten.
Manchmal ist die Funktion F nur auf einer Teilmenge I × D ⊂ I × Rn definiert.
Dann macht das System (12) nur dann Sinn, wenn der Wertebereich der Unbekannten γ in D enthalten ist. Das ist aber nur dann möglich, wenn x0 ∈ D. In diesem
Kapitel werden wir sehen, dass die Lipschitz-Stetigkeit von F die Existenz einer
Lösung von (12) garantiert. Dieser berühmte Satz heisst Satz von Picard-Lindelöf.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
8
Satz 1.16 (von Picard-Lindelöf (allgemeine Form)). Sei J ⊂ R ein Intervall
und D ⊂ Rn eine offene Teilmenge. Sei weiter (t0 , x0 ) ∈ J ×D und F : J × D → Rn
eine Lipschitz-stetige Funktion. Dann ∃ α ∈ R mit α > 0, so dass das Anfangswertproblem
0
x (t) = F (t, x(t))
(13)
x(t0 ) = x0
auf [t0 − α, t0 + α] ∩ J eine eindeutige Lösung hat.
Die Lösung des Satzes 1.16 ist eine “lokale” Lösung, weil ihr Definitionsbereich
kleiner als der Definitionsbereich von F sein kann.
Beispiel 1.17. Wir betrachten folgendes Anfangswertproblem:
(
y 0 (t) = t y 2 (t)
y(0) = y0 .
Falls y(0) 6= 0 ist, so hat die (einzige!) Lösung folgende Gestalt und den folgenden
Definitionsbereich:
r r
2
2
1
,
.
→ R mit y(t) = 1
y: −
t2
y0
y0
−
y
2
0
Es gibt also keine Lösung auf ganz R.
Die Funktion F ist nicht Lipschitz-stetig. Aber wenn wir F auf D := B1 (y0 )
einschränken, dann ist diese Einschränkung Lipschitz-stetig. Satz 1.16 garantiert
dann die Existenz einer Lösung auf einem Interval [−α, α].
Wenn die Abbildung F auf dem ganzen Bereich J × Rn definiert und Lipschitzstetig ist, dann gibt es eine “globale” Lösung, wie das folgende Korollar zeigt:
Korollar 1.18 (Picard-Lindelöf (globale Lösung)). Seien D, J, t0 und F wie
in Satz 1.16. Falls D = Rn ist, dann gibt es eine eindeutige Lösung von (13) auf
dem ganzen Intervall J.
Dieses Korollar werden wir später beweisen, nachdem wir die Eindeutigkeit der
Lösungen untersucht haben. In diesem Kapitel beweisen wir Satz 1.16, aber dazu
brauchen wir einige Definitionen und Lemmata.
Wir erinnern uns an die Definitionen eines metrischen Raums, einer konvergenten
Folge und einer Cauchy-Folge.
Definition 1.19. Sei X eine Menge und d : X × X → [0, ∞[ mit
(i) d(x, y) ≥ 0 und d(x, y) = 0 ⇔ x = y
(ii) d(x, y) = d(y, x)
(iii) d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z).
Dann heisst die Abbildung d Metrik und das Paar (X, d) metrischer Raum.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
9
Beispiel 1.20 (Metrik auf dem Raum der stetigen Funktionen). Sei K ⊂ Rn
eine kompakte Menge und C(K, Rm ) die Menge der stetigen Funktionen f : K →
Rm . Wir definieren auf diesem Raum eine Norm durch
kf kC(K) := max |f (t)|.
t∈K
Desweiteren definieren wir mithilfe dieser Norm die Metrik
d(f, g) := kf − gkC(K) .
Dann ist (C(K, Rm ), d) ein metrischer Raum.
Definition 1.21. Sei (X, d) ein metrischer Raum und {gn }n∈N ⊂ X eine Folge.
Dann definieren wir folgende Begriffe:
• {gk }k∈N heisst Cauchy-Folge genau dann, wenn
∀ ε > 0,
∃ N ∈ N,
so dass
d(gn , gm ) < ε ∀ n, m ≥ N .
• {gk }k∈N konvergiert gegen g genau dann, wenn limk→∞ d(gk , g) = 0.
• A ⊂ X ist abgeschlossen genau dann, wenn der Limes jeder konvergenten
Folge {gn }n∈N ⊂ A zu A gehört.
Bemerkung 1.22. Eine konvergente Folge ist immer eine Cauchy-Folge. Aber die
Umkehrung dieser Aussage ist im Allgemeinen falsch.
Definition 1.23. Ein metrischer Raum heisst vollständig, falls jede Cauchy-Folge
konvergiert.
Bemerkung 1.24. Jede abgeschlossene Teilmenge eines vollständigen metrischen
Raumes ist selbst wieder ein vollständiger metrischer Raum.
Lemma 1.25. Wenn K ⊂ Rn eine kompakte Menge ist, dann ist C(K, Rm ) ein
vollständiger metrischer Raum.
Beweis. Sei {gk } ⊂ C(K, Rm ) eine Cauchy-Folge und x ∈ K. Betrachte
|gk (x) − gj (x)| ≤ max |gk (y) − gj (y)| = kgk − gj kC(K) .
y∈K
Deswegen ist {gk (x)}k eine Cauchy-Folge in Rm . Die Vollständigkeit des Euklidischen
Raumes impliziert die Existenz des Limes
Rm 3 g(x) := lim gk (x) .
k→∞
Wir behaupten nun, dass {gk } gleichmässig gegen g konvergiert: Sei ε > 0 gegeben.
Die Cauchy-Eigenschaft impliziert die Existenz einer Zahl N ∈ N, so dass
kgk − gj kC(K) <
ε
2
∀k, j ≥ N .
(14)
Sei nun x ∈ K und k ≥ N . Dann ist
(14)
|g(x) − gk (x)| = lim |gj (x) − gk (x)| ≤ lim sup kgj − gk kC(K) ≤
j→∞
j→∞
ε
,
2
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
10
und somit ist
sup |g(x) − gk (x)| < ε
∀k ≥ N .
x∈K
Dies beweist die gleichmässige Konvergenz der Folge {gk }. In der Vorlesung Analysis I haben wir gesehen, dass der Limes einer gleichmässigen konvergenten Folge
stetiger Funktionen wieder stetig ist. Deswegen g ∈ C(K, Rm ) und der Satz ist damit
bewiesen.
Um Satz 1.16 zu beweisen, brauchen wir noch einen wichtigen Satz, den wir
schon in der Vorlesung Analysis II bewiesen haben.
Satz 1.26 (Banachscher Fixpunktsatz). Sei (X, d) ein vollständiger metrischer
Raum und c : X → X eine Kontraktion, d.h. es gibt eine Konstante α ∈ [0, 1[, so
dass d(c(x), c(y)) ≤ α d(x, y) ∀ x, y ∈ X. Dann gilt: c besitzt einen eindeutigen
Fixpunkt, d.h. eine eindeutige Stelle x ∈ X, die die Gleichung c(x) = x löst.
Beweis. Wir erinnern uns an die Kernidee des Beweises: Wir wählen y0 ∈ X und
definieren rekursiv die Folge yn := c(yn−1 ). Dann nutzen wir die Kontraktionseigenschaft, um zu zeigen, dass {yn } eine Cauchy-Folge ist: Der Grenzwert der Folge ist
dann der (eindeutige!) Fixpunkt von c.
Beweis von Satz 1.16.
(i) Voraussetzungen:
• ∃ a, b > 0, so dass R := ([t0 −a, t0 +a]∩J)×Bb (x0 ) ⊂ J ×D kompakt ist.
Die Aussage ist klar, wenn t0 im Inneren von J liegt. Sonst haben wir
J = [t0 , d[ oder J =]c, t0 ], aber auch in diesem Fall ist die Aussage einfach
zu beweisen.
• F Lipschitz ⇒ ∃ L > 0, so dass kF (t, x) − F (t, y)k < L kx − yk
∀ (t, x), (t, y) ∈ R
• R kompakt und F stetig ⇒ ∃ M > 0, so dass kF (t, x)k ≤ M
R.
∀ (t, x) ∈
(ii) Definitionen:
1
}
• α := min{a, Mb , 2L
• I := [t0 − α, t0 + α] ∩ J;
• X := C(I, Bb (x0 )) ist die Menge der stetigen Funktionen mit Definitionsbereich I und mit Wertebereich in Bb (x0 );
• Wir definieren die Abbildung T : X → X wie folgt:
Z t
T (y)(t) := x0 +
F (τ, y(τ ))dτ ∀ y ∈ X,
t0
Wir behaupten:
(a) X ist eine abgeschlossene Teilmenge von C(I, Rn );
(b) T : X → X ist eine Kontraktion.
∀t ∈ I .
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
11
Diese zwei Tatsachen und der Banachsche Fixpunktssatz implizieren die Existenz
eines Fixpunktes x von T . D.h. x : I → Bb (x0 ) ⊂ D ist eine stetige Funktion, so
dass
Z t
F (τ, x(τ )) dτ
x(t) = x0 +
∀t ∈ I .
(15)
t0
Da τ 7→ F (τ, x(τ )) eine stetige Funktion ist, folgt dass x eine C 1 -Funktion ist.
Wenn wir die Gleichung (15) ableiten, erhalten wir x0 (t) = F (t, x(t)) ∀t ∈ I, und
dies beweist, dass x eine Lösung des Anfangswertproblems (13) ist.
Beweis von (a). Sei {gk } eine Folge von Funktionen in X = C(I, Bb (x0 )) und
g eine stetige Funktion mit kgk − gkC(K) → 0. Ferner sei t ∈ I. Da gk (t) → g(t) und
Bb (x0 ) abgeschlossen ist, ist g(t) ∈ Bb (x0 ) und somit ist g ∈ X.
Beweis von (b). Zuerst zeigen wir die Wohldefiniertheit der Abbildung T . Sei
y ∈ X. Dann ist t 7→ T (y)(t) eine stetige Funktion. Ausserdem gilt:
Z t
kT (y)(t) − x0 k = F (τ, x(τ )) dτ ≤ |t − t0 |M ≤ αM ≤ b .
t0
D.h. die Werte der Abbildung T (y) sind in Bb (x0 ) enthalten. Also ist T (y) ∈ X.
T ist eine Kontraktion, denn: ∀ y, z ∈ X, ∀ t ∈ I gilt:
Z t
kT (y)(t) − T (z)(t)k =
F (τ, y(τ )) − F (τ, z(τ ))dτ t0
≤ α max kF (τ, y(τ )) − F (τ, z(τ ))k
τ ∈I
=
α L max ky(τ ) − z(τ )k
Lipschitz
τ ∈I
1
ky − zkC(I) .
≤
Def. von α 2
Wir schliessen, dass kT (y) − T (z)kC(I) ≤ 12 ky − zkC(I) .
Bemerkung 1.27. Der Beweis von Satz 1.16 liefert auch gleich eine konkrete Methode, um die Lösung per Algorithmus zu approximieren. Jedoch muss dabei bei jedem
Schritt integriert werden. Wir setzen y0 = x0 und ym+1 := T (ym ), d.h.
Z t
ym+1 (t) := x0 +
F (τ, ym (τ )) dτ.
t0
Dann konvergiert ym → x gleichmässig auf [t0 − α, t0 + α] ∩ J, wobei x die gesuchte
Lösung ist.
1.4
Eindeutigkeit und stetige Abhängigkeit
Wir erinnern uns an das folgende Lemma, das wir schon in der Vorlesung Analysis
I bewiesen haben:
Lemma 1.28. (von Gronwall) Sei f : [a, b[→ [0, +∞[ differenzierbar und c ≥ 0 eine
Konstante, so dass
f 0 (t) ≤ cf (t) ∀ t ∈ [a, b[, c > 0 .
(16)
f (t) ≤ f (a) exp(c(t − a)) ∀t ∈ [a, b[ .
(17)
Dann gilt:
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
12
Beweis. Sei
g(t) := f (t) exp(−c(t − a)) .
Dann ist
g 0 (t) = exp(−c(t − a))[f 0 (t) − cf (t)] ≤ 0 .
Also ist g(t) ≤ g(a) ∀ t ∈ [a, b]. Daraus folgt, f (t) exp(−c(t − a)) ≤ f (a).
Definition 1.29. Sei F eine Lipschitz-stetige Funktion. Dann definieren wir die
Lipschitz-Konstante wie folgt:
Lip(F ) := min {M ≥ 0 : |F (a) − F (b)| ≤ M |a − b|, ∀ a, b} .
Beispiel 1.30. Wir betrachten die Abbildung F : [−1, 1] → R mit F (x) := |x|. Dann
ist |F (x) − F (y)| ≤ |x − y|. Aber ∀ ε > 0, ∃ x, y : |F (x) − F (y)| ≥ (1 − ε)|x − y|.
Deshalb ist Lip(F ) = 1.
Satz 1.31. Sei F : [a, b] × D → Rn Lipschitz-stetig und seien g und f zwei Lösungen
von y 0 = F (t, y) auf [a, b]. Dann ist
|g(t) − f (t)| ≤ |g(τ ) − f (τ )| exp(Lip(F )|t − τ |)
∀ t, τ ∈ [a, b] .
(18)
Dieser Satz impliziert die Eindeutigkeit der Lösung von (13):
Korollar 1.32. Sei F Lipschitz-stetig und seien y, x zwei Lösungen von (13). Dann
ist x ≡ y.
Beweis. Aus (18) folgt, |f (t) − g(t)| ≤ |f (t0 ) − g(t0 )| exp(Lip(F )|t − t0 ) = 0.
Nun sind wir bereit, um auch Korollar 1.18 zu beweisen.
Beweis von Korollar 1.18. Wir betrachten die Menge L der Paare (K, y), so dass
• t0 ∈ K ⊂ J und K ein Intervall ist;
• y : K → Rn (13) löst.
Aus Satz 1.16 folgt, dass L 6= ∅. Seien nun (K1 , y 1 ), (K 2 , y 2 ) ∈ L. Auf der Menge
K1 ∩ K2 haben wir y1 = y2 wegen Korollar 1.32. Nun können wir auf dem Intervall
K1 ∪ K2 eine Funktion y wie folgt definieren: y = y1 auf K1 und y = y2 auf K2 .
y ist differenzierbar und löst (13) auf K1 ∪ K2 . Wir können deshalb eine maximale
Lösung auf dem Intervall
[
K :=
L
(L,y)∈L
definieren. Wir wollen nun zeigen, dass K = J ist. Nun haben wir folgende Möglichkeiten:
(i) das rechte Extremum b von K gehört nicht zu K, aber zu J;
(ii) das rechte Extremum b von K gehört zu K, aber ∃τ > b mit τ ∈ J;
(iii) das linke Extremum a von K gehört nicht zu K, aber zu J;
(iv) das linke Extremum a von K gehört zu K, aber ∃τ < a mit τ ∈ J.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
13
Wir untersuchen nur die Fälle (i) und (ii). (i) kann nicht sein: Wegen Satz 1.16
wissen, wir dass eine lokale Lösung x von x0 (t) = F (t, x(t)) auf [b − α, b + α] existiert
mit x(b) = y(b). Aber dann ist, wegen Korollar 1.32, x = y auf [b − α, b] ∩ K. Somit
finden wir eine Lösung von (13) auf K ∪ [b − α, b + α], aber das ist ein Widerspruch
zur Maximalität von K.
Für den Fall (ii) bemerken wir, dass die Funktion y Lipschitz-stetig und damit
auch gleichmässig stetig ist. Also gibt es eine stetige Fortsetzung ỹ von y auf K ∪{b}.
Wir behaupten nun, dass ỹ auch in b differenzierbar ist und dort ỹ 0 (b) = F (t, ỹ(b))
gilt. Der Satz von Lagrange (Mittelwertsatz) impliziert: ∀t ∈ K gibt es eine Stelle
ξ ∈]t, b[, so dass
ỹ(b) − ỹ(t) = ỹ 0 (ξ)(b − t) = F (ξ, y(ξ))(b − t) .
Wenn nun t → b, dann konvergiert ξ → b und damit auch F (ξ, y(ξ)) → F (b, ỹ(b)).
Dies beweist, dass ỹ differenzierbar ist und (13) löst. Aber auch dies ist ein Widerspruch zur Maximalität von K.
Beweis von Satz 1.31. Falls t ≥ τ ist, setzen wir α(s) := |f (τ + s) − g(τ + s)|2 und
sonst α(s) := |f (τ − s) − g(τ − s)|2 . Das Argument ist das gleiche wie im vorherigen
Beweis, daher nehmen wir an, dass t ≥ τ = 0. Dann ist
α0 (t)
2[f (t) − g(t)][f 0 (t) − g 0 (t)]
2[f (t) − g(t)][F (t, f (t))) − F (t, g(t)]
2|f (t) − g(t)||F (t, f (t)) − F (t, g(t))|
=
=
≤
F Lipschitz
≤
=
2|f (t) − g(t)| Lip(F )|f (t) − g(t)|
2 Lip(F )α(t) .
Aus dem Lemma von Gronwall folgt,
α(t) ≤ α(0) exp(2 Lip(F )t) .
Da α eine nicht-negative Funktion ist, folgt
p
p
|g(t) − f (t)| = α(t) ≤
α(0) exp(Lip(F )t) = |g(0) − f (0)| exp(Lip(F )t) .
Definition 1.33. Sei F : [a, b] × Rn → Rn Lipschitz-stetig und 0 ∈ [a, b]. Der Fluss
von F ist dann die Abbildung Φ : [a, b] × Rn → Rn mit Φ(t, x0 ) = y(t), wobei y die
eindeutige Lösung von (13) mit t0 = 0 ist.
Korollar 1.34. Φ ist stetig. Falls F beschränkt ist, dann ist Φ sogar Lipschitz-stetig.
Beweis. Seien {tk } und {xk } zwei Folgen mit tk → t and xk → x. O.B.d.A. nehmen
wir an, dass tk ≥ t ist. Dann ist
|Φ(tk , xk ) − Φ(t, x)| ≤ |Φ(tk , xk ) − Φ(tk , x)| + |Φ(tk , x) − Φ(t, x)|
Z tk
≤ |x − xk | exp(Lip(F )(tk − t)) +
|F (τ, Φ(τ, x))| dτ .
t
Da die Abbildung [a, b] 3 τ 7→ |F (t, Φ(τ, x))| stetig ist, besitzt sie ein endliches
Maximum. Daraus folgt, dass |Φ(tk , xk ) − Φ(t, x)| ≤ C(|x − xk | + |t − tk |), wobei
die Konstante C unabhängig von k ist. Wenn F beschränkt ist, so kann man die
Konstante C auch unabhängig von (x, t) wählen und dies beweist die LipschitzStetigkeit.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
14
Bemerkung 1.35. Ohne die Beschränktheit von F ist Φ nur lokal Lipschitz-stetig,
d.h. Φ|K ist Lipschitz-stetig für jede kompakte Menge K ⊂ [a, b] × Rn .
Korollar 1.36. Die Abbildung Φ(t, ·) : Rn → Rn ist umkehrbar ∀ t ∈ [a, b].
Beweis. Sei t ∈ R und Φ−1 (t, y0 ) := f (0), wobei f die eindeutige Lösung von
(
f 0 (τ ) = F (τ, f (τ ))
∀ τ ∈ [a, t]
f (t) = y0
ist. Zudem löst die Funktion f auch das Anfangswertproblem
(
f 0 (τ ) = F (τ, f (τ ))
∀ τ ∈ [a, t]
−1
f (0) = Φ (t, y0 ) .
Aber dieses Anfangswertproblem wird auch von τ 7→ Φ(τ, Φ−1 (t, y0 )) gelöst. Mit
Korollar 1.32 folgt, dass f (τ ) = Φ(τ, Φ−1 (t, y0 )). Wenn wir τ := t setzen, so ist
y0 = f (t) = Φ(t, Φ−1 (t, y0 )). Analog zeigt man, dass Φ−1 (t, Φ(t, y0 )) = y0 ist.
Zudem zeigt das letzte Argument auch die Stetigkeit von Φ−1 (t, ·).
Korollar 1.37. Φ−1 (t, ·) ist stetig.
Definition 1.38. Sei Ω ⊂ Rn eine Menge. Ein Homöomorphismus von Ω ist eine
stetige Abbildung ψ : Ω → Ω mit stetiger Umkehrung. Falls die Funktion ψ und ihre
Umkehrung C 1 -Funktionen sind, dann nennen wir ψ einen Diffeomorphismus.
Also ist Φ(t, ·) ein Homöomorphismus von Rn .
1.5
Differenzierbare Abhängigkeit
Satz 1.39. Sei F : [a, b] × Rn → Rn Lipschitz-stetig und differenzierbar mit stetigen
partiellen Ableitungen und sei 0 ∈ [a, b]. Dann ist der Fluss Φ von F differenzierbar
mit stetigen Ableitungen.
Wir halten fest, dass der obige Satz auch das folgende Korollar liefert:
Korollar 1.40. Sei F wie in Satz 1.39. Dann ist die Umkehrfunktion von Φ(t, ·)
auch eine C 1 -Abbildung. D.h. Φ(t, ·) ist ein Diffeomorphismus von Rn .
Satz 1.39 ist ein Korollar des folgenden Satzes:
Satz 1.41. Seien F und Φ wie oben. Dann existieren die partiellen Ableitungen von
Φ und sind stetig.
Um Satz 1.41 zu beweisen, brauchen wir das Theorem von Arzelá-Ascoli. Zuerst
führen wir aber die dafür notwendigen Begriffe ein.
Definition 1.42.
wir, dass
Sei {fk } eine Folge von Funktionen fk : Ω → Rn . Dann sagen
(1) {fk } gleichmässig beschränkt ist, wenn ∃ c ≥ 0, so dass |fk (x)| ≤ c ∀ x ∈ Ω
und ∀ k ∈ N.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
15
(2) {fk } gleichgradig stetig ist, wenn ∀ ε > 0, ∃ δ > 0, so dass |fk (x) − fk (y)| < ε
∀ k ∈ N und ∀ x, y mit |x − y| < δ.
Theorem 1.43. (Arzelá-Ascoli) Sei {fk } eine Folge von Funktionen mit fk : [a, b] → Rn ,
n
die gleichmässig beschränkt und gleichgradig stetig
ist. Dann
∃ f : [a, b] → R stetig
und eine Teilfolge {fkj } ⊂ {fk }, so dass limj→∞ fkj − f C([a,b]) = 0.
Beweis. Das Ziel ist, eine Cauchy-Teilfolge zu finden , d.h. {fkj } ⊂ {fk }, so dass
∀ ε > 0, ∃ N ∈ N mit
fk − fk <ε
∀ kj , ki > N .
(19)
j
i C([a,b])
Sei {q` }`∈N =: A ⊂ [a, b] dicht und abzählbar (begründen Sie die Existenz einer solchen Menge). Dann ist {fk (q` )} eine beschränkte Folge im Rn . Das CantorDiagonalargument (siehe Lemma A.1) garantiert die Existenz einer Teilfolge, so
dass
{fkj (qi )}
∀ qi ∈ A
(20)
konvergiert. Statt fkj schreiben wir der Einfachheit halber nur noch fk . Wir behaupten nun, dass diese neue Folge eine Cauchy-Folge ist. Dazu:
(i) Sei ε > 0 gegeben. Dann ∃ δ > 0, so dass |fk (x) − fk (y)| <
|x − y| < δ.
ε
3
∀k und ∀ x, y mit
(ii) Wegen der Dichtheit von A und der Kompaktheit von [a, b], ∃ A := {a1 , ..., aM } ⊂
A, so dass ∀ x ∈ [a, b], ∃ qi ∈ A mit |x − qi | < 2δ .
(iii) Da A endlich ist, ∃N , so dass |fk (qi ) − fh (qi )| <
ε
3
∀ k, h > N und ∀ qi ∈ A.
Sei nun x ∈ [a, b] gegeben. Wir wählen ein qi ∈ A mit |x − qi | ≤ 2δ . Für h, k > N
gilt dann:
|fk (x) − fh (x)| = |(fk (x0 ) − fk (qi )) + (fk (qi ) − fh (qi )) + (fh (qi ) − fh (x0 ))|
≤ |fk (x0 ) − fk (qi )| + |fk (qi ) − fh (qi )| + |fh (qi ) − fh (x0 )| < ε .
|
{z
} |
{z
} |
{z
}
< 3ε folgt aus (i)
< 3ε folgt aus (iii)
< 3ε folgt aus (i)
Daher schliessen wir, dass kfk − fh kC([a,b]) < ε ∀h, k > N , d.h. (19) ist gezeigt.
Bemerkung 1.44. Es gibt viele Verallgemeinerungen dieses Theorems. Wichtig ist,
dass das Theorem auch gilt, wenn fk : K → Rn und K ⊂ Rm kompakt ist.
Wir kommen nun zum Beweis von Satz 1.41. Da dieser Beweis viele Abschätzungen
enthält, werden wir die Euklidische Norm des Vektors v mit |v| statt kvk bezeichnen.
Beweis von Satz 1.41. Sei e ∈ Rn und sei dh,x (t) := Φ(t,x+he)−Φ(t,x)
mit h 6= 0, x ∈
h
Rn . Wir teilen den Beweis des Satzes in zwei Behauptungen auf:
Behauptung 1: ∀ t, x existiert der Limes limh→0 dh,x (t), t ∈ [a, b].
Behauptung 2: limh→0 dh,x (t) =
∂Φ
(t, x)
∂e
(a) Folgerung aus Gronwalls Lemma:
ist stetig in x und t.
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
16
|dh,x (t)| ≤ |e| exp(Lip(F )(t)).
Dabei ist {dh,x }h6=0 gleichmässig beschränkt, weil
kdh,x kC(I) = maxt∈I |dh,x (t)| ≤ |e| exp(Lip(F )(b − a)) .
|
{z
}
unabhängig von h
(b) Es ist
0
dh,x (t) = |F (t, Φ(t, x + he)) − F (t, Φ(t, x))|
h
|Φ(t, x + he)) − Φ(t, x))|
= Lip(F )|dh,x (t)|
≤ Lip(F )
h
≤ Lip(F )|e| exp(Lip(Φ)(b − a)) .
(21)
Zur Erinnerung: Die gleichmässige Stetigkeit bedeutet:
∀ ε > 0, ∃ δ > 0 : |τ − σ| < δ ⇒ |dh,x (τ ) − dh,x (σ)| < ε.
(22)
Nun ist
0
|dh,x (τ ) − dh,x (σ)| ≤ max dh,x (t) |τ − σ|
t∈[σ,τ ]
≤ {Lip(F )|e| exp(Lip(F )(b − a))}|τ − σ|.
Deshalb gilt (21) ⇒ (22) für δ :=
ε
.
Lip(F )|e| exp(Lip(F )(b−a))
Aus dem Satz von Arzelà-Ascoli folgt: ∀ {hk } mit hk →
eine Teilfolge
0 existiert
n
−→ 0. Wir
{hkj } und eine stetige Funktion d˜ : I → R , so dass dhkj ,x − d˜
C(I)
brauchen aber die Konvergenz der ganzen Folge {dhk ,x }. Dies erreichen wir jedoch
mit der folgenden Behauptung:
Behauptung 1bis : d˜ ist eindeutig, d.h. d˜ hängt nicht von den Folgen {hk } und
{hkj } ab.
Damit ist dann die Behauptung 1 bewiesen. Das Vorgehen für den Beweis von
Behauptung 1bis ist, eine gewöhnliche DGL für d˜ zu finden. Wir schreiben
F (t, Φ(t, x + he)) − F (t, Φ(t, x))
h
Φ(t, x + he) − Φ(t, x)
= dy F (t, Φ(t, x))
+ Fehlerh (t),
| {z }
h
d0h,x (t) =
(23)
=:y
wobei
lim max |Fehlerh (t)| = 0 .
h↓0
t
(24)
Die Abschätzung (24) folgt aus der Taylorentwicklung. Sei z := Φ(t, x + he) und
y := Φ(h, x). Dann ist
F (t, z) − F (t, y) = dF (t, y)(z − y) + hFehlerh (t) .
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
17
Wir benutzen nun die Fehlerabschätzung von Lagrange:
|h||Fehlerh (t)| ≤ |z − y| max kdF (t, w) − dF (t, y)k .
w∈[y,z]
Deswegen ist
|Φ(t, x + he) − Φ(t, x)|
max kdF (t, Φ(t, x + he)) − dF (t, Φ(t, x))k
t∈I
|h|
≤ C Lip(Φ) max kdF (t, Φ(t, x + he)) − dF (t, Φ(t, x))k .
Fehlerh (t) ≤
t∈I
Wegen der Stetigkeit von dF und Φ haben wir aber
lim max kdF (t, Φ(t, x + he)) − dF (t, Φ(t, x))k = 0 .
h↓0 t∈I
Wir integrieren (23) zwischen 0 und τ ∈ [a, b] und erhalten:
Z
Z τ
Z τ
0
dy F (t, Φ(t, x))dh,x (t)dt +
dh,x (t)dt =
dh,x (τ ) − dh,x (0) =
Fehlerh (t) dt .
0
0
0
τ
(25)
Aus (24) folgt
Z
τ
Fehlerh (τ ) dτ = 0 .
lim
h↓0
0
Sei nun {hk } eine Folge mit hk → 0, {hkj } eine konvergente Teilfolge (deren Existenz
vom obigen Argument garantiert ist) und d˜ : I → Rn die Abbildung, so dass kdhkj −
˜ C(I) −→ 0. Wir bemerken zudem, dass
dk
dh,x (0) =
Φ(0, x + he) − Φ(0, x)
(x + he) − x
=
= e.
h
h
˜ erhalten wir
Zusammen mit der gleichmässigen Konvergenz von dh,x (t) gegen d(t)
Z τ
˜
˜
˜
dy F (t, Φ(t, x))d(t)dt
d(τ ) − d(0) =
.
(26)
0
|
{z
}
stetig
(26) ist der Limes von (25). Das hat zur Folge, dass d˜ differenzierbar ist und
(
˜
d˜0 (t) = dy F (t, Φ(t, x))d(t),
˜ = e.
d(0)
(27)
˜ das AnfangswertDa x fixiert ist, setzen wir a(t) := dFy (t, Φ(t, x)). Dann löst d(t)
problem
0
z (t) = a(t) · z(t),
z(0) = e.
Da die Lösung eindeutig ist (siehe Korollar 1.32), folgt dass d˜ nicht von den Folgen
{hk } und {hkj } abhängt, d.h. Behauptung 1bis ist gezeigt.
∂Φ
Wir wollen nun die Behauptung 2, d.h. die Stetigkeit
∂Φ von ∂e∂Φzeigen. Wir fixieren
t und x. Um die Stetigkeit zu zeigen, müssen wir ∂e (t, x) − ∂e (τ, y) abschätzen,
˜ = ∂Φ (σ, x). Aus (27) folgt nun:
wobei (τ, y) ein anderer Punkt ist. Sei d(σ)
∂e
d̃0 (σ) = dy F (σ, Φ(σ, x))
|
{z
}
˜
d(σ)
|{z}
stetig⇒beschränkt stetig⇒beschränkt
⇒ d̃0 (σ)beschränkt .
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
18
Damit gilt:
Z t
∂Φ
(t, x) − ∂Φ (τ, x) = d̃0 (σ)dσ ≤ C|t − τ | ,
∂e
∂e
τ
(28)
und weiter
∂Φ
∂Φ
∂Φ
∂Φ
∂Φ
∂Φ
(t, x) −
≤ (t, x) −
+ (τ, x) −
(τ,
y)
(τ,
x)
(τ,
y)
∂e
∂e
∂e
∂e
∂e
∂e
(28)
∂Φ
∂Φ
(τ, y) .
(29)
≤ C 0 |t − τ | + (τ, x) −
∂e
∂e
¯
˜ ) − d(τ
¯ )|2 abschätzen. Dafür
Wir setzen d(σ)
:= ∂Φ
(σ, y) und wollen α(τ ) := |d(τ
∂e
¯
nutzen wir (27) und die entsprechende Differentialgleichung für d:
(
¯
d̄0 (σ) = dy F (σ, Φ(σ, y))d(σ),
¯ = e.
d(0)
O.B.d.A. sei τ ≥ 0. Dann gilt:
˜ − d(σ))(d
¯
˜
¯
2(d(σ)
y F (σ, Φ(σ, x))d(σ) − dy F (σ, Φ(σ, y))d(σ)
n
˜ − d(σ))
¯
˜
= 2(d(σ)
[dy F (σ, Φ(σ, x)) − dy F (σ, Φ(σ, y))] d(σ)
o
˜ − d(σ)]
¯
+dy F (σ, Φ(σ, y))[d(σ)
n
˜ − d(σ)|
¯
˜
≤ 2|d(σ)
kdy F (σ, Φ(σ, x)) − dy F (σ, Φ(σ, y))k|d(σ)|
o
˜ − d(σ)|
¯
+kdy F (σ, Φ(σ, y))k|d(σ)
(30)
˜ − d(σ)|
¯ 2
≤ 2kdy F (σ, Φ(σ, y)k|d(σ)
˜ − d(σ)|kd
¯
˜
+2|d(σ)
y F (σ, Φ(σ, x)) − dy F (σ, Φ(σ, y))k|d(σ)| .
(31)
α0 (σ) =
O.B.d.A. nehmen wir an, dass |y − x| = ε ≤ 1. Dann haben wir
max 2kdy F (σ, Φ(σ, y))k =: C1 < ∞ .
σ,y
Wir haben aber auch
˜
max |d(σ)|
=: C2 < ∞
σ,y
(dies ist eine Konsequenz des Lemmas von Gronwall) und setzen
M (ε)2 := max max kdy F (σ, Φ(σ, x)) − dy F (σ, Φ(σ, y))k .
|y−x|≤ε
σ
Deswegen ist
2 ˜
2
˜ − d(σ)|kd
¯
˜
¯ 2
2|d(σ)
y F (σ, Φ(σ, x)) − dy F (σ, Φ(σ, y))k|d(σ)| ≤ C2 |d(σ) − d(σ)| + M (ε) .
Nun setzen wir C := 2C1 + C22 . Wenn wir diese Abschätzungen in (31) nutzen, dann
2
folgt α0 (σ) ≤ Cα(σ) + M (ε)2 . Sei nun β(σ) := α(σ) + M C(ε) . Dann erhalten wir
(
β 0 (σ) = α0 (σ) ≤ Cβ(σ),
2
β(0) = M C(ε) .
1 GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
19
Aus dem Lemma von Gronwall folgt β(σ) ≤ β(0) exp(Cσ) für σ ≥ 0. Eine ähnliche
Abschätzung ergibt β(σ) ≤ β(0) exp(C|σ|) für alle σ ∈ [a, b]. Daher ist
2
2
2
∂Φ
(σ, x) − ∂Φ (σ, y) = α(σ) ≤ M (ε) exp(C|σ|) ≤ M (ε) exp(C(b − a)) .
∂e
∂e
C
C
Zusammenfassend gilt nun also: Für (t, x) und (τ, y) mit |y − x| ≤ ε haben wir
∂Φ
∂Φ
≤ C|t − τ | + CM (ε) exp(C(b − a)),
(t, x) −
(τ,
y)
(32)
∂e
∂e
wobei die Konstante C unabhängig von (τ, y) ist. Schliesslich folgt aus der Stetigkeit
von dF und Φ, dass
lim M (ε) = 0
ε↓0
und damit folgt aus (32):
∂Φ
∂Φ
lim (t, x) −
(τ, y) = 0 .
(τ,y)→(t,x) ∂e
∂e
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
2
20
Einführung in die Masstheorie von Lebesgue
2.1
Elementare Voraussetzungen
Definition 2.1. Ein abgeschlossenes Intervall I ⊂ Rn ist das Produkt von n
abgeschlossenen Intervallen in R:
n
Y
I = [a1 , b1 ] × [a2 , b2 ] × · · · × [an , bn ] =
[ai , bi ] .
i=1
Der Inhalt von I ist dann gegeben durch
n
Y
v(I) = (b1 − a1 ) · (b2 − a2 ) · · · · · (bn − an ) =
(bi − ai ) .
i=1
Wir sagen, I1 und I2 sind
• disjunkt, genau dann, wenn I1 ∩ I2 = ∅;
• nicht überlappend, genau dann, wenn I1 ∩I2 keine inneren Punkte besitzt, d.h.
◦
(I1 ∩ I2 ) = ∅ (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Sich nicht überlappende Intervalle in R2 .
Beispiel 2.2. Auf R sind
• [0, 1] und [2, 3] disjunkt;
• [0, 1] und [1, 2] nicht überlappend.
Wir bemerken nun eine elementare Tatsache, die wir nicht beweisen werden.
Dieser Satz ist in einer Dimension jedoch leicht zu beweisen.
Satz 2.3. Sei I 0 ein abgeschlossenes Intervall. Sei I1 , · · · , IN eine Familie von
abgeschlossenen Intervallen.
S
• Falls {Ij } eine Familie von sich nicht überlappenden Intervallen ist und N
i=1 Ii =
PN
0
0
I1 ∪ I2 ∪ · · · ∪ IN ⊂ I , dann gilt: i=1 v(Ii ) ≤ v(I ) (siehe Abbildung 2).
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
21
Abbildung 2: Intervalle wie im ersten Teil von Satz 2.3.
P
• Falls I 0 ⊂ I1 ∪ I2 ∪ . . . ∪ IN , dann gilt v(I 0 ) ≤ N
i=1 v(I) (in diesem Fall gilt
die Ungleichung auch dann, wenn sich die Intervalle Ij überlappen).
Eine andere elementare Tatsache, die eine sehr wichtige Rolle in der Lebesgueschen
Masstheorie spielt, ist die folgende Zerlegung von offenen Menge in sich nicht überlappende
abgeschlossene Intervalle.
Theorem 2.4 (“Whitney-Zerlegung”). Sei Ω ⊂ Rn eine offene Menge. Dann
existiert eine abzählbare Familie
S von abgeschlossenen sich nicht überlappenden Intervallen {Ii }i∈N , so dass Ω = i∈N Ii . Zudem kann man die Intervalle Ii so wählen,
dass sie Würfel sind (d.h. Ii = [xi1 , xi1 + `i ] × [xi2 , xi2 + `i ] × . . . × [xin , xin + `i ]).
Die Zerlegung, die wir im Beweis von Theorem 2.4 konstruieren, wird WhitneyZerlegung genannt (genauer: in der mathematischen Literatur nennt man eine ähnliche
Zerlegung Whitney-Zerlegung, wenn sie über eine zusätzliche Eigenschaft verfügt).
Beweis. Für k ∈ N definieren wir die folgende Familie von abgeschlossenen Intervallen:
)
( n Y ji ji + 1 , k
: (j1 , . . . , jn ) ∈ Zn
Fk :=
k
2
2
i=1
(in R2 zum Beispiel haben wir F0 = {[j, j + 1] × [l, l + 1], (j, l) ∈ Z2 }).
Nun definieren wir
I0 := {I ∈ F0 : I ⊂ Ω}
I1 := {I ∈ F1 : I ⊂ Ω und I 6⊂ J ∀J ∈ I1 }
..
.
Ik := {I ∈ Fk : I ⊂ Ω und I 6⊂ J ∀J ∈ Ik } .
S
Schliesslich sei I := ∞
k=0 Ik . I besitzt dann die Eigenschaften, die wir wollen (in
Abbildung 3 sehen wir ein Beispiel einer offenen Menge in R2 und ihre WhitneyZerlegung).
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
22
Abbildung 3: Die Whitney-Zerlegung einer offenen Teilmenge von R2 .
Eine triviale Folgerung unserer Definitionen ist, dass die Intervalle von I sich
nicht überlappen. Wir behaupten nun, dass
[
I = Ω.
I∈I
Da I ⊂ Ω für jedes I ∈ I ist, genügt es zu zeigen, dass
[
I ⊃ Ω.
I∈I
Q
Sei x ein gegebenes Element in Ω. Dann ∃ε > 0, so dass ni=1 ]xi − ε, xi + ε[ ⊂ Ω.
Sei k die kleinste natürliche Zahl, so dass 2−k < ε. Dann gilt: ∀xi , ∃ji ∈ Z, so dass
xi ∈ [ 2jki , ji2+1
k ] ⊂]xi − ε, xi + ε[. Das impliziert, dass
Y
n n
Y
ji ji + 1
x∈
, k
⊂
]xi − ε, xi + ε[ ⊂ Ω .
k
2
2
i=1
i=1
Deshalb ∃I ∈ Fk mit x ∈ I ⊂ Ω. Sei nun k0 die kleinste natürliche Zahl,Sso dass ein
I ∈ Fk0 mit x ∈ Ik0 ⊂ Ω existiert. Dann ist I ∈ Ik0 ⊂ I. Daher ist x ∈ I∈I I.
Nun definieren wir den Abstand zwischen zwei Teilmengen eines Euklidischen
Raums.
Definition 2.5. Seien A, B ⊂ Rn . Dann ist der Abstand von A und B gegeben
durch
d(A, B) := inf |x − y| .
x∈A,y∈B
Bemerkung 2.6. Falls d(A, B) > 0 ist, dann folgt: A∩B = ∅, aber nicht umgekehrt.
Seien z.B. A = [0, 1[ und B = [1, 2]. Dann ist A ∩ B = ∅ und d(A, B) = 0.
Es ist auch wichtig zu bemerken, dass d keine Metrik ist. Zum Beispiel impliziert
d(A, B) = 0 nicht, dass A = B ist!
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
23
Satz 2.7. Seien A und B zwei kompakte Mengen. Dann gilt: A∩B = ∅ ⇔ d(A, B) >
0.
Beweis. Zuerst behaupten wir, dass das Infimum in Definition 2.5 im Falle kompakter Mengen ein Minimum ist. D.h. ∃x0 ∈ A, y0 ∈ B, so dass |x0 − y0 | = d(A, B). Der
Satz folgt aus dieser Behauptung, da x0 6= y0 und somit |x0 − y0 | > 0 ist.
Um die Behauptung zu beweisen, betrachten wir die Abbildung f : A × B ⊂
n
R × Rn → R, (x, y) 7→ |x − y|. Da f stetig ist und A × B kompakt, besitzt f ein
Minimum.
Bemerkung 2.8. Im obigen Beweis nutzten wir folgende wichtige Eigenschaft kompakter Mengen des Euklidischen Raumes:
(P) Seien A ⊂ Rn und B ⊂ Rm zwei kompakte Teilmengen. Dann ist A × B
ebenfalls kompakt.
Beweisen Sie (P)! (Hinweis: Nutzen Sie die Folgenkompaktheit).
Definition 2.9. Eine Folge {Ek } von Teilmengen in Rn heisst monoton, wenn
Ei ⊂ Ei+1 ∀i oder Ei ⊃ Ei+1 ∀i. Im ersten Fall definieren wir
E =:
∞
[
Ei
i=1
und schreiben dafür Ei ↑ E. Im zweiten Fall definieren wir
E :=
∞
\
Ei
i=1
und schreiben dafür Ei ↓ E.
Abbildung 4: Ei ↓ E und Ei ↑ E.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
24
Definition 2.10. Sei {Ei }i∈N eine Folge von Teilmengen des Rn . Dann definieren
wir den Limes superior und Limes inferior der Folge {Ei } wie folgt:
lim sup Ei :=
i→∞
Im ersten Fall haben wir
Fj ↑ lim inf Ei .
2.2
S
k≥j
Ek
j=1 k=j
lim inf Ei =
i→∞
∞ [
∞
\
∞ \
∞
[
Ek .
j=1 k=j
Ek =: Fj ↓ lim sup Ei und im zweiten Fall,
T
k≥j
Ek =:
Das äussere Lebesgue-Mass
Definition 2.11. Sei E ⊂ Rn . Eine abzählbare (bzw. endliche) Überdeckung von E
mit abgeschlossenen Intervallen ist eine Familie A := {Ij }j∈N (bzw. {Ij }j∈{0,...,N } )
S
S
von abgeschlossenenPIntervallen, so dass E ⊂ j∈N Ij (bzw. E ⊂ N
j=0 Ij ). Wir
definieren σ(A) := j∈N v(Ij ).
Wir bezeichnen mit U(E) die Menge der abzählbaren Überdeckungen von E mit
abgeschlossenen Intervallen. Dann definieren wir das äussere Lebesgue-Mass von E
wie folgt:
|E|e := inf σ(A).
(33)
A∈U (E)
Bemerkung 2.12. Die leere Menge hat äusseres
Lebesgue-Mass
0: Sei ε > 0. Wir
i
h √
√
nε n
nε
wählen die Überdeckung {I}, wobei I := − 2 , 2 . Dann ist ∅ ⊂ I und deshalb
{I} ∈ U(∅). Also folgt:
|∅|e ≤ v(I) = ε .
Da ε eine beliebige positive Zahl war, schliessen wir |∅|e = 0.
Wir beweisen nun, dass das äussere Lebesgue-Mass mit dem gewöhnlichen Inhalt
übereinstimmt, wenn E ein Intervall ist.
Satz 2.13. Sei I ein abgeschlossenes Intervall. Dann ist v(I) = |I|e .
Beweis. Es ist |I|e ≤ v(I), weil A = {I} eine Überdeckung aus U(I) mit σ(A) = v(I)
ist.
Sei nun A = {Ii }i∈J eine abzählbare Überdeckung von I mit abgeschlossenen
Intervallen. Sei ε > 0 eine gegebene reelle Zahl. Für jedes i ∈ J wählen wir ein
abgeschlossenes Intervall Ji , so dass
◦
• der innere Kern von Ji Ii enthält, d.h. Ii ⊂ Ji ;
• v(Ji ) ≤ (1 + ε)v(Ii ).
◦
Deswegen ist B := {J i }i∈J eine offene Überdeckung von I.
◦
Wegen der Kompaktheit von I gibt es eine endliche Teilüberdeckung {J k }k∈K ⊂
B. Aus Satz 2.3 folgt, dass
X
X
X
v(I) ≤
v(Jk ) ≤
v(Jj ) ≤ (1 + ε)
v(Ij ) = (1 + ε)σ(A) .
k∈K
j∈J
j∈J
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
25
Also ist
v(I) ≤ (1 + ε) inf σ(A) = (1 + ε)|I|e .
A∈U (I)
Da ε eine beliebige positive Zahl war, gilt v(I) ≤ |I|e .
Die Familien in U(E) sind entweder endlich oder abzählbar. Wenn wir auch die
leere Menge als Intervall betrachten, dann können wir annehmen, dass jede Familie
A ∈ U(E) die Gestalt {Ij }j∈N hat: Falls A eine endliche Menge ist, heisst das einfach,
dass Ij = ∅ für jedes j grösser als eine bestimmte Zahl N . Wegen Bemerkung 2.12
und Satz 2.13 ist es sinnvoll, v(∅) = 0 zu setzen. Daher werden wir in Zukunft jedes
Element A ∈ U(E) als {Ij }∞
j=1 darstellen.
Lemma 2.14. Sei I ein abgeschlossenes Intervall, dann ist |∂I|e = 0.
Beweis. Für jedes ε > 0 kann man eine endliche Überdeckung A von ∂I mit
abgeschlossenen Intervallen wählen, so dass σ(A) ≤ ε. Deswegen ist
|∂I|e =
inf
σ(A) = 0 .
A∈U (∂I)
Die Abbildung 5 zeigt, was dies in der zweidimensionalen Ebene bedeutet.
Abbildung 5: I ⊂ R2 : eine Überdeckung A ∈ U(I) mit σ(I) < ε.
Nun folgen die zwei wichtigsten Eigenschaften des äusseren Lebesgue-Masses:
Theorem 2.15.
(i) ( Monotonie) Für A ⊂ B gilt |A|e ≤ |B|e .
(ii) ( σ-Subaddivität oder auch abzählbare Subadditivität) Sei {Ai }i∈N eine abzählbare
Familie von Mengen, dann gilt:
N
N
[
X
|Ai |e
∀ N ∈ N ∪ {+∞}
Ai ≤
i=1
e
i=1
Beweis. Gehen wir der Reihe nach:
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
26
(i) ∀ ε > 0, ∃ eine Überdeckung {Ii }i∈N ∈ U(B) von B, so dass
X
υ(Ii ) < |B|e + ε
i∈N
(d.h. eine beinahe optimale Überdeckung). {Ii }i∈N überdeckt aber auch A und
deshalb:
X
|A|e ≤
υ(Ii ) < |B|e + ε .
i∈N
Da diese Ungleichung für jedes ε > 0 gilt, folgt:
|A|e ≤ |B|e .
(ii) Sei A =
dass
S∞
i=1
Ai . ∀ ε > 0, ∃ eine Überdeckung {Ii,j }j∈N ∈ U(Ai ) von Ai , so
∞
X
υ(Ii,j ) ≤ |Ai |e +
j=1
ε
.
2i
Weiter ist {Ii,j }i,j∈N eine Überdeckung von A, woraus folgende Abschätzung
folgt:
|A|e ≤
≤
∞ X
∞
X
υ(Ii,j )
(Doppelreihe von positiven Zahlen)
i=1 j=1
∞ X
i=1
∞
∞
∞
X 1
X
ε X
|Ai |e + ε
=
|Ai |e + ε .
|Ai |e + i =
2
2i
i=1
i=1
i=1
Da ε > 0 beliebig sein kann, gilt:
|A|e ≤
∞
X
|Ai |e .
i=1
Der unendliche Fall ist somit gezeigt. Der endliche Fall N < ∞ kann aber
darauf zurückgeführt werden: Wir setzen dann einfach Ai := ∅ ∀ i > N .
Bemerkung 2.16 (Unabhängigkeit vom Koordinatensystem).
Wie wir später zeigen werden, ist |E|e vom Koordinatensystem unabhängig. D.h.,
falls A : Rn → Rn eine Isometrie ist, dann ist |E|e = |A(E)|e ∀E ⊂ Rn .
2.3
Lebesgue-Messbarkeit
In diesem Kapitel definieren wir eine spezielle Klasse von Teilmengen des Rn : die
messbaren Mengen. Zuerst beweisen wir aber einige allgemeine Eigenschaften des
äusseren Lebesgue-Masses.
Theorem 2.17. ∀ E ⊂ Rn und ∀ ε > 0, existiert eine offene Menge G ⊂ Rm mit:
(i) E ⊂ G;
(ii) |G|e < |E|e + ε.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
27
Beweis. Sei ε > 0 gegeben. Dann gibt es eine Überdeckung {Ij } ∈ U(E), so dass
∞
X
v(Ij ) < |E|e +
j=1
ε
.
2
Für jedes j wählen wir ein zweites Intervall Ij? mit der Eigenschaft, dass der offene
◦
Kern Ij? das Intervall Ij enthält und v(Ij? ) ≤ v(Ij ) + 2−(j+1) ε. Die Menge
G :=
∞
[
◦
Ii?
i=1
ist dann offen und enthält E. Ausserdem ist {Ij? } eine Überdeckung von G. Deswegen
ist
∞
∞
∞
X
X
ε X −i
ε ε
?
|G|e ≤
v(Ii ) ≤
v(Ii ) +
2 < |E|e + + = |E|e + ε .
2 i=1
2 2
i=1
i=1
Definition 2.18. Eine Menge A ⊂ Rn heisst
T∞ Gδ -Menge, falls sie der abzählbare
Durchschnitt offener Mengen ist, d.h. A = i=1 Gi mit Gi offen ∀i ∈ N.
Bemerkung 2.19.
auch abgeschlossen sein. Dazu folgendes
T Eine solche Menge kann
n
1 (x), wobei x ∈ R
B
Beispiel: {x} = ∞
i=1
i
Korollar 2.20. ∀ E ⊂ Rn existiert eine Gδ -Menge A, so dass E ⊂ A und |E|e =
|A|e .
Beweis. Sei k ∈ N \ {0}. Wir wenden Satz 2.17 mit ε = k1 an und
T∞wählen eine offene
1
Menge Gk mit E ⊂ Gk und |Gk |e ≤ |E|e + k . Sei nun A := k=1 Gk . Dann ist A
eine Gδ -Menge. Zudem gilt E ⊂ A und A ⊂ Gk ∀ k ∈ N. Aufgrund der Monotonie
des äusseren Lebesgue-Masses folgt nun:
|E|e ≤ |A|e ≤ |Gk |e ≤ |E|e +
1
k
∀k ∈ N.
Also ist |E|e = |A|e .
Seien nun E und A wie in Korollar 2.20. Folgt dann, dass |A \ E|e = 0? Die
Antwort ist “nein”: Es gibt Mengen A, für die diese Aussage falsch ist. Dies geht
jedoch gegen unsere Intuition. Deswegen definieren wir die messbaren Mengen.
Definition 2.21. Eine Menge E ⊂ Rn heisst Lebesgue-messbar, falls es ∀ ε > 0
eine offene Menge G ⊂ Rn gibt mit E ⊂ G und |G \ E|e < ε.
Eine offene Menge E ist sicher messbar, weil wir G := E wählen können und
damit ist |G \ E|e = |∅|e = 0.
Korollar 2.22. Für jede messbare Menge E, existiert eine Gδ -Menge A mit E ⊂ A
und |A \ E|e = 0.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
28
Beweis. Die Vorgehensweise ist ähnlich zu der im Beweis von Korollar 2.20:
Sei E messbar, ε := k1 , k ∈ N \ {0}.TDann existiert eine offene Menge Gk , so dass
E ⊂ Gk und |Gk \ E|e < ε. Sei A := ∞
k=1 Gk , dann ist A eine Gδ -Menge und E ⊂ A.
Weiter gilt: A \ E ⊂ Gk \ E, woraus mithilfe der Monotonie folgt:
0 ≤ |A \ E|e ≤ |Gk \ E|e ≤
1
.
k
Deshalb ist |A \ E|e = 0.
Bemerkung 2.23. Zusammenfassend gilt nun also folgendes:
(a) Für eine beliebige Menge E ⊂ Rn existiert eine Gδ -Menge A mit E ⊂ A und
|E|e = |A|e .
(b) Für eine messbare Menge M ⊂ Rn existiert eine Gδ -Menge A mit M ⊂ A
und |A \ M |e = 0. Daraus folgt dann auch die obige Eigenschaft (d.h. dies eine
bessere Art der Approximation ist):
|M |e ≤ |A|e = |(A ∩ M ) ∪ (A \ M )|e ≤ |A ∩ M |e + |A \ M |e
| {z }
=0
=| A
| ∩
{zM} |e ≤ |M |e .
⊂M
Also folgt |M |e = |A|e .
(c) Wir betrachten die folgende Eigenschaft für A, B ⊂ Rn :
A ∩ B = ∅ =⇒ |A ∪ B|e = |A|e + |B|e .
(34)
Würde diese Eigenschaft für jede beliebige Menge gelten, dann wäre jede Menge
E ⊂ Rn messbar, denn:
Seien E, A wie in (a). Dann würde gelten:
|A|e = |A ∩ E|e + |A \ E|e = |E|e + |A \ E|e
=⇒ |A \ E|e = 0 .
Tatsache aber ist, dass es nicht messbare Mengen gibt, d.h. Mengen, die (34)
nicht erfüllen, was jedoch erneut gegen die Intuition geht!
Wir werden später sehen, dass die Eigenschaft (34) für A und B stimmt, wenn
sie messbar sind. Es ist nun Zeit, um die zwei Haupttheoreme der Lebesgueschen
Masstheorie zu formulieren.
Haupttheorem 2.24. Sei M ⊂ P(Rn ) die Menge der messbaren Teilmengen des
Rn . Dann gilt:
(a) {Ai }i∈N ⊂ M ⇒
∞
S
Ai ∈ M;
i=1
(b) A ∈ M ⇒ Ac = Rn \ A ∈ M;
(c) A ⊂ Rn offen ⇒ A ∈ M.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
29
Definition 2.25. Sei X eine Menge und A eine Teilmenge von P(X). Man nennt
A eine σ-Algebra, falls ∅ ∈ A, (a) und die Eigenschaft (b) des Haupttheorems 2.24
erfüllt sind:
(b) E ∈ A =⇒ X \ A ∈ A.
Daher ist die folgende Formulierung äquivalent zum Haupttheorem 2.24:
Theorem 2.26. Die Menge M ⊂ P(Rn ) ist eine σ-Algebra, die die offenen Mengen
des Rn enthält.
Das zweite Haupttheorem behauptet die σ-Addivität des äusseren LebesgueMasses, wenn es auf die Lebesgue-messbaren Mengen eingeschränkt wird.
Haupttheorem 2.27. Sei {Ai }i∈N ⊂ Rn eine abzählbare Familie disjunkter Mengen, d.h. Ai ∩ Aj = ∅ für i 6= j. Dann gilt die σ-Additivität:
∞ ∞
[ X
|Ai |e .
Ai =
i=1
e
i=1
Definition 2.28. Die Einschränkung des äusseren Lebesgue-Masses |·|e auf die σAlgebra M heisst Lebesgue-Mass. Wir schreiben dafür |·|.
S
Beweis von Teil (a) des Haupttheorems 2.24. Seien {Ek }k∈N ⊂ M, E := ∞
k=1 Ek
und ε > 0 gegeben.
Das Ziel ist, eine offene Menge G zu finden, so dass E ⊂ G und |G \ E|e < ε.
Für jede Menge Ek existiert eine offene Menge
S∞ Gk , so dass Ek ⊂ Gk und |Gk \ Ek |e <
ε
. Nun definieren wir die Menge G := k=1 Gk , welche offen ist. Dann gilt E ⊂ G.
2k
Wir wollen nun |G \ E|e abschätzen. Es gilt:
G\E ⊂
∞
[
k=1
(Gk \ E) ⊂
∞
[
Gk \ Ek .
k=1
Aus der Subadditivität folgt nun:
∞
[
∞
X
1
|G \ E|e ≤
|Gk \ Ek |e < ε
= ε.
k
2
k=1
k=1
Beweis von Teil (c) des Haupttheorems 2.24. Sei E offen und ε > 0 gegeben. Wie
schon bemerkt, genügt es G := E zu setzen. G ist dann offen, E ⊂ G und
|G \ E|e = |∅|e = 0 .
Für den Beweis von Teil (b) des Haupttheorems 2.24 benötigen wir noch einige
weitere Aussagen.
Satz 2.29. Sei E ⊂ Rn eine Lebesgue-Nullmenge, d.h. |E|e = 0, dann ist E
messbar.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
30
Beweis. Sei E ⊂ Rn beliebig mit |E|e = 0. Dann existiert für jedes ε > 0 eine offene
Menge G, so dass E ⊂ G und |G|e < |E|e + ε. Dann gilt:
|G \ E|e ≤ |G|e < ε .
Daraus folgt nun die Messbarkeit einer beliebigen Lebesgue-Nullmenge E.
Korollar 2.30. Jedes abgeschlossene Intervall ist messbar.
◦
◦
Beweis. Sei I = I ∪ ∂I. Dann ist I messbar, weil der offene Kern einer Menge offen
ist. ∂I ist messbar, weil |∂I|e = 0. Aus Teil (a) des Haupttheorems 2.24 folgt nun,
dass I messbar ist.
Lemma 2.31. [Caratheodory-Eigenschaft] Falls d(E1 , E2 ) > 0 ist, dann ist
|E1 ∪ E2 |e = |E1 |e + |E2 |e .
Beweis. Wegen der Subadditivität von |·|e ist |E1 ∪ E2 |e ≤ |E1 |e + |E2 |e . Das Ziel
ist nun, die umgekehrte Ungleichung zu beweisen:
|E1 ∪ E2 |e ≥ |E1 |e + |E2 |e .
Sei ε > 0 gegeben. Dann existiert eine Überdeckung {Ii } mit abgeschlossenen Intervallen, so dass
X
X
v(Ii ) =
|Ii | < |E1 ∪ E2 |e + ε .
Wir nehmen o.B.d.A an, dass D(Ii ) < d(E1 , E2 ), wobei
D(Ii ) = max{|x1 − x2 | : x1 , x2 ∈ I} .
(Falls D(Ii ) ≥ d(E1 , E2 ) wählen wir N ∈ N mit N −1 D(Ii ) < d(E1 , E2 ) und teilen Ii
in N m sich nicht überlappende Intervalle mit Seitenlänge = N1 mal die Seiten von
Ii .)
Sei also D(Ii ) < d(E1 , E2 ) für jedes Ii , dann gilt:
• E1 ∩ Ii 6= ∅ ⇒ E2 ∩ Ii = ∅,
• E2 ∩ Ii 6= ∅ ⇒ E1 ∩ Ii = ∅.
Wir definieren
J˜ := {i : Ii ∩ E1 6= ∅} und J¯ := {i : Ii ∩ E2 6= ∅} .
Dann ist J¯∩ J˜ = ∅ und {Ij }j∈J˜, {Ij }j∈J¯ sind Überdeckungen von E1 und E2 . Deswegen haben wir
|E1 |e + |E2 |e ≤
X
j∈J˜
v(Ij ) +
X
j∈J¯
v(Ij ) ≤
∞
X
v(Ii ) ≤ |E1 ∪ E2 |e + ε .
i=1
Da ε belibig war, folgt |E1 ∪ E2 |e ≥ |E1 |e + |E2 |e .
Korollar 2.32. Sei {Ii } eine
S abzählbare Familie
S von sich
P nicht überlappenden abgeschlossenen Intervallen. Dann ist Ii messbar und | Ii | = |Ii |
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
31
Beweis. Die Messbarkeit S
folgt aus S
Teil (a) des
2.24. Wegen der SubP Haupttheorems
P
additivität von | · |e ist | Ii | = | Ii |e ≤
|Ii |e =
|Ii | . Wir müssen also nur
noch die umgekehrte Ungleichung zeigen, d.h.
N
[ X
X
|Ii | .
|Ii | = lim
Ii ≥
N →+∞
i=1
Es genügt aber, die Ungleichung
N
[ X
|Ii |
Ii ≥
∀N ∈ N \ {0}
(35)
i=1
zu beweisen. Sei nun ε > 0 gegeben. Wir wählen Ii? ⊂ Ii mit
d(Ii? , ∂Ii ) > 0 ,
und so dass
|Ii? | ≥ |Ii | − ε .
Für i 6= j ist dann d(Ii? , Ij? ) > 0. Wir wenden nun die Caratheodory-Eigenschaft
N -mal rekursiv an:
N N
N
[ [
X
X
?
?
|Ii | ≥
|Ii | − N ε .
Ii ≥ Ii =
i=1
i=1
i=1
Da ε eine beliebige positive Zahl war, folgt (35).
Satz 2.33. Jede abgeschlossene Menge ist messbar.
Beweis. Zuerst beweisen wir die Messbarkeit kompakter Mengen. Sei also K kompakt. Dann gilt: ∀ε > 0, ∃G offen, so dass K ⊂ G und |G|e ≤ |K|e + ε. Da G \ K
offen ist, existiert eine Whitney-Zerlegung von G \ K, d.h.
G\K =
∞
[
Ii ,
i=1
wobei {Ij } eine Familie von sich nicht überlappenden Intervallen ist. Mit KorolP
SN
lar 2.32 folgt, dass |G \ K| = ∞
i=1 |Ii |. Ausserdem sind
i=1 Ii und K kompakte
Mengen, daher gilt:
!
!
N
N
[
[
Ii ∩ K = ∅ ⇒ d
Ii , K > 0 .
i=1
i=1
Aus der Caratheodory-Eigenschaft folgt nun,
N
N
N
[
[
X
|G|e ≥ K ∪
Ii = |K|e + Ii = |K|e +
|Ii | .
i=1
i=1
e
i=1
Deswegen ist
N
X
|Ii | ≤ |G|e − |K|e ≤ ε
i=1
⇒ |G \ K| = lim
N ↑∞
N
X
i=1
|Ii | ≤ ε .
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
32
Zusammenfassend haben wir also gezeigt, dass K ⊂ G, wobei G offen ist und
|G \ K|e ≤ ε. Dies zeigt die Messbarkeit von K.
Sei nun E abgeschlossen. Dann ist E ∩ Bk (0) kompakt, also messbar. Zusammen
mit Teil (a) des Haupttheorems 2.24 folgt, dass
E=
∞
[
E ∩ Bi (0)
i=1
messbar ist.
Beweis des Haupttheorems 2.24 Teil (b). Sei E messbar. Dann gilt: ∀k ∈ N \ {0}
∃Gk offen mit E ⊂ Gk und |Gk \ E|e < k1 . Wir setzen Fk := Gck . Dann ist Fk
abgeschlossen und daher messbar. Weiter ist
!
∞
∞
[
[
Ec =
Fk ∪ E c \
Fk .
k=1
|
k=1
{z
:=N
}
Dank Haupttheorem 2.24 Teil (a) genügt es die Messbarkeit von N zu beweisen.
Nun ist
!
∞
∞
∞
∞
∞
∞
\
\
\
\
\
[
Gk \E =
Gk \E .
E c ∩Gk =
E c \Gck =
E c \Fk =
N = E c \ Fk =
k=1
k=1
k=1
k=1
k=1
k=1
Daher folgt |N |e = 0 und damit die Messbarkeit von N .
Wir schliessen dieses Kapitel mit einer Liste von Eigenschaften von M ab, die
aus den Teilen (a) und (b) des Haupttheorems 2.24 folgen (deswegen gelten diese
Eigenschaften für beliebige σ-Algebren!).
Theorem 2.34.
(a) ∅, Rn ∈ M.
S
(b) ∞
i=1 Ai ∈ M, wenn Ai ∈ M ∀i.
(c) Ac ∈ M, wenn A ∈ M.
(d) A ∩ B ∈ M, wenn A, B ∈ M.
T
(e) ∞
i=1 Ai ∈ M, wenn Ai ∈ M ∀i.
(f ) Ai ↑ A (bzw. Ai ↓ A) und Ai ∈ M ∀i ⇒ A ∈ M.
(g) A = lim inf i Ai , B = lim sup Ai und Ai ∈ M ∀i =⇒ A, B ∈ M.
Beweis. (a), (b) und (c) wissen wir schon. (d) folgt aus A ∩ B = ((A ∩ B)c )c =
(Ac ∪ B c )c und (e) wird ähnlich bewiesen. (f) folgt aus (b) und (e). (g) folgt aus
(f).
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
2.4
33
Das Lebesgue-Mass
Das Ziel dieses Kapitels ist das Haupttheorem 2.27 zu beweisen, d.h. die σ-Addivität
des Lebesgue-Masses:
(σ) Sei {Ai } ⊂ M eine abzählbare Familie disjunkter messbarer Mengen. Dann ist
∞ ∞
[ X
|Ai | .
(36)
Ai =
i=1
i=1
Definition 2.35. Sei X eine Menge und A ⊂ P(X) eine σ-Algebra. Eine Abbildung
µ : A → [0, +∞] heisst ein Mass auf A, falls µ(∅) = 0, µ(A) ≤ µ(B) für A ⊂ B
und µ σ-additiv ist, d.h. falls die Identität
!
∞
∞
[
X
µ
Ai =
µ(Ai )
i=1
i=1
für jede abzählbare Familie {Ai } ⊂ A disjunkter Mengen gilt.
Haupttheorem 2.27 besagt dann, dass das Lebesgue-Mass tatsächlich ein Mass
ist! Um dieses Theorem zu beweisen, brauchen wir das folgende Lemma:
Lemma 2.36. Sei E messbar. Dann gilt: ∀ε > 0, ∃F abgeschlossen, so dass F ⊂ E
und |E \ F | < ε.
Beweis. Sei ε > 0 gegeben. Da E c messbar ist, ∃G offen, so dass E c ⊂ G und
|G \ E c | < ε. Die gesuchte Menge ist dann F := Gc , welche abgeschlossen, in E
enthalten ist und E \ F = G \ E c . Deshalb ist
|E \ F | = |G \ E c | < ε .
Beweis von Haupttheorem 2.27. Seien {Ai } wie in (σ). Aus der Subadditivität des
äusseren Masses wissen wir schon, dass
∞
∞
[
X
|Ai |
Ai ≤
i=1
i=1
und somit brauchen wir nur die umgekehrte Ungleichung zu zeigen. Wir untersuchen
zuerst einen einfacheren Fall: Wir nehmen an, dass die Mengen Ai beschränkt sind.
Sei ε > 0 gegeben. Wir nutzen Lemma 2.36 und wählen für jede Menge Ai eine
abgeschlossene Menge Fi , so dass Fi ⊂ Ai und |Ai \ Fi | < ε2−i . Wir bemerken, dass
Fi kompakt ist: Da Fi ⊂ Ai ist Fi auch beschränkt. Wir haben
∞
[
Ai ⊃
i=1
∞
[
Fi ⊃
i=1
N
[
Fi .
i=1
Falls nun i 6= j ist, dann ist Fi ∩ Fj ⊂ Ai ∩ Aj = ∅. Wir können nun Lemma 2.31
anwenden:
∞
N
N
N
[
X
X
X
|Fi | ≥
|Ai | − ε
2−i ,
Ai ≥
i=1
i=1
i=1
i=1
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
34
wobei wir bei der letzten Ungleichung die Subadditivität des äusseren Masses benutzt haben. Nun ist
|Ai | ≤ |Fi | + |Ai \ Fi | ≤ |Fi | + ε2−i .
Da N beliebig war, schliessen wir
∞
∞
∞
∞
[
X
X
X
−i
|Ai | − ε
2 =
|Ai | − ε .
Ai ≥
i=1
i=1
i=1
i=1
Da ε auch eine beliebige positive Zahl war, haben wir die gesuchte Ungleichung:
∞
∞
X
[
|Ai | .
Ai ≥
i=1
i=1
Wir sind nun bereit, den allgemeinen Fall zu beweisen. Sei Ai beliebig. Wir setzen
Ai,1 := Ai ∩ B1 (0) und Ai,j := Ai ∩ Bj (0) \ Bj−1 (0), falls j > 1. Die Familie {Ai,j }i,j
ist dann eine abzählbare Familie disjunkter messbarer Mengen. Zudem ist
[
Ai =
Ai,j .
j
Da jede Menge Ai,j beschränkt ist, folgt mit dem ersten Teil dieses Beweises, dass
∞ !
[ X
X X
X
|Ai,j | =
|Ai,j | =
|Ai | .
Ai =
i=1
i,j
i
j
i
Wir fassen nun einige Eigenschaften des Lebesgue-Masses zusammen, welche alle
einfache Folgerungen der σ-Addivität sind:
Theorem 2.37.
• Falls A und B mit B ⊂ A zwei messbare Mengen sind und |B| < +∞, dann
ist |A \ B| = |A| − |B|.
• Sei {Ai } eine monotone Folge von messbaren Mengen. Falls Ai ↑ A, dann gilt:
|A| = lim |Ai | .
i→∞
(37)
(37) gilt auch, wenn Ai ↓ A und |A1 | < ∞. (Aber ohne die letzte Annahme
kann (37) auch falsch sein!)
Beweis. Die erste Eigenschaft folg aus der Identität |A| = |B∪(A\B)| = |B|+|A\B|.
Sei nun {Ai } ⊂ M mit Ai ↑ A. Wegen der Monotonie des Lebesgue-Masses ist
ai := |Ai | eine wachsende Folge reeller Zahlen und besitzt somit einen Grenzwert.
Aus der Monotonie des Lebesgue-Masses folgt aber auch |A| ≥ |Ai |. Deswegen gilt:
• Falls lim ai = ∞ ist, haben wir |A| = ∞ und die Identität (37) ist trivial.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
35
• Falls lim ai = a ist, so setzen wir B1 = A1 und Bj = Aj \ Aj−1 , falls j ≥ 2.
Aus dem ersten Teil des Satzes folgt: |B1 | = a1 und |Bj | = aj − aj−1 für j ≥ 2.
Mit der σ-Additivität schliessen wir
[ X
|Bi | .
|A| = Bi =
i
Die Reihe
P
i
i
|Bi | ist aber eine Teleskop-Reihe mit Wert a.
Sei nun Ai ↓ A mit |A1 | < ∞. Wir setzen Bi = A1 \ Ai . Dann haben wir Bi ↑ A1 \ A.
Damit folgt:
|A1 | − |A| = |A1 − A| = lim |Bi | = lim (|A1 | − |Ai |) = |A1 | − lim |Ai |
i↑∞
i↑∞
i↑∞
und (37) ist gezeigt.
Bemerkung 2.38. Wir geben nun ein Beispiel, das zeigt, dass auf die Voraussetzung
|A1 | < ∞ bei der zweiten Aussage des obigen Theorems nicht verzichtet werden
kann: Sei Ai := Rn \ B1 (0). Dann gilt: Ai ↓ ∅, aber es ist leicht zu sehen, dass
|Ai | = ∞ ∀i.
2.5
Charakterisierungen der Messbarkeit
Definition 2.39. Eine Menge heisst FS
σ -Menge, wenn sie die abzählbare Vereinigung
abgeschlossener Mengen ist, d.h. A = ∞
i=1 Fi mit Fi offen ∀i ∈ N.
Theorem 2.40. Sei E ⊂ Rn . Dann gilt:
(1) E ist genau dann messbar, wenn
∃N eine Nullmenge und ∃Z eine Gδ -Menge, so dass E = Z \ N ;
(38)
(2) E ist genau dann messbar, wenn
∃N eine Nullmenge und ∃Z eine Fσ -Menge, so dass E = Z ∪ N ;.
(39)
Beweis.
• (38) ⇒ messbar:
Z ist messbar, N ist messbar ⇒ Z \ N messbar.
• (39) ⇒ messbar:
Z ist messbar, N ist messbar ⇒ Z∪ N messbar.
• (38) ⇐ messbar: Diese Implikation haben wir bereits bewiesen (siehe Korollar
2.22).
• (39) ⇐ messbar:
Sei E messbar. Dann ist auch Rn \E = E c messbar und somit gibt es eine Gδ Menge Y und eine Nullmenge N , so dass E c = Y \ N . Deshalb ist E = Y c ∪ N .
Das Komplement
einer Gδ -Menge
Sei Gk offen, so dass
T
S istc aber eine Fσ -Menge:
c
c
Y = Gk . Dann ist Z = Y = Gk und jede Menge Gk ist abgeschlossen.
Als nächstes geben wir noch eine weitere wichtige Charakterisierung der Messbarkeit: Verschiedene Autoren verwenden (40) als Definition einer messbaren Menge.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
36
Theorem 2.41 (Caratheodory-Kriterium). E ⊂ Rn ist genau dann messbar,
wenn
|A|e = |A ∩ E|e + |A \ E|e
∀A ⊂ Rn .
(40)
Beweis. E messbar ⇒ (40): Seien E eine messbare und A eine beliebige Menge.
Wir wählen eine Gδ -Menge H, so dass A ⊂ H und |A|e = |H|e ist. Da H messbar
ist, gilt:
|A|e = |H| = |H ∩ E| + |H \ E| ≥ |A ∩ E|e + |A \ E|e ,
wobei wir bei der letzten Ungleichung die Monotonie des äusseren Lebesgue-Masses
benutzt haben ((A ∩ E) ⊂ (H ∩ E) und (A \ E) ⊂ (H \ E)). Da die Ungleichung
|A|e ≤ |A ∩ E|e + |A \ E|e aufgrund der Subadditivität von | · |e gilt, folgt (40).
(40) ⇒ E messbar: Sei E ⊂ Rn eine Menge die (40) erfüllt. Als erstes untersuchen wir den Fall |E|e < +∞. Sei H eine Gδ -Menge mit E ⊂ H und |H|e = |E|e .
H ist messbar und aus dem ersten Teil des Beweises folgt, dass
|E|e = |H| = |H ∩ E|e + |H \ E|e = |E|e + |H \ E|e .
Aus |E|e < ∞ schliessen wir sofort, dass |H \ E|e = 0. Deswegen ist H \ E messbar
und somit ist es auch E.
Falls |E|e = +∞ definieren wit Ek := E ∩ Bk (0). Dann ist |Ek | ≤ |Bk (0)| < ∞.
Sei nun Hk eine Gδ -Menge mit Ek ⊂ Hk und |Hk |e = |Ek |e . Da Hk messbar ist und
Ek ⊂ Hk ∩ E gilt:
|Ek |e = |Hk | = |Hk ∩ E|e + |Hk \ E| ≥ |Ek |e + |Hk \ E|e .
Daher ist |Hk \ E|e = 0. Also ist Hk \ E eine messbare Menge. Weiter gilt:
!
[
[
Hk \ E = (Hk \ E) .
k
k
Aber es ist auch
E=
[
Ek ⊂
k
[
Hk := H .
k
Da H eine messbare Menge ist, schliessen wir, dass auch E = H \ (H \ E) messbar
ist.
2.6
Lipschitz-Abbildungen und messbare Mengen
Theorem 2.42. Sei T : Rn → Rn Lipschitz-stetig. Dann bildet T messbare Mengen
auf messbare Mengen ab. Zudem gilt:
√
|T (E)|e ≤ (2 n Lip(T ))n |E|e
∀E ⊂ Rn .
(41)
Beweis. Da T stetig ist, bildet T S
kompakte Mengen auf kompakte Mengen ab. Sei
nun B eine Fσ -Menge, d.h. B = ∞
i=1 Fi mit Fi abgeschlossen. Wir setzen Fi,k :=
Fi ∩ Bk (0), wobei k ∈ N \ {0}. Jede Menge Fi,k ist kompakt und daher ist
T (B) =
∞
[
i,k=1
auch eine Fσ -Menge.
T (Fi,k )
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
37
Sei nun E eine messbare Menge. Wir wählen eine Fσ -Menge B und eine Nullmenge N mit E = B ∪ N . Dann ist T (E) = T (B) ∪ T (N ) und es genügt, die
Messbarkeit von T (N ) zu beweisen. Wir behaupten nun, dass T (N ) eine Nullmenge
ist: Dies folgt aus der Ungleichung (41), die wir nun beweisen werden.
Wir bemerken folgendes:
(a) Falls I ein abgeschlossenes Intervall ist, dann ist T (I) kompakt und daher
messbar.
(b) Falls I ein √
Würfel mit Seitenlänge L ist, dann ist der Durchmesser von T (I)
kleiner als
√ nL Lip(T ). Deswegen ist T (I) in einem abgeschlossenen Ball mit
Radius nL Lip(T
) enthalten. Dieser Ball ist wiederum in √
einem Würfel mit
√
Seitenlänge 2 nL Lip(T ) enthalten. Also folgt: |T (I)| ≤ (2 n Lip(T ))n |I|.
◦
(c) Sei nun I ein Intervall. Wir betrachten zuerst den offenen Kern J := I. Wir
schreiben J als eine Vereinigung von sich nicht überlappenden abgeschlossenen
Würfeln Ij . Sei Jj der offene Kern von Ij . Wir wissen, dass |∂I| = 0 = |∂Ij |.
Deswegen ist
|T (I)| ≤
∞
X
∞
X
√
√
n
|T (Ij )| ≤ (2 n Lip(T ))
|Ij | = (2 n Lip(T ))n |Jj |
j=1
i=1
(b)
[ √
√
= (2 n Lip(T ))n Jj ≤ (2 n Lip(T ))n |I| .
j
Sei nun E ⊂ Rn und ε eine beliebige positive Zahl. Dann wählen wir eine
abzählbare Überdeckung A = {Ij } von N mit abgeschlossenen Intervallen, so dass
X
v(Ij ) < |E|e + ε .
Wegen der σ-Subadditivität des äusseren Masses haben wir
|T (E)|e ≤
X
|T (Ij )|e =
∞
X
j=1
√
= (2 n Lip(T ))n
∞
X
√
|T (Ij )| ≤ (2 n Lip(T ))n
|Ij |
j=1
∞
X
j=1
√
v(Ij ) < (2 n Lip(T ))n (|E|e + ε) .
j=1
Da ε beliebig war, folgt (41).
Theorem 2.43. Sei L : Rn −→ Rn eine lineare Abbildung, d.h. L(x) = A · x. Dann
ist |L(E)| = | det A||E| für alle messbaren Mengen E ⊂ Rn .
Beispiel 2.44. Sei n = 1. Eine lineare Abbildung hat dann die Gestalt L(x) = cx,
wobei c eine Konstante ist. O.B.d.A. sei c ≥ 0. Falls I = [a, b], dann ist |I| = b − a.
L(I) = [ca, cb] und daher |T (I)| = c|I| = det A|I|!
Die folgenden Lemmata sind Hilfsätze für den Beweis von Theorem 2.43. Im
Folgenden werden wir die gleichen Voraussetzungen wie in Theorem 2.43 annehmen,
d.h. L ist immer eine lineare Abbildung.
Bemerkung 2.45. Es gilt: L ist nicht injektiv ⇔ det A = 0. In diesem Fall ist die
Behauptung des Theorems: |L(E)| = 0 für jede messbare Menge E.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
38
Lemma 2.46. Wenn det A = 0, dann ist |L(E)| = 0 für jede messbare Menge
E ⊂ Rn .
Beweis. Wenn det A = 0 ist, dann ist L(Rn ) ⊂ V ein (n − 1)-dimensionaler Untervektorraum von Rn . Es ist einfach zu zeigen, dass |V | = 0 (finde für jedes ε > 0
eine Überdeckung A ∈ U(V ) mit σ(A) < ε. Noch leichter wird der Beweis, wenn wir
V als Vereinigung kompakter Mengen schreiben!). Deshalb ist |L(E)|e = 0 für alle
messbaren Mengen E ⊂ Rn .
Lemma 2.47. Sei L injektiv. Falls |L(I)| = |det A||I| für alle offenen Intervalle I
ist, dann ist |L(E)| = | det A||E| für alle messbaren Mengen E ⊂ Rn .
Beweis. Sei L eine lineare Abbildung wie in Lemma 2.47 und sei I ein abgeschlossenes
Intervall. Da L Lipschitz-stetig ist, ist |L(N )| = 0 für alle Nullmengen N (siehe Theorem 2.42). Also folgt:
◦
|L(I)| = |L(I)| .
S
Sei nun Ω eine offene Menge und Ω = ∞
i=1 Ii eine Zerlegung in sich nicht
überlappende abgeschlossene Intevalle Ii (z.B. eine Whitney-Zerlegung). Dann haben
wir
∞
∞
[
[
◦
L(Ω) =
L(Ii ) ⊃
L(I i ) .
L(∂I) = 0
und
i=1
i=1
◦
Wegen der Injektivität von L ist {L(I i )} eine Familie disjunkter messbarer Mengen
(die Messbarkeit folgt aus Theorem 2.42). Folglich ist
|L(Ω)| ≥
∞
X
◦
|L(I i )| =
i=1
∞
X
|L(Ii )| ,
i=1
wobei wir bei der letzten Ungleichung die Identität |L(∂Ii )| = 0 benutzt haben. Mit
der σ-Subadditivität erhalten wir
!
∞
∞
X
[
|L(Ii )| ≥ L
Ii = |L(Ω)| .
i=1
i=1
Also ist
|L(Ω)| =
∞
X
|L(Ii )|
i=1
und mit dem gleichen Argument folgt auch
|Ω| =
∞
X
|Ii | .
i=1
Aber da |L(Ii )| = | det A||Ii | ist, haben wir |Ω| = | det A||Ω|.
Sei nun E messbar und ε > 0 gegeben. Wir setzen C := (4 Lip(L)n)n . Dann
existiert eine offene Menge Ω, so dass E ⊂ Ω und |Ω\E| < ε. Zudem ist |L(E)| =
|L(Ω)| − |L(Ω\E)| = | det A||Ω| − |L(Ω\E)|. Mit Theorem 2.42 haben wir dann
L(E) − | det A||E| ≤ | det A|(|Ω − |E|) + |L(Ω \ E)|
≤ (| det A| + C)|Ω \ E| < (| det A| + C)ε .
Da ε eine beliebige positive Zahl war, folgt |L(E)| = | det A||E|.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
39
Um Theorem 2.43 zu beweisen, brauchen wir noch einige wichtige Aussagen aus
der linearen Algebra. Als erstes definieren wir spezielle zweidimensionalen Drehungen
im Rn . Sei e1 , . . . en die Standardbasis des Rn , d.h.
ej = (0, . . . , |{z}
1 , . . . , 0) .
j-te Spalte
Eine lineare Abbildung L : Rn → Rn ist eine spezielle zweidimensionale Drehung,
wenn es i1 6= i2 ∈ {1, . . . , n} und einen Winkel θ gibt, so dass

∀j 6= i1 , i2
 L(ej ) = ej
L(ei1 ) = cos θei1 + sin θei2
(42)

L(ei2 ) = − sin θei1 + cos θei2 .
Die speziellen zweidimensionalen Drehungen sind Beispiele von orthogonalen Abbildungen, d.h. lineare Abbildungen L(x) = A · x, wobei A ∈ O(n) (d.h. eine orthogonale Matrix) ist. Eine Matrix A heisst orthogonal , wenn At · A = Id. Es ist
einfach zu sehen, dass die orthogonalen Abbildungen jene lineare Abbildungen sind,
die den euklidischen Abstand erhalten, d.h. |L(x) − L(y)| = |x − y| ∀x, y ∈ Rn (es
gibt sogar einen berühmter Satz von Liouville, der aussagt, dass jede C 1 -Abbildung,
die diese Gleichung erfüllt, linear sein muss!).
Eine zweite wichtige Familie von orthogonalen Abbildungen ist die Familie der
Spiegelungen. Wir sagen, dass L eine spezielle Spiegelung ist, falls ∃j ∈ {1, . . . , n}
mit
L(ek ) = ek
∀k 6= j
(43)
L(ej ) = −ej .
Schliesslich heisst eine lineare Abbildung L(x) = D · x diagonal, wenn D eine
diagonale Matrix ist.
Satz 2.48. Für jede lineare Abbildung L : Rn → Rn finden wir zwei orthogonale
Abbildungen O1 , O2 und eine “diagonale” Abbildung, so dass L = O1 ◦D◦O2 . Zudem
ist jede orthogonale Abbildung die Komposition endlich vieler spezieller zweidimensionaler Drehungen und spezieller Spiegelungen.
Beweis. Ein klassisches Theorem der linearen Algebra besagt, dass jede Matrix M
das Produkt einer Orthogonalen Matrix U und einer symmetrischen Matrix S ist.
Weiter ist jede symmetrische Matrix diagonalisierbar mithilfe von orthogonalen Matrizen. Also gibt es eine Matrix V ∈ O(n) und eine diagonale Matrix D, so dass
V −1 DV = S. Daher ist M = U S = (U V −1 )DV . Da U V −1 ∈ O(n) ist, folgt die
erste Behauptung des Satzes.
Die zweite Behauptung beweist man mittels vollständinger Induktion über die
Dimension des Raums. O(1) besteht aus der Identität und im Fall n = 1 ist die
Aussage trivial. Sei nun n ≥ 2 und U ∈ O(n). Wir betrachten nun Drehungen
R wie in (42) mit i1 = n und mit i2 = n − 1. Es ist einfach zu sehen, dass wir
ein R1 wählen können, so dass hR1 ◦ L(en ), en−1 i = 0. Als nächstes betrachten wir
Drehungen R wie in (42) mit i1 = n und i2 = n − 2. Es ist dann einfach zu sehen,
dass hR ◦ R1 ◦ L(en ), en−1 i = 0 für jedes solche R. Ausserdem finden wir eine Matrix
R2 , so dass zusätzlich hR2 ◦ R1 ◦ L(en ), en−2 i = 0 gilt. Mit diesem Verfahren finden
wir n − 1 spezielle Drehungen R1 , . . . Rn−1 , so dass hRn−1 ◦ . . . ◦ R1 ◦ L(en ), ej i = 0
∀j ∈ {1, . . . , n − 1}. Dann ist der Vektor Rn−1 ◦ . . . ◦ R1 ◦ L(en ) parallel zu en . Da
Rn−1 ◦ . . . ◦ R1 ◦ L eine orthogonale Abbildung ist, ist dieser Vektor entweder en oder
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
40
−en . Im ersten Fall definieren wir L0 = Rn−1 ◦. . .◦R1 ◦L. In zweiten Fall nehmen wir
die spezielle Spiegelung S mit k = n in (43) und setzen L0 = S ◦ Rn−1 ◦ . . . ◦ R1 ◦ L.
Nun ist L0 (en ) = en und L0 ist auch eine orthogonale Matrix. Sei
V := {λ1 e1 + · · · + λn−1 en−1 : λi ∈ R} .
Dann bildet L0 V auf V ab. Die Einschränkung von L0 auf V ist dann eine lineare
Abbildung in O(n − 1). Wir nutzen die Induktionsannahme, um L0 als Komposition
von speziellen Drehungen und Spiegelungen darzustellen.
Beweis des Theorems 2.43. Da wir den Fall, dass L nicht injektiv ist, schon behandelt haben, betrachten wir was passiert, wenn L injektiv ist.
Seien L1 und L2 zwei lineare Abbildungen und wir nehmen an, dass die Aussage
des Theorems für L1 und L2 gilt (mit Li (x) = Ai · x). Wenn E eine messbare Menge
ist, dann haben wir
|L(E)| = |L1 (L2 (E))| = | det A1 ||L2 (E)| = | det A1 || det A2 ||E| = | det A||E| .
Wegen Satz 2.48 genügt es, die folgenden Fälle zu untersuchen: die diagonalen Abbildungen, die speziellen zweidimensionalen Drehungen und die speziellen Spiegelungen. Da aber die speziellen Spiegelungen diagonale Abbildungen sind, reicht es, wenn
wir nur die anderen beiden Fälle untersuchen.
Fall 1. L(x) = D · x, wobei D eine Diagonalmatrix mit Dii = λi ist. Dieser
Fall ist ganz einfach. O.B.d.A. sei λi ≥ 0. Sei I = [a1 , b1 ] × . . . × [an , bn ]. Dann ist
|I| = (b1 − a1 ) · . . . · (bn − an ). Ausserdem ist L(I) = [λ1 a1 , λ1 b1 ] × . . . × [λn an , λn bn ]
und somit
|L(I)| = |λ1 |(b1 − a1 ) · . . . · |λn |(bn − an ) = |λ1 . . . λn ||I| = |det D||I| .
Mit Lemma 2.47 folgt die Behauptung des Theorems.
Fall 2. O.B.d.A. sei nach Umordnung der Variablen ei1 = en−1 , ei2 = en in (42).
Deswegen ist L(x) = R̃ · x, wobei R̃ die folgende Gestalt hat:


1


..


.


R̃ = 

1



cos θ sin θ 
− sin θ cos θ
Wir definieren nun die Matrix
R :=
cos θ sin θ
− sin θ cos θ
(44)
und B : R2 → R2 als B(x) = R · x.
Sei nun I = [a1 , b1 ] × [a2 , b2 ] × . . . × [an , bn ] ein Intervall. Dann ist
L(I) = [a1 , b1 ] × . . . × [an−2 , bn−2 ] × B([an−1 , bn−1 ] × [an , bn ]) = J × K .
{z
} |
{z
}
|
=:J
=:K
◦
Sei {Ij } eine Whitney-Zerlegung des offenen Kerns K. Wir bemerken, dass
J × ∂K = L(J × ∂([an−1 , bn−1 ] × [an , bn ])) ⊂ L(∂I) .
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
41
Da ∂I eine Nullmenge ist, haben wir
◦
|J × K| = |J × K| = |L(I)|
und
J×]an−1 , bn−1 [×]an , bn [ = |I| .
Sei nun Ij = [a1 , b1 ] × . . . × [an−2 , bn−2 ] × Kj . Nun ist {Ij } auch eine Zerlegung von
◦
J × K in sich nicht überlappende Intervalle. Wenn v2 (Kj ) den zweidimensionalen
Inhalt von Kj bezeichnet, dann ist
◦
|L(I)| = |J × K| =
∞
X
|Ij | = (b1 − a1 ) · . . . · (bn−2 − an−2 )
i=1
∞
X
v2 (Kj ) .
i=1
P∞
Aber i=1 v2 (Kj ) ist das zweidimensionale Lebesgue-Mass von K. Weiter ist |I| =
(b1 − a1 )(b2 − a2 ) · . . . · (bn − an ). Deswegen müssen wir nur die Identität
◦
|K|2 = | det B|(bn−1 − an−1 )(bn − an )
zeigen, wobei | · |2 das Lebesgue-Mass in R2 bezeichnet. D.h. wir müssen das Lemma
für die lineare Abbildung B beweisen, wobei B(x) = R · x. In diesem Fall ist aber
◦
det B = 1 und das Ziel ist, |K| = |K| = (bn−1 − an−1 )(bn − an ) zu zeigen.
Das ist aber eine kleine elementare Übung: Zerlege K in ein Intervall und 6
Dreiecke wie in Abbildung 6. Wir haben dann |K| = |A1 | + |A2 | + |A3 | + |A4 | +
|A5 | + |A6 | + |A7 | (|∂Ai | = 0 für jedes i).
A1
A2
A7
A6
A3
A5
A4
Abbildung 6: Die Zerlegung von K.
Wir brauchen nun die übliche Formel
|Ai | =
Basis · Höhe
2
∀i ∈ {1, . . . , 6} .
(45)
Um diese Formel zu beweisen sei zum Beispiel A = A1 . Für jedes N zerlegen wir die
Basis von A1 in 2N Intervalle mit gleicher Länge und betrachten die entsprechenden
Rechtecke wie in Abbildung 7. Sei BN die Vereinigung dieser Rechtecke.
2 EINFÜHRUNG IN DIE MASSTHEORIE VON LEBESGUE
42
Abbildung 7: Die Vereinigung der Rechtecke ist BN .
Die Folge {BN } ist eine wachsende Folge messbarer Mengen. Sei B, so dass
BN ↑ B. Dann ist B auch messbar und
|B| = lim |BN | .
N →∞
Deshalb ist
|A| ≥ lim |BN | .
N →∞
Das Mass von BN ist aber die Summe der Masse der entsprechenden Rechtecke:
Wir sehen, dass |BN | eine Riemannsche Summe ist. Eine ähnliche Approximation
können wir von aussen machen und erhalten
|A| ≤ lim |CN |
N →∞
wobei auch |CN | eine Riemannsche Summe ist.
Die beiden Grenzwerte sind dann das Integral der gleichen affinen Funktion auf
einem Intervall und dies ergibt genau die Formel (45).
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
3
43
Lebesgue-messbare Funktionen
3.1
Definition der messbaren Funktionen
Im Vergleich zu allgemeinen Funktionen spielen die messbaren Funktionen die gleiche
Rolle wie die messbaren Mengen im Vergleich zu allgemeinen Teilmengen des Rn . Wir
werden später sehen, dass die messbaren Funktionen jene Funktionen sind, für die
eine sinnvolle Definition des Integrals existiert. Die Familie der messbaren Funktionen ist bezüglich vieler Operationen und Grenzwerte “abgeschlossen”. Zudem lassen
sich die messbaren Funktionen gut mit stetigen Funktionen approximieren, so wie
sich messbare Mengen gut mit offenen und abgeschlossenen Mengen approximieren
lassen.
Beispiel 3.1. Sei {fk } eine Folge von stetigen Funktionen mit fn : [−1, 1] → R und


0
nx
fn (x) :=

1
∀x ∈ [−1, 0]
∀x ∈ [0, n1 ]
∀x ∈ [ n1 , 1]
lim fn (x) =
n→+∞
0
1
∀x ∈ [−1, 0]
∀x ∈]0, 1] .
Konvergiert diese Funktionenfolge gleichmässig? Nein, denn
kfn − f k = sup |fn (x) − f (x)| = 1 .
Die Familie der stetigen Funktionen ist abgeschlossen bezüglich der gleichmässigen
Konvergenz, aber der punktweise Grenzwert einer Folge stetiger Funktionen ist nicht
unbedingt stetig. Wir werden jedoch sehen, dass der punktweise Grenzwert einer
Folge von messbaren Funktionen wieder eine messbare Funktion ist.
In diesem Kapitel nutzen wir die Notation R für die Menge R ∪ {+∞, −∞}.
Definition 3.2. Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge und f : E → R. f heisst messbar
genau dann, wenn die Menge
f −1 (]a, +∞]) = {x ∈ E : f (x) > a}
∀a ∈ R
(46)
messbar ist.
Wir sagen, dass A ⊂ R offen ist, falls:
• ∀x ∈ A ∩ R: ∃ε > 0 mit ]x − ε, x + ε[⊂ A;
• falls +∞ ∈ A, dann ∃a ∈ R mit ]a, +∞] ⊂ A;
• falls −∞ ∈ A, dann ∃a ∈ R mit [−∞, a[⊂ A.
Wie üblich sagen wir, dass A ⊂ R abgeschlossen ist, wenn R \ A offen ist.
In diesem Kapitel benutzen wir oft die folgenden Eigenschaften:
• die σ-Algebra-Struktur der messbaren Mengen;
• die Tatsache, dass eine offene Menge A messbar ist;
• die Approximation messbarer Mengen mittels offener oder abgeschlossener
Mengen.
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
44
Theorem 3.3. Sei f : E → R mit E messbar. Dann ist f genau dann messbar,
wenn eine der folgenden äquivalenten Aussagen gilt:
(i) {f ≥ a} ist messbar ∀a ∈ R;
(ii) {f < a} ist messbar ∀a ∈ R;
(iii) {f ≤ a} ist messbar ∀a ∈ R;
(iv) f −1 (A) ist messbar ∀A ⊂ R offen;
(v) f −1 (A) ist messbar ∀A ⊂ R abgeschlossen.
Beweis. Wir bemerken, dass:
• f messbar ⇒ (i), da
{f ≥ a} =
∞ \
k=1
1
f >a−
k
,
d.h. der Schnitt einer abzählbaren Familie messbarer Mengen.
• (i) ⇒ (ii), weil {f < a} das Komplement der Menge {f ≥ a} ist.
• (ii) ⇒ (iii), weil
{f ≤ a} =
∞ \
k=1
1
f <a+
k
.
• (iii) ⇒ f messbar, weil {f > a} das Komplement der Menge {f ≤ a} ist.
Es ist auch klar, dass
• (iv) ⇐⇒ (v), denn
A offen
⇐⇒
R \ A abgeschlossen .
• (iv) ⇒ f messbar, weil f −1 (]0, ∞]) das Urbild einer offenen Menge ist.
Daher genügt es, die Aussage “f messbar ⇒ (iv)” zu beweisen. Sei f eine messbare
Funktion und A eine messbare Menge. Wir bemerken, dass aus (ii) und der Definition
der MessbarkeitSfolgt, dass f −1 (]a, b[) für alle a < b ∈ R messbar ist. Wir behaupten
nun, dass A = i∈N Ii , wobei
Ii =]ai , bi [,
oder
Ii =]ai , +∞],
oder
Ii = [−∞, bi [ .
(47)
Aus dieser Behauptung folgt die Messbarkeit von f −1 (A), weil
[
f −1 (A) =
f −1 (Ii )
i∈N
und jede Menge f −1 (Ii ) messbar ist.
Um die obige Darstellung von A zu erhalten, definieren wir die folgenden Mengen:
I := {(a, b) ∈ Q × Q :]a, b[⊂ A} ;
Hl := {a ∈ Q : [−∞, a[⊂ A} ;
Hr := {b ∈ Q :]b, +∞] ⊂ A} .
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
45
Wir zeigen nun, dass
A=
[
[
]a, b[ ∪
(a,b)∈I
[
[−∞, a[ ∪
a∈Hl
]b, +∞] .
b∈Hr
Die Inklusion “ ⊃ ” ist eine triviale Folgerung aus der Definition. Um die Inklusion
“ ⊂ ” zu zeigen, wählen wir ein x ∈ A. Falls x = +∞, dann ∃a ∈ R, so dass
]a, +∞] ⊂ A. Sei q > a, dann ist q ∈ Hr und +∞ ∈]q, +∞] ⊂ A. Dasselbe gilt für
x = −∞. Falls x ∈ R, dann gibt es a, b ∈ R mit x ∈]a, b[⊂ A Wir wählen dann
q ∈]a, x[∩Q und r ∈]x, b[∩Q und haben dann x ∈]q, r[⊂ A und (q, r) ∈ I.
Der letzte Teil des Beweis offenbart eine wichtige schwächere Definition von
Messbarkeit.
Satz 3.4. Sei D ⊂ R eine dichte Teilmenge. Sei f : E → R mit E ⊂ Rn messbar.
Dann ist f genau dann messbar, wenn
{f > a}
∀a ∈ D
(48)
messbar ist.
Entsprechende Formulierungen der Bedingungen (i), (ii) und (iii) des Theorems 3.3
sind auch äquivalente zur Messbarkeit von f .
Beweis. Die Messbarkeit impliziert (48). Sei nun f eine Funktion, die (48) erfüllt.
Sei a ∈ R. Für jedes n ∈ N \ {0} wählen wir ein an ∈]b, b + n1 [∩D. Wir haben dann
{f > b} =
∞
[
{f > an } .
n=1
{f > b} ist dann die Vereinigung einer abzählbaren Famile messbarer Mengen und
somit selbst messbar.
Definition 3.5. Sei P (a) eine Aussage für reelle Zahlen a. Wir sagen, dass ”P
fast überall”(kurz f.ü.) gilt, wenn {a : P (a) ist falsch} eine Nullmenge ist.
Beispiel 3.6. Fast alle reellen Zahlen sind irrational, weil |{a : a ist nicht irrational}|
= |Q| = 0: Denn jeder Punkt {x} ist eine Nullmenge und deshalb ist jede abzählbare
Menge als abzählbare Vereinigung von Nullmengen selbst eine Nullmenge. (Es ist
eine lehrreiche Übung, diese Aussage direkt mit der Definition des äusseren Masses
zu beweisen).
Beispiel 3.7. Seien f, g : E → R zwei Funktionen. Die Aussage
f =g
fast überall
bedeutet
|{x : f (x) 6= g(x)}| = 0 .
Satz 3.8. Seien f, g : E → R zwei Funktionen. Falls f messbar ist und f = g fast
überall, dann ist auch g messbar.
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
46
Abbildung 8: Zwei fast überall gleiche Funktionen.
Beweis. Sei N := {f 6= g} und a eine gegebene reelle Zahl. Wir setzen
N1 := {g > a} \ {f > a}
und
N2 := {f > a} \ {g > a} .
Da N1 ⊂ N und N2 ⊂ N , handelt es sich bei diesen Mengen um Nullmengen.
Nullmengen sind messbar, wie wir bereits wissen. Schliesslich ist
{g > a} = N1 ∪ {f > a} \ N2 .
Nun ist {f > a} messbar wegen der Messbarkeit von f . Also ist auch {g > a}
messbar.
3.2
Eigenschaften messbarer Funktionen
Theorem 3.9. Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge.
(i) Sei f : E → R eine messbare Funktion und A ⊂ R eine Teilmenge mit f (E) ⊂
A. Falls Φ : A → R messbar ist, dann ist auch Φ ◦ f messbar.
(ii) Seien f : E → R und E 0 ⊂ E messbar. Dann ist die Einschränkung von f auf
E 0 (bezeichnet durch f |E 0 ) auch messbar.
(iii) Seien f1 , ..., fN : E → R messbare Funktionen und λ1 , ..., λN ∈ R. Dann ist
λ1 f1 + ... + λN fN eine messbare Funktion.
(iv) Seien f, g : E → R zwei messbare Funktionen. Dann sind auch f g und
f
: E \ {g = 0}
{z
}
g |
→
R
E0
messbar.
(v) Sei {fk } eine Folge von messbaren Funktionen. Dann sind supk fk und inf k fk
auch messbar.
(vi) Sei {fk } wie in (v). Dann sind lim inf k→+∞ fk und lim supk→+∞ fk auch messbar. Deshalb gilt auch: Wenn f (x) = limk→+∞ fk (x) überall existiert, so ist f
messbar.
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
47
Bemerkung 3.10. (iii) und (iv) gelten auch für messbare Funktionen mit Wertebereich R: Man muss nur die Definitionsbereiche der Funktionen λ1 f1 + . . . + λn fn
und fg einschränken (der entsprechende Definitionsbereich enthält jene x, für die die
(x)
Operationen λ1 f1 (x) + . . . + λn fn (x), bzw. fg(x)
wohldefiniert sind). Der Beweis ist
ganz ähnlich und wird dem/der Leser/in überlassen.
Bemerkung 3.11. Es kann sein, dass die Menge der Punkte, wo die Operationen
bzw. der Grenzwert, nicht definiert sind, eine Nullmenge ist. Die entsprechende
Funktion hat deshalb einen kleineren Definitionsbereich E 0 , aber |E \ E 0 | = 0. In
diesem Fall erlauben wir uns einen Missbrauch der Notation: Wir bezeichnen den
Definitionsbereich der neuen Funktion trotzdem mit E.
Bemerkung 3.12. Sei A ⊂ R und Φ : A → R eine stetige Funktion. Im nächsten
Beweis nutzen wir folgende wichtige Eigenschaft: Für jede offene Menge U ⊂ R
gibt es eine offene Menge B ⊂ R, so dass Φ−1 (U ) = A ∩ B. Beweisen Sie diese
Aussage! Das motiviert die folgende Definition: Wenn X ein topologischer Raum ist
und Y ⊂ X eine Teilmenge, so können wir eine Topologie auf Y wie folgt definieren:
Eine Teilmenge Z ⊂ Y ist genau dann offen, wenn ∃B ⊂ X offen mit Z = B ∩ Y .
Beweisen Sie, dass dadurch tatsächlich eine Topologie definiert wird.
Beweis. (i) Sei a ∈ R eine gegebene Zahl und U :=]a, ∞[. Wir haben dann
(Φ ◦ f )−1 (]a, +∞]) = (Φ ◦ f )−1 (U ) = f −1 (Φ−1 (U )) .
Da Φ stetig ist, ist Φ−1 (U ) eine offene Teilmenge von A. Das bedeutet, dass eine
offene Teilmenge B in R existiert, so dass Φ−1 (U ) = B ∩ A. Deswegen ist (Φ ◦
f )−1 (]a, +∞]) = f −1 (B) und aus der Aussage (iv) des Theorems 3.3 folgt, dass
(Φ ◦ f )−1 (U ) eine messbare Menge ist.
0
−1
(ii) Sei a ∈ R. Dann ist f |−1
(]a, ∞]). Daher ist die Aussage
E 0 (]a, ∞]) = E ∩ f
trivial.
(iii) Es genügt zu zeigen, dass
(a) f1 , f2 : E → R messbar ⇒ f1 + f2 messbar;
(b) f : E → R messbar und λ ∈ R ⇒ λf messbar.
Wir beweisen zuerst (a). Sei g := f1 + f2 und a eine gegebene Zahl. Wir definieren
die Menge P := {(q1 , q2 ) ∈ Q2 : q1 + q2 > a}. Wir behaupten nun:
[
{g > a} =
{f1 > q1 } ∩ {f2 > q2 } .
(49)
(q1 ,q2 )∈P
Aus (49) folgt, dass {g > a} die Vereinigung einer abzählbaren Familie messbarer
Mengen ist und somit selbst messbar ist. Um (49) zu beweisen, bemerken wir folgendes: Wenn f1 (x) > q1 , f2 (x) > q2 und (q1 , q2 ) ∈ P , dann ist f1 (x) + f2 (x) > q1 + q2 >
a. Das beweist die Inklusion “ ⊃ ” in (49). Sei nun x ∈ R, so dass f1 (x) + f2 (x) > a
ist. Wir setzen
f1 (x) + f2 (x) − a
.
ε :=
2
Sei q1 ∈ Q∩]f1 (x), f1 (x) + ε[ und q2 ∈ Q∩]f2 (x), f2 (x) + ε[. Dann ist (q1 , q2 ) ∈ P
und x ∈ {f > q1 } ∩ {f > q2 }. Das beweist die Inklusion “ ⊂ ” in (49).
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
48
Sei nun λ ∈ R und f messbar. Wir definieren Φ : R → R als Φ(x) := λx. Dann
ist λf = Φ ◦ g und somit ist (b) eine Folgerung von (i).
(iv) Wie oben nehmen wir an, dass f (E), g(E) ⊂ R. Aus (i) und (iii) folgt, dass
f , g 2 und (f + g)2 messbar sind. Zudem folgt aus (iii), dass
2
1
1
1
f g = (f + g)2 − f 2 − g 2
2
2
2
messbar ist.
Wir bemerken auch, dass g −1 ({0}) und E 0 = E \ g −1 ({0}) messbar sind. Deshalb
sind auch h = f |E 0 und ζ = g|E 0 messbar. Die Abbildung Φ : R \ {0} → R ist stetig.
Da ζ(E 0 ) ⊂ R \ {0} folgt die Messbarkeit von ζ1 = Φ ◦ ζ aus (i). Schliesslich ist hζ als
Produkt messbarer Funktionen messbar.
(v) Als erstes zeigen wir die Messbarkeit des Supremums, die wir anschliessend
für die Messbarkeit des Infimums verwenden können. Sei nun f (x) := supk∈N fk (x)
und a ∈ R. Es gilt
[
{f > a} = {fk > a}
k
und aus der Messbarkeit von {fk > a} folgt die Messbarkeit von {f > a}. Um
die Messbarkeit von f (x) := inf k∈N fk (x) zu zeigen, nutzen wir die Messbarkeit des
Supremums, indem wir folgenden Zusammenhang anwenden:
inf fk (x) = − sup −fk (x) .
k∈N
k∈N
Dies impliziert dann
(iii)
fk ist messbar ∀ k ∈ N =⇒ − fk ist messbar ∀ k ∈ N
=⇒ sup −fk ist messbar
k∈N
(iii)
=⇒ − sup −fk = inf fk ist .
k∈N
k∈N
(In diesem Fall brauchen wir aber die Aussage (iii) für Fuktionen mit Wertbereich
R, siehe Bemerkung 3.10.)
(vi) Um dies zu zeigen, bedienen wir uns einer alternativen Definition von lim inf
und lim sup, um dann (v) zu nutzen:
(∗)
z }| {
lim inf fk (x) = sup inf fj (x) .
k→∞
k∈N j≥k
|
{z
}
(∗∗)
Nun gilt nach (v), dass (∗) messbar ist und damit ist auch (∗∗) messbar, woraus die
Behauptung folgt. Mit dem gleichen Argument folgt auch, dass
lim sup fk (x) = inf sup fj (x)
k→∞
messbar ist.
k∈N j≥k
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
3.3
49
Approximationssatz mit einfachen Funktionen
In diesem Kapitel werden wir die Grundlagen für die Definition eines Integrals für
messbare Funktionen erarbeiten. Obwohl die Theorie für viel allgemeinere Funktionen entwickelt wird als beim Riemann-Integral, sind trotzdem einige Gemeinsamkeiten ersichtlich. Vereinfacht könnte man sagen:
Die Rolle der Regelfunktionen übernehmen nun die messbaren Funktionen und
die einfachen Funktionen lösen die Treppenfunktionen ab. Ganz in Analogie zum
Riemann-Integral existiert ein Approximationssatz für messbare Funktionen mittels
einfacher Funktionen.
Definition 3.13. Sei E ⊂ Rn eine beliebige Menge. Die Indikatorfunktion von E,
auch charakteristische Funktion von E genannt, ist definiert als:
(
1, falls x ∈ E
1E (x) :=
0, falls x ∈
/ E.
Beispiel 3.14. Der Graph einer Indikatorfunktion ist in Abbildung 9 dargestellt.
Abbildung 9: Die Indikatorfunktion der Vereinigung einiger Intervalle.
Lemma 3.15. Sei E ⊂ Rn . Dann gilt:
1E ist messbar ⇐⇒ E ist messbar .
Beweis. Betrachte die Menge {1E > a}, a ∈ R. Es


∅
n
{x ∈ R | 1E (x) > a} = E

 n
R
gilt:
a≥1
0≤a<1
a<0
Da ∅ und Rn messbar sind, ist das Lemma trivial.
Definition 3.16. Eine Funktion f : Rn → R heisst einfach, wenn es Mengen E1 , . . . , EN ⊂
Rn und Zahlen λ1 , . . . , λN ∈ R gibt, so dass
f=
N
X
i=1
λi 1Ei .
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
50
Abbildung 10: Treppenfunktion als Beispiel für eine einfache Funktion.
Beispiel 3.17. Seien Ei Intervalle in R. Dann ist eine einfache Funktion eine Treppenfunktion, d.h. Treppenfunktionen sind messbar.
Satz 3.18 (Approximationssatz).
(i) Für jede Funktion f : E → R existiert eine Folge von einfachen Funktion {fk },
so dass f (x) = limk→∞ fk (x) ∀x ∈ E.
(ii) Für jede Funktion f : E → R mit f ≥ 0 existiert eine monotone Folge {fk }
nicht-negativer einfacher Funktionen, so dass fk (x) ↑ f (x) ∀x ∈ E.
(iii) Wenn f in (i) und (ii) messbar ist, dann können wir für die Approximation
messbare Funktionen fk wählen.
Beweis. Beweisen wir zuerst (ii), um dann dieses Resultat für den Beweis der beiden
anderen Aussagen zu nutzen.
(ii) Das Ziel ist nun, eine solche Folge explizit zu konstruieren. Dazu sei k ∈ N
gegeben. Wir definieren
(
j−1
falls j−1
≤ f (x) < 2jk für ein j ∈ {1, . . . , k · 2k }
k ,
2k
(50)
fk (x) := 2
k,
falls f (x) ≥ k .
In dieser Definition liegt ein wesentlicher Unterschied zur Theorie des RiemannIntegrals: Während man dort die Zerlegung auf der x-Achse vornimmt, zerlegt
man hier die y-Achse, wodurch man starke Schwankungen einer Funktion viel
besser in den Griff bekommt. Darin sieht man einen Teil der Überlegenheit der
neuen Theorie gegenüber der früher formulierten (das Riemann-Integral). Bei
der Erhöhung von k auf k+1 werden die Intervalle auf der y-Achse halbiert und
die obere Grenze höher gesetzt. So kriegt man zum einen bei jedem Schritt eine
Verfeinerung der Approximation und zum andern einen grösseren Wertebereich
bezüglich der y-Achse. Dabei gilt nun wie gewünscht die Monotonie, da aus
der Definition von fk folgt: fk+1 ≥ fk . Zu zeigen bleibt nun die Konvergenz von
fk (x) → f (x): Falls f (x) = +∞, dann ist fk (x) = k und limk→∞ fk (x) = +∞.
Falls f (x) ∈ [0, ∞[, ∃ N ∈ N, so dass f (x) < N , d.h.
j−1
j
≤ f (x) ≤ N
∃ j ∈ {1, . . . , N · 2N }, so dass
N
2
2
j
j−1
1
=⇒ |f (x) − fN (x)| = f (x) − fN (x) ≤ N − N = N .
|
{z
}
2
2
2
≥0
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
51
fk
f
Abbildung 11: Die definierte Funktion fk .
Daraus folgt die Konvergenz der Folge {fk }.
(i) Sei nun f : E → R. Um (ii) nutzen zu können, definieren wir
f + (x) := max{f (x), 0},
f − (x) := max{−f (x), 0} .
Mit diesen Definitionen gilt f = f + − f − mit f + , f − ≥ 0
f+
−f −
Abbildung 12: Die Funktionen f + und f − .
Nun können wir (ii) anwenden:
Sei {fk+ } die Approximation von f + und {fk− } die Approximation von f − ,
konstruiert nach dem Verfahren in (ii). Dann gilt:
fk := fk+ − fk− ist eine einfache Funktion ∀ k ∈ N und fk → f .
(iii) Wir behandeln zuerst den Fall einer messbaren Funktion f ≥ 0 und {fk } mit
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
52
der Approximation wie im Beweis von (ii). Dann gilt:
k
fk =
k·2
X
j−1
j=1
2k
· 1 j − 1
2k
|
j
≤f < k
2
{z
}
(∗)
d.h. es handelt sich um eine Linearkombination von Indikatorfunktionen.
Weiter gilt nach Lemma 3.15:
1(∗) ist messbar ⇐⇒ (∗) messbar.
(∗) ist aber wegen der Messbarkeit von f messbar. Deshalb ist fk messbar
∀ k ∈ N, womit der Fall f ≥ 0 gezeigt ist.
Für den allgemeinen Fall verfahren wir gleich wie im Beweis von (iii), d.h. mit
den Definitionen der Funktionen f + und f − . Dann gilt:
f + , f − sind messbar =⇒ fk+ , fk− sind messbar =⇒ fk+ − fk− ist messbar,
woraus die Behauptung folgt.
3.4
Die Sätze von Egorov und Lusin
Satz 3.19 (Satz von Egorov). Sei E ⊂ Rn eine messbare Teilmenge mit |E| <
+∞ und fk : E → R eine Folge messbarer Funktionen, die fast überall gegen eine
Funktion f konvergiert. Dann gilt: ∀ ε > 0, ∃ K ⊂ E abgeschlossen, so dass
(i) |E \ K| < ε;
(ii) fk |K → f |K gleichmässig, d.h. limk→∞ (supx∈K |fk (x) − f (x)|) = 0.
Satz 3.20 (Satz von Lusin). Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge und sei f : E → R
eine messbare Funktion. Dann gilt: ∀ ε > 0, ∃ K ⊂ E abgeschlossene, so dass
(i) |E \ K| < ε;
(ii) f |K eine stetige Funktion ist.
Bemerkung 3.21. Aus einem klassischen Satz der Topologie (das Lemma von Tietze) folgt, dass jede stetige Funktion f : K → R, mit K ⊂ Rn abgeschlossen, auf
dem ganzen Euklidischen Raum fortgesetzt werden kann. Wir bekommen deshalb
eine weitere Formulierung des Satzes von Lusin:
• Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge und f : E → R eine messbare Funktion.
Dann gilt: ∀ ε > 0 existiert eine stetige Funktion g : Rn → R, so dass:
{x ∈ E : f (x) 6= g(x)} < ε .
Beweis von Satz 3.19. Gemäss Voraussetzung gilt: limk→∞ fk (x) = f (x) für fast alle
x ∈ E. Wir definieren folgenden Mengen für k ∈ N, n ∈ N \ {0}:
1
Ek,n := x ∈ E : |fj (x) − f (x)| <
∀j > k .
n
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
53
S
Dann ist Ek,n ⊂ Ek+1,n und k Ek,n = E \ N , wobei |N | = 0, da die Folge der
Funktionen fast überall konvergiert und somit N ⊂ {x ∈ E | fk (x) 9 f (x)}. Da
|E| < +∞ ist, gilt:
∀ ε > 0,
∃ m ∈ N, so dass |E \ Em,n | <
ε
2n+1
.
Aber Vorsicht: m ist von n abhängig, deshalb schreiben wir m(n).
ε
.
O.B.d.A. sei nun Fn eine abgeschlossene Teilmenge, so dass Em(n),n \ Fn < 2n+1
Dies ist möglich, weil jede messbare Menge, und damit auch Em(n),n , beliebig genau
durch eine abgeschlossene Menge approximiert werden kann. Damit folgt:
|E \ Fn | <
ε
2n
und
x ∈ Fn ⇒ |fk (x) − f (x)| <
1
n
∀ k > m(n) .
T
Wir definieren nun die Menge K := n≥1 Fn , die der abzählbare Schnitt abgeschlossener Menge ist und somit selbst abgeschlossen ist. Dann folgt schliesslich:
∞
∞
∞
X
[
\
X
ε
= ε,
|E \ K| = E \
|E \ Fn | <
Fn = (E \ Fn ) ≤
n=1
n=1
2n
n=1
n≥1
womit Teil (i) bewiesen ist.
Es bleibt noch die gleichmässige Konvergenz von fk |K zu zeigen. Das heisst
anders formuliert:
∀ δ > 0,
∃ M ∈ N, so dass |fk (x) − f (x)| < δ
∀k > M .
(51)
Wir zeigen nun die Formulierung (51): Sei δ > 0 gegeben. Wir wählen ein n ∈ N, so
dass n1 < δ. Da K ⊂ Fn ist, gilt:
|fk (x) − f (x)| <
1
n
∀ x ∈ K, ∀ k > m(n) .
Setzen wir nun M := m(n), so haben wir (51) gezeigt.
Bemerkung 3.22 (Plan zum Beweis von Satz 3.20 (Satz von Lusin)). Um
den Satz von Lusin zu beweisen, wollen wir Satz 3.19 (Satz von Egorov) anwenden:
Wenn eine Folge von stetigen Funktionen gleichmässig konvergiert, dann ist auch
der Grenzwert eine stetige Funktion.
Um den Beweis übersichtlicher zu gestalten, beweisen wir den Satz von Lusin
zuerst für einfache Funktionen. Anschliessend wenden wir den Approximationssatz
an, um auf die allgemeine Version des Satzes von Lusin zu schliessen.
Lemma 3.23 (Satz von Lusin für einfache Funktionen). Sei E ⊂ Rn eine
messbare Menge und f : E → R eine einfache Funktion. Dann gilt: ∀ ε > 0, ∃ K ⊂
E abgeschlossen, so dass
(i) |E \ K| < ε;
(ii) f |K eine stetige Funktion ist.
Beweis. Zuerst zeigen wir den Fall (1): |E| < +∞, um dann mit einer geschickten
Zerlegung in Teilmengen den Fall (2): |E| = +∞ darauf zurückführen zu können.
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
54
(1) Sei also |E| < +∞ und f : E → R eine einfache Funktion. O.B.d.A. sei {Ei }
eine endliche disjunkte Zerlegung von E, d.h. Ei ∩ Ej = ∅ ∀ i 6= j, so dass:
f=
N
X
λi 1Ei .
i=1
Eine solche endliche Zerlegung existiert, da f eine einfache Funktion ist. Falls
man noch keine disjunkte Zerlegung von E hat, teilt man solange weiter, bis die
Teilmengen disjunkt sind. Benutze dazu folgende Idee, illustriert am Beispiel
zweier nicht-disjunkten Teilmengen:
f = λ1 1E1 + λ2 1E2 = λ1 1E1 \E2 + λ2 1E2 \E1 + (λ1 + λ2 ) 1E1 ∩E2 .
Seien nun K1 , . . . , KN kompakte Mengen mit Ki ⊂ Ei und |Ei \ Ki | < Nε für ein
ε > 0. Solche Mengen existieren, da E beschränkt ist und eine messbare Menge
beliebig gut durch eine abgeschlossene approximiert werden kann. Weiter sei
K := K1 ∪ · · · ∪ KN . Dann gilt:
N
N
[
X
ε
= ε.
|E \ K| = (Ei \ Ki ) ≤
|Ei \ Ki | < N ·
N
i=1
i=1
Das heisst (i) ist gezeigt. Daraus folgt nun auch Teil (ii):
(
f |Ki stetig ist, da konstant;
f |K ist stetig, da
Ki ∩ Kj = ∅ für i 6= j und kompakt, d.h. d(K1 , K2 ) > 0 .
(2) Sei nun |E| = ∞. Wir setzen nun wie schon oft
Ek := E ∩ Bk (0) \ Bk−1 (0)
S
Dann ist Ei ∩ Ej = ∅ für i 6= j und E = ∞
k=1 Ek . So lässt sich Fall (1) auf jede
−k
Menge Ek mit 2 ε anwenden. Für jedes i haben wir eine Zerlegung K1i , . . . , KNi i
von Ei in disjunkte kompakte Teilmengen. Aber es ist auch leicht zu sehen, dass
Ksi ∩ Krj = ∅, wenn i 6= j. Deswegen können wir das obige Argument anwenden
und die Stetigkeit der Einschränkung der Funktion f auf der Menge
!
Ni
∞
∞
[
[
[
i
Ki
K :=
K` =:
i=1
i=1
`=1
schliessen. Das beweist die gesuchte Aussage, weil
∞
∞
[
X
X
ε
i
i
|E \ K| = Ei \ K =
|Ei \ K | <
= ε.
2i
i
i=1
i=1
Beweis von Satz 3.20 gemäss Bemerkung 3.22. Sei |E| < ∞. Plan für den Beweis:
1) Eine Folge von einfachen Funktionen finden, so dass fk → f ;
2) Eine Menge K 0 finden, so dass |E \ K 0 | <
ε
2
und fk |K 0 ∀k stetig ist;
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
55
3) Den Satz von Egorov anwenden: ∃K 00 , so dass |K 0 \ K 00 | <
ichmässig konvergiert.
ε
2
und fk |K 00 gle-
Dann folgt, dass {fk |K 00 } → g, wobei g eine stetige Funktion ist. Da aber
lim fk (x) = f (x) ,
k→+∞
muss f (x) = g(x) ∀x ∈ K 00 und somit ist f |K 00 stetig. Gehen wir der Reihe nach:
1) ∃{fk } Folge von messbaren einfachen Funktionen, so dass limk→+∞ fk (x) = f (x)
(siehe Satz 3.23 und den Beweis dazu).
2) Mit Lemma 3.23 folgt:
T ∀k ∈ N, ∃Fk , so dass |E \ Fk | <
ist. Sei nun K 0 := ∞
k=1 Fk . Dann ist
• fk |K 0 stetig;
P
• |E \ K 0 | ≤ ∞
k=1 |E \ Fk | <
ε
2
·
Pn
k=1
ε
2
· 2−k und fk |Fk stetig
2−k = 2ε .
3) ist eine Folgerung von Satz 3.19 (Satz von Egorov).
Der Fall |E| = ∞ wird dem/der Leser/in als Übung gelassen.
3.5
Konvergenz nach Mass
Definition 3.24. Seien f und {fk }k∈N messbare reellwertige Funktionen.
Wir sagen, {fk } konvergiert nach Mass gegen f genau dann, wenn
lim |{x ∈ E : |fk (x) − f (x)| > ε}| = 0
k→+∞
∀ε > 0 .
Satz 3.25. Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge mit |E| < +∞. Wenn fk → f fast
überall, dann konvergiert fk gegen f nach Mass.
Beweis. Sei ε > 0 gegeben. Wir wenden das Theorem von Egorov an: Für δ > 0
wählen wir eine abgeschlossene Menge F , so dass
• |E \ F | < δ;
• fk |F gleichmässig gegen f |F konvergiert.
⇒ ∃N , so dass |fk (x) − f (x)| < ε ∀x ∈ F und ∀k > N . Deshalb ist
{x ∈ E : |fk (x) − f (x)| > ε} ⊂ (E \ F ) ∀k > N .
Dies impliziert, dass
|{x ∈ E : |fk (x) − f (x)| > ε}| < δ
∀k > N .
Da δ > 0 beliebig war, folgt:
lim |{x ∈ E : |fk (x) − f (x)| > ε}| = 0 .
k→+∞
Satz 3.26. Seien {fk } und f , so dass fk nach Mass gegen f konvergiert. Dann
existiert eine Teilfolge {fkl }, so dass fkl → f fast überall.
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
56
Beweis. Da die Folge {fk } nach Mass gegen f konvergiert, gilt: ∀j ∈ N, ∃Kj , so
dass
x ∈ E : |fk (x) − f (x)| > 1 < 2−j ∀k ≥ Kj .
j Sei ni = max{i, Ki }. Wir betrachten nun die Teilfolge {fni } und definieren die
Mengen
[
1
Ej :=
x ∈ E : |fnk (x) − f (x)| >
.
k
k>j
Dann ist
X 1 X −k
|Ej | ≤
2 = 2−j .
x ∈ E : |fnk (x) − f (x)| > k <
k>j
k>j
S
0
−j
Sei nun E 0 := ∞
und deshalb |E \ E 0 | = 0.
j=1 E \ Ej . Dann ist |E \ E | ≤ |Ej | < 2
Schliesslich zeigen wir, dass
lim fnk (x) = f (x)
k→+∞
∀x ∈ E 0 .
Sei also x ∈ E 0 . Dann ∃j ∈ N, so dass x ∈ E \ Ej und damit haben wir
[
1
,
x∈
/
x ∈ E : |fnk (x) − f (x)| >
k
k>j
d.h.
|fnk (x) − f (x)| ≤
1
k
∀k > j .
Also folgt:
lim |fnk (x) − f (x)| = 0 .
k→+∞
Definition 3.27. Eine Folge messbarer Funktionen {fk } erfüllt die Cauchy-Bedingung
für die Konvergenz nach Mass genau dann, wenn
∀ε > 0, ∀δ > 0, ∃N ∈ N, so dass |{x : |fk (x) − fl (x)| > ε}| < δ
∀k, l > N .
(52)
Satz 3.28. {fk } konvergiert nach Mass ⇐⇒ (52) gilt.
Beweis. “⇒”: Sei {fk } eine Folge, die nach Mass gegen f konvergiert und seien
ε, δ > 0 gegeben. Dann ∃N ∈ N, so dass
n
ε o δ
∀k > N .
x
:
|f
(x)
−
f
(x)|
>
<
k
2
2
Seien nun k, l > N und wir nehmen an, dass |fk (x) − fl (x)| > ε. Dann ist
|fk (x) − f (x)| + |fl (x) − f (x)| > ε .
Also folgt:
{x : |fk (x) − fl (x)| > ε} ⊂
n
εo n
ε o
x : |fk (x) − f (x)| >
∪ x : |fl (x) − f (x)| >
.
2
2
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
Deshalb ist
|{|fk − fl | > ε}| <
57
δ δ
+ = δ.
2 2
“⇐”: Sei {fk } eine Folge, die (52) erfüllt. Als erstes bemerken wir, dass die
Konvergenz einer Teilfolge genügt: Denn sei {fnk } eine Teilfolge, die nach Mass
gegen f konvergiert. Weiter seien ε, δ > 0 gegeben. Dann haben wir
n
ε o δ
∀nk > N
(53)
∃N : x : |fnk (x) − f (x)| >
<
2
2
n
ε o δ
∃M : x : |fl (x) − fi (x)| >
∀l, i > M .
(54)
<
2
2
Sei nun N0 := max{N, M }. ∀l > N0 wählen wir nk > N0 . Dann ist
n
ε o
|{x : |fl (x) − f (x)| > ε}| ≤ x : |fl (x) − fnk (x)| >
2 }
|
{z
(54)
<
δ
2
n
ε o
+ x : |fnk (x) − f (x)| >
< δ.
2 }
|
{z
(53)
<
δ
2
Folglich ist
lim |{x : |f` (x) − f (x)| > ε}| = 0 .
`→+∞
Wir wählen nun eine konvergente Teilfolge. ∀j ∈ N sei nj ≥ j, so dass
1
x : |fk (x) − fl (x)| >
< 2−j ∀k, l ≥ nj .
j
2 (55)
{fnj } ist also die gesuchte Folge. Wir definieren:
[
El :=
x : fnj+1 (x) − fnj (x) > 2−j
j>l
und
0
E =
∞
[
E \ E` .
`=1
Wir haben dann
|E` | ≤
X (55) X −j
x : fn (x) − fn (x) > 2−j <
2 = 2−` .
j+1
j
j>`
j>`
Deswegen ist |E \ E 0 | ≤ |E` | = 2−` ∀` und somit |E \ E 0 | = 0.
Sei nun x ∈ E 0 . Dann ∃` mit x ∈ E \ E` . {fnj (x)} ist dann eine Cauchy-Folge,
weil
i−1
∞
X
X
fn (x) − fn (x) ≤
fnm (x) − fnm+1 (x) <
2−m ≤ 2−j+1
j
i
m=j
m=j
Deswegen können wir die Funktion
f (x) := lim fnj (x)
j→+∞
∀x ∈ E 0
∀i > j > ` .
3 LEBESGUE-MESSBARE FUNKTIONEN
58
definieren. Wir setzen dann f (x) := 0, wenn x 6∈ E 0 . Da fk → f f.ü., ist f messbar.
Zudem ist
|f (x) − fnj (x)| ≤ 2−j
∀j > `, ∀x ∈ E \ E` .
Deshalb folgt:
E \ {x : |f (x) − fn (x)|∀j ≥ `} ≤ 2−` .
j
Also konvergiert {fkl } nach Mass gegen f und somit auch {fk }.
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
4
4.1
59
Das Lebesgue-Integral
Definition des Lebesgue-Integrals
Definition 4.1. Sei f: E → [0, +∞]. Dann heisst
Γ(f, E) := {(x, f (x)) ∈ E × R : f (x) < +∞}
der Graph von f und
0 ≤ y ≤ f (x), falls f (x) < +∞
R(f, E) := (x, y) ∈ E × R :
0 ≤ y < +∞, falls f (x) = +∞
bezeichnet die Menge der Punkte, die zwischen der x-Achse und dem Graph der
Funktion liegen, d.h. die Region der Funktion f .
Theorem 4.2. Sei E eine messbare Menge und f : E → [0, ∞] eine messbare
Funktion. Dann ist R(f, E) messbar und Γ(f, E) eine Nullmenge.
Definition 4.3. Sei E eine messbare Menge und f : E → [0, ∞] eine messbare
Funktion. Das Lebesgue-Integral von f ist dann wie folgt definiert:
Z
f := |R(f, E)| .
(56)
E
Um Theorem 4.2 zu beweisen, brauchen wir das folgende Hilfslemma. Wir werden
nun Mengen in Rn und in Rn+1 betrachten. Wenn E ⊂ Rn ist, dann ist |E| das
n-dimensionale Lebesgue-Mass von E. Wenn F ⊂ Rn+1 , dann ist |F | das (n + 1)dimensionale Lebesgue-Mass von F .
Lemma 4.4. Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge und a ∈ [0, ∞[. Dann ist E × [0, a]
messbar mit |E × [0, a]| = a · |E|. Ferner ist auch E × [0, +∞[ messbar mit
(
falls |E| = 0
E × [0, +∞[ = 0,
(57)
+∞, falls |E| > 0 .
Beweis. Sei a ∈ [0, +∞[. Wenn E ein Intervall ist,
S∞dann ist E × [0, a] auch ein
Intervall. Wenn E eine offene Menge ist, sei E = i=1 Ii eine Whitney-Zerlegung
von E. Da sich die Ii nicht überlappen, überlappen sich auch die Intervalle Ii × [0, a]
nicht. Wir haben dann
∞
∞
n
X
X
X
E × [0, a] =
Ii × [0, a] =
v(Ii × [0, a]) =
av(Ii )
i=1
n
X
= a
i=1
i=1
∀E offen.
v(Ii ) = a|E|
(58)
i=1
Sei nun E eine messbare Menge und ε > 0 gegeben. Aus der Definition der Messbarkeit folgt die Existenz einer offenen Menge Ω, so dass E ⊂ Ω und |Ω\E| < ε. Dann
ist E × [0, a] ⊂ Ω × [0, a]. Sei nun {Ii } eine abzählbare Familie von abgeschlossenen
Intervallen, so dass
[
X
Ω\E ⊂
Ii
und
v(Ii ) < 2ε .
i
i
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
60
Dann haben wir
(Ω \ E) × [0, a]) ⊂
[
Ii × [0, a]
und
i
X
v(Ii × [0, a]) < 2aε .
i
Deshalb ist
(Ω \ E) × [0, a] < 2aε .
e
Da ε beliebig ist, beweist die obige Ungleichung, dass E × [0, a] messbar ist. Weiter
ist
|E × [0, a]| − a|E| (58)
= |E × [0, a]| − |Ω × [0, a] + a(|Ω| − |E|)
=
|Ω × [0, a]| − |E × [0, a]| + a(|Ω| − |E|)
= |(Ω \ E) × [0, a]| + a|Ω \ E| < 3aε .
Da ε beliebig war, folgt die Identität |E × [0, a]| = a|E|.
Schliesslich gilt:
E × [0, k] ↑ E × [0, ∞[ .
Also ist auch E × [0, ∞[ messbar mit
|E × [0, ∞[| = lim |E × [0, k]| = lim k|E| .
k↑∞
k↑∞
(57) folgt nun sofort aus der letzten Identität.
Bemerkung 4.5. Allgemein gilt: Wenn A ⊂ Rn und B ⊂ Rm zwei messbare Mengen
sind, dann ist auch A×B ⊂ Rn+m messbar mit |A×B| = |A||B| (mit der Konvention
0·∞ = ∞·0 = 0). Man kann diese Identität direkt beweisen, aber wir werden sehen,
dass dies eine Konsequenz des Theorems von Tonelli ist (siehe Korollar 5.10).
Beweis von Theorem 4.2. Sei f: E → [0, +∞[ eine messbare Funktion. Wir wenden
den Approximationssatz 3.18 an und wählen eine Folge {fk } von einfachen messbaren Funktionen, so dass
fk ≥ fk−1 ≥ 0
lim fk (x) = f (x) ∀x ∈ E .
und
k→+∞
Sei A die folgende messbare Menge:
A :=
[
R(fk , E) .
k
Es ist klar, dass
R(f, E) \ Γ(f, E) = {(x, y) : x ∈ E und 0 ≤ y < f (x)} ⊂ A ⊂ R(f, E).
Gemäss der Definition einfacher Funktionen gilt:
fk =
Nk
X
ck,l 1Ek,l ,
l=1
wobei die Mengen Ek,l messbar sind. Mi dem Hilfslemma folgt, dass
R(fk , E) =
Nk
[
l=1
Ek,l × [0, ck,l ]
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
61
messbar ist. Daraus folgt die Messbarkeit von A. Falls Γ(f, E) eine Nullmenge ist,
dann ist auch R(f, E)\A eine Nullmenge und diese Tatsache beweist die Messbarkeit
von R(f, E).
Wir betrachten nun die Menge Γ(f, E). Als erstes zerlegen wir die Menge E wie
folgt:
∞
[
E=
{f < i} ∪ {f = +∞} .
| {z } | {z }
i=1
=:Ei
=:E∞
Eine ähnliche Zerlegung von Γ(f, E) ergibt:
Γ(f, E) =
∞
[
i=1
Γ(f, Ei ) ∪ Γ(f, E∞ ) .
| {z }
=∅
Wir beweisen nun, dass |Γ(f, Ei )| = 0. Wir können auch Ei als Vereinigung einer abzählbaren Familie beschränkter messbarer Mengen schreiben (z.B. wenn wir
Ek,i := Ei ∩ Bk (0) setzen).
Es genügt also, die Behauptung |Γ(f, E)| = 0 unter den folgenden zusätzlichen
Annahmen zu zeigen:
(a) ∃N ∈ N, so dass f (x) < N ∀x ∈ E;
(b) |E| < ∞.
Sei f : E → [0, N [ eine messbare Funktion mit |E| < +∞.
Sei nun k ∈ N. Für jedes j ∈ N mit j < kN definieren wir die Mengen
j+1
j
≤ f (x) <
.
Aj := x :
k
k
Aus der Messbarkeit von f folgt die Messbarkeit von Aj . Weiter ist
kN
[−1
Γ(f, E) ⊂
j=0
j j+1
Aj × ,
,
k k
E=
kN
[−1
Aj
j=0
und Aj ∩ Ai = ∅, falls j 6= i. Mit Lemma 4.4 und der σ-Subadditivität des äusseren
Lebesgue-Masses folgt nun
|Γ(f, E)|e ≤
kN
−1 X
j=0
−1
X
1 kN
j
j
+
1
|E|
Aj × ,
=
|A
|
=
.
j
k k k j=0
k
Da |E| < ∞ und k beliebig war, folgt |Γ(f, E)|e = 0.
4.2
Elementare Eigenschaften des Integrals
Theorem 4.6 (Monotonie des Integrals). Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge.
(i) Falls |E| = 0, dann ist
Z
f =0
E
∀f : E → [0, ∞] .
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
62
(ii) Seien f, g : E → [0, ∞] zwei messbare Funktionen mit 0 ≤ g ≤ f . Dann ist
Z
Z
g≤
f.
E
E
(iii) Sei f : E → [0, ∞] eine messbare Funktion mit
Z
f < +∞ .
E
Dann ist f < +∞ fast überall.
(iv) Sei f : E → [0, ∞] eine messbare Funktion und E1 ⊂ E eine messbare Teilmenge von E. Dann gilt
Z
Z
f≤
f.
E1
E
Beweis. Wenn |E| = 0, dann ist jede Funktion f : E → [0, ∞] messbar; dies folgt
aus der Definition der Messbarkeit einer Funktion! Zudem ist R(f, E) ⊂ E × [0, ∞[
und deshalb
Z
(57)
f = |R(f, E)| ≤ |E × [0, ∞[| = 0 .
0≤
E
Die zweite und die vierte Behauptung folgen aus der Monotonie des LebesgueMasses: Im ersten Fall haben wir R(g, E) ⊂ R(f, E) und im letzten
R(f, E1 ) ⊂
R
R(g, E1 ). Sei nun f : E → [0, ∞] eine messbare Funktion mit E f < ∞. D.h.
|R(f, E)| < ∞. Sei E∞ := {x ∈ E : f (x) = ∞}. Dann ist E∞ messbar und
|E∞ × [0, ∞[| ≤ |R(f, E)| < ∞ .
Mit (57) folgt |E∞ | = 0.
Satz 4.7 (σ-Additivität des Integrals). Sei f ≥ 0 eine messbare Funktion und
sei {Ei } eine Folge von Mengen, so dass
S
• ∞
i=1 Ei = E und
• |Ei ∩ Ej | = 0, falls i 6= j .
Dann ist
Z
f=
E
XZ
i
f.
Ei
Beweis. Mit Theorem 4.6 (i) folgt
Z
|R(f, Ei ) ∩ R(f, Ej )| = |R(f, Ei ∩ Ej )| =
∀i 6= j .
f =0
Ei ∩Ej
Aus der σ-Addivität des Lebesgue-Masses folgt
Z
[
X
XZ
f = |R(f, E)| = R(f, Ei ) =
|R(f, Ei )| =
f.
E
Ei
i
i
Der obige Satz liefert uns das folgende wichtige Korollar:
i
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
63
Korollar 4.8. Sei E ⊂ Rn eine messbare Menge, f : E → [0, ∞] eine messbare
Funktion und A die σ-Algebra der messbaren Teilmengen des Rn , die in E enthalten
sind. Wir setzen
Z
µ(A) :=
f
∀A ∈ A .
A
Dann definiert µ ein Mass auf A.
Satz 4.9 (Approximation mit einfachen Funktionen). Sei E eine messbare
Menge, f : E → [0, ∞] eine messbare Funktion und {fk } eine Folge von einfachen
Funktionen mit fk ↑ f . Dann gilt:
Z
Z
fk ↑ f .
(59)
Wir definieren deshalb
G := {g eine einfache messbare Funktion : 0 ≤ g ≤ f } .
Dann ist das Integral von f gegeben durch
Z
Z
f = sup g .
(60)
g∈G
E
Beweis. Sei {fk } eine Folge mit fk ↑ f . Wie schon im Beweis von Theorem 4.2 sei
[
A :=
R(fk , E) .
k
Dann ist
Z
|A| = |R(f, E)| =
f
E
und R(fk , E) ↑ R(f, E). (59) folgt nun aus der Konvergenzeigenschaft des LebesgueMasses.
Der Approximationssatz 3.18 garantiert die Existenz einer solchen Folge und
beweist deshalb die Ungleichung “ ≤ ” in (60). Die Ungleichung “ ≥ ” folgt aus der
Monotonie des Integrals.
Theorem 4.10 (Linearität des Integrals). Sei E eine messbare Menge, f1 , f2 :
E → [0, ∞] zwei messbare Funktionen und c1 , c2 ≥ 0. Dann gilt:
Z
Z
Z
(c1 f1 + c2 f2 ) = c1
f 1 + c2
f2 .
E
E
E
Beweis. Zuerst beweisen wir die Aussage für zwei einfache Funktionen
f1 := λ1 1E1 + . . . + λn 1En
f2 := µ1 1F1 + . . . + µn 1Fn .
O.B.d.A. sei Ei ∩ Ej = ∅ ∀i 6= j und Fi ∩ Fj = ∅. Dann haben wir
Z
f1 =
E
Z
f2 =
E
n
X
λi |Ei | =
X
i=1
i,j
m
X
µj |Fj | =
X
j=1
i,j
λi |Ei ∩ Fj | ,
µj |Fj ∩ Ei |.
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
64
Nun ist
c1 f 1 + c2 f 2 =
X
(c1 λi + c2 µj )1Fj ∩Ei
i,j
und deshalb
Z
X
(c1 λi + c2 µj )|Ei ∩ Fj |
(c1 f1 + c2 f2 ) =
E
i,j
= c1
X
λi |Ei ∩ Fj | + c2
i,j
X
µj |Ei ∩ Fj |
i,j
Z
Z
= c1
f 1 + c2
E
f2 .
E2
Seien nun f, g : E → [0, ∞] zwei beliebige messbare Funktionen und a, b ∈ [0, ∞[.
Mit dem Approximationssatz 3.18 wählen wir zwei Folgen von einfachen Funktionen
{fk }, {gk }, so dass
fk+1 ≥ fk
gk+1 ≥ gk
und
∀k ∈ N
und mit fk → f , gk → g. Mit Satz 4.9 folgt dann
Z
Z
Z
Z
(af + bg) = lim
(afk + bgk ) = a lim
fk + b lim
gk
k→∞ E
k→∞ E
k→∞ E
E
Z
Z
= a f +b g.
E
E
4.3
Konvergenzsätze I
Das Integral von Lebesgue hat sehr gute Konvergenzeigenschaften. Die Hauptsätze
sind:
• der Satz über die monotone Konvergenz (oder Satz von Beppo Levi);
• das Lemma von Fatou;
• der Satz über die majorisierte Konvergenz (oder Satz von Lebesgue).
Satz 4.11 (Satz von Beppo Levi). Sei E eine messbare Menge und fk : E →
[0, ∞] eine monoton wachsende Folge messbarer Funktionen. Dann gilt:
Z
Z
lim fk = lim fk .
E
k
k
E
Satz 4.12 (Lemma von Fatou). Sei E eine messbare Menge und fk : E → [0, ∞]
eine Folge messbarer Funktionen. Dann gilt:
Z
Z
lim inf fk ≤ lim inf
fk .
(61)
E k→+∞
k→+∞
E
Satz 4.13 (Satz von Lebesgue). Seien E und {fk } wie im Lemma von Fatou
und mit den folgenden Eigenschaften:
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
65
(a) Es gibt eine messbare Funktion Φ mit
f ≤ Φ fast überall
Zk
Φ < +∞ .
∀k ∈ N ,
(62)
(63)
E
(b) fk → f fast überall.
Dann ist
Z
Z
f =
E
lim
k→+∞
fk .
E
Bemerkung 4.14. Die Ungleichung in (61) kann auch strikt sein, wie das folgende
Beispiel zeigt: Sei E := R und
k,
falls x ∈]0, k1 ]
fk (x) :=
0,
sonst.
Dann ist
lim fk (x) = 0
k→∞
aber
Z
fk = 1 .
R
Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Annahme (a) im Satz von Lebesgue notwendig
ist. Ein weiteres Beispiel zeigt die Notwendigkeit dieser Annahme: Sei
(
1
, falls x ∈]e−k , k1 [
gk (x) := x
0, falls x ≥ k1 .
Auch hier gilt gk → 0 überall. Aber
Z
Z
1
k
gk =
e−k
R
1
1
1
dx = log − log e−k = log + k → +∞ .
x
k
k
Beweis des Satzes von Beppo Levi. Sei f (x) := limk fk (x). f ist messbar und, wie
schon im Beweis vom Satz 4.2 folgt, dass R(fk , E) ↑ R(f, E) und damit
Z
Z
f = |R(f, E)| = lim |R(fk , E)| = lim
fk .
k→∞
E
k↑∞
E
Beweis des Lemmas von Fatou. Es ist
f (x) := lim inf fk (x) = sup inf fj (x) = lim gk (x) .
k→+∞
k→+∞
k j≥k
| {z }
=:gk (x)
Nun ist{gk } eine monotone Folge und wir können deshalb den Satz von Beppo Levi
anwenden:
Z
Z
f = lim
gk .
E
k↑∞
E
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
66
Aber wir haben auch gk ≤ fj für alle j ≥ k. Zusammen mit der Monotonie des
Integrals erhalten wir
Z
Z
gk ≤
fj
∀j ≥ k .
E
E
Folglich ist
Z
Z
gk ≤ lim inf
j→∞
E
und damit
∀k ,
fj
E
Z
Z
gk ≤ lim inf
lim
k↑∞
fj .
j→∞
E
E
Beweis des Satzes von Lebesgue. Sei
E 0 := {x ∈ E : fk (x) → f (x)} .
Dann ist |E \ E 0 | = 0 und daher
Z
Z
f=
f
Z
und
fk =
E0
E
Z
fk .
E0
E
O.B.d.A. dürfen wir annehmen, dass fk → f überall. Wir haben dann
Z
Z
Z
F atou
fk .
lim fk ≤ lim inf
f=
E k→+∞
E
k→+∞
(64)
E
Wir dürfen aber das Lemma von Fatou auch auf die Folge {Φ − fk } anwenden:
Z
Z
Z
(Φ − f ) =
lim (Φ − fk ) ≤ lim inf (Φ − fk ) .
E k→+∞
E
k→∞
E
Aus der Additivität des Integrals folgt aber auch
Z
Z
Z
Z
Φ = ((Φ − f ) + f ) = (Φ − f ) +
f.
E
Da
R
E
E
E
E
Φ < ∞ und das Integral nicht-negativ ist, schliessen wir
Z
Z
Z
(Φ − f ) =
Φ−
f.
E
E
E
Eine ähnliche Gleichung gilt aber auch für {fk }:
Z
Z
Z
Z
Z
Z
Φ−
f = lim inf
Φ−
fk =
Φ − lim sup fk
E
E
k→∞
E
und somit
E
Z
E
k→∞
E
Z
fk ≤
lim sup
k→∞
E
f.
E
Aus (64) und (65) folgt nun die gesuchte Identität.
(65)
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
4.4
67
Verallgemeinerung des Lebesgue-Integrals
Sei f : E → R eine messbare Funktion mit messbarem Definitionsbereich E. Dann
ist f = f + − f − , wobei
f + = max{f, 0}
f − = max{−f, 0} .
und
(siehe Abbildung 12).
R
Definition 4.15. Wir sagen, dass das Integral
eines der Integrale
Z
Z
+
f ,
f−
E
E
f existiert, wenn mindestens
E
endlich ist. In diesem Fall definieren wir
Z
Z
Z
+
f :=
f −
f− .
E
E
E
Wenn beide Integrale
Z
Z
+
f ,
E
f−
E
endlich sind, sagen wir, dass f Lebesgue-integrierbar ist. Die Menge der Lebesgueintegrierbaren Funktionen auf E bezeichnen wir mit L1 (E).
R
Lemma 4.16. Es gilt: f ∈ L1 (E) ⇔ E |f | < +∞.
R
R
R
Beweis. Da |f | = f + + f − ist, folgt: E |f | < +∞ ⇔ E f + , E f − < +∞.
Satz 4.17. Sei E eine messbare Menge. Dann gelten folgende Aussagen:
R
R
R
R
(i) Wenn E f und E g existieren und f ≤ g, dann ist E f ≤ E g.
(ii) Sei E 0 ⊂ E messbar. Dann gilt:
Z
Z
f existiert ⇒
f existiert
f ∈ L1 (E) ⇒ f |E 0 ∈ L1 (E 0 ) .
und
E0
E
Beweis. (i) f ≤ g ⇒ f + ≤ g + und −f − ≤ −g − . Daher ist
Z
Z
Z
Z
+
+
−
f ≤ g
und
f ≥ g−
und die Behauptung folgt sofort.
(ii) Wir haben
Z
+
Z
f ≤
E0
f
E
+
Z
−
Z
f ≤
und
E0
f− ,
E
und auch Behauptung (ii) ist dann eine triviale Folgerung.
Die folgenden zwei Sätze sind auch einfache Folgerungen der entsprechenden
Sätze für nicht-negative Funktionen.
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
68
Satz R4.18. Sei E eine messbare Menge und f : E → R eine messbare Funktion, so
dass E f existiert. Sei {Ek } eine abzählbare Familie messbarer Mengen so dass
[
E=
Ek
und
|Ei ∩ Ej | = 0 ∀i 6= j .
k
Dann gilt:
Z
f=
XZ
E
f.
Ek
k
R
R
Lemma 4.19. Wenn |E| = 0 oder f = 0 fast überall, dann ist E f = E |f | = 0
und f ∈ L1 (E).
R
R
R
Satz
4.20.
Wenn
c
∈
R
und
f
existiert,
dann
existiert
auch
cf
und
cf =
E
E
R
R
R E
c E f (mit der Konvention,
dass c E f = 0, wenn c = 0 Rund E f = ±∞).
R
1
Wenn f ∈ L (E) und E g existiert, dann existiert auch E (f + g) und es ist
Z
Z
Z
(f + g) =
f+
g.
E
E
E
Wenn zusätzlich g ∈ L1 (E) ist, so ist auch f + g ∈ L1 (E).
4.5
Konvergenzsätze II
Im letzten Teil dieses Kapitels verallgemeinern wir die drei Konvergenzsätze. Bei
allen drei Sätzen gehen wir von einer messbaren Menge E und von messbaren Funktionen aus, die auf E definiert sind.
Satz 4.21 (Satz von Beppo Levi). Sei fk ↑ f eine monotone Folge und Φ ∈
L1 (E) mit fk ≥ Φ. Dann gilt:
Z
Z
fk →
f.
E
E
1
Sei fk ↓ f eine monotone Folge und Φ ∈ L (E) mit fk ≤ Φ. Dann gilt:
Z
Z
f.
fk →
E
E
Satz 4.22 (Lemma von Fatou). Sei Φ ∈ L1 (E) und fk ≥ Φ eine Folge von
messbaren Funktionen. Dann gilt:
Z
Z
lim inf fk ≤ lim inf
fk .
E k→+∞
Satz 4.23 (Satz von Lebesgue).
|fk | ≤ Φ fast überall ∀k, dann gilt:
k→+∞
E
Falls fk → f fast überall und ∃Φ ∈ L1 (E) mit
Z
Z
lim
k→+∞
fk =
E
f.
E
Beweis des Satzes von Beppo Levi. Sei fk ↑ f . Wir setzen gk := fk − Φ. Wir können
nun den bereits bewiesenen Satz von Beppo Levi für nicht-negative Funktionen
anwenden, d.h. gk ↑ g = f − Φ und
Z
Z
Z
Z
Z
f−
Φ = lim
gk = lim
fk −
Φ.
E
E
k→∞
E
k→∞
E
E
Aus der letzten Gleichung folgt die gesuchte Identität.
Falls fk ↓ f , setzen wir gk := Φ − fk und nutzen das gleiche Argument wie
oben.
4 DAS LEBESGUE-INTEGRAL
69
Beweis des Lemmas von Fatou. Wir setzen gk := fk − Φ und wenden das Lemma
von Fatou für nicht-negative Funktionen an. Die Behauptung folgt dann sofort.
Beweis des Satzes von Lebesgue. Wir wenden das Lemma von Fatou auf die Folgen
gk := fk + Φ und hk := Φ − fk an und erhalten
Z
Z
Z
Z
f+
Φ ≤ lim inf
fk +
Φ
E
und
Z
Z
Φ−
E
k→∞
E
Z
f≤
E
E
E
Z
Φ − lim sup
E
k→∞
fk .
E
Die Behauptung des Theorems folgt sofort aus diesen beiden Ungleichungen.
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
5
70
Die Sätze von Fubini und Tonelli
In der Vorlesung Analysis II haben wir die wiederholte Integration einer stetigen
Funktion wie folgt definiert:
Z 1
Z 1Z 1
Z
f (x1 , . . . , xn ) dx1 . . . dxn .
...
f=
[0,1]n
0
0
0
Wir werden nun sehen, dass dieses Verfahren mit dem Lebesgue-Integral übereinstimmt.
5.1
Der Satz von Fubini
Im folgenden nehmen wir an, dass
f : Rn = Rk × Rm 3 (x, y) 7−→ f (x, y) ∈ R .
Die Sätze in diesem Kapitel gelten auch wenn der Wertbereich (der entsprechenden
Funktionen) R ist. Die Detaillen sind dem/der Leser/in überlassen.
Theorem 5.1 (Satz von Fubini). Sei f ∈ L1 (Rn ). Dann gilt:
(1) Für fast alle x ∈ Rk gehört die Abbildung f (x, ·) : Rm → R zu L1 (Rm ).
R
(2) Die Funktion g : Rk → R mit x 7−→ g(x) = Rm f (x, ·) gehört zu L1 (Rk ) und es
gilt die Formel
Z
Z
g.
(66)
f=
Rk
Rn
R
Bemerkung 5.2. Wir schreiben dafür auch g(x) = Rm f (x, y)dy und somit
Z
Z Z
f (x, y) dy dx.
g=
Rk
Rm
Deswegen können wir die Identität (66) auch so ausdrücken:
Z
Z Z
f=
f (x, y) dy dx .
Rn
Rk
Rm
Aus dem Satz von Fubini lassen sich unter anderem folgende Korollare ableiten:
Korollar 5.3. Falls f ∈ L1 (Rn ) ist, gilt:
Z
Z Z
Z
f=
· · · f (x1 , . . . , xn ) dx1 . . . dxn .
Rn
R
R
R
Korollar 5.4. Falls f ∈ L1 ([a, b]n ) ist, dann ist f · 1[a,b]n ∈ L1 (Rn ) und deshalb gilt:
Z
Z
Z
f=
...
f (x1 , . . . , xn ) dx1 . . . dxn .
[a,b]n
[a,b]
[a,b]
Zudem gilt, wenn die Funktion f stetig ist:
Z
Z b
Z b
f=
...
f (x1 , . . . , xn ) dx1 . . . dxn ,
[a,b]n
wobei
Rb
a
a
a
f (x1 , . . . , xn )dxi jeweils das Riemann-Integral ist.
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
71
Um den Satz von Fubini zu beweisen, ist es nützlich, die folgende Notation
einzuführen:
Definition 5.5. Eine Funktion f ∈ L1 (Rn ) hat die Eigenschaft F , falls f die
Aussagen des Satzes 5.1 (Satz von Fubini) erfüllt.
Im Folgenden werden wir den Satz von Fubini mithilfe einiger Lemmata schrittweise
beweisen. Mit der oben eingeführten Notation wollen wir nun zeigen, dass
f ∈ L1 (Rn ) =⇒ f hat die Eigenschaft F .
Lemma 5.6. Linearkombinationen von Funktionen mit der Eigenschaft F haben
wieder die Eigenschaft F .
Beweis. Dieses kleine Lemma folgt aus der Linearität des Integrals.
Lemma 5.7. Sei {fi } mit fi ≥ 0 ∀i ∈ N eine wachsende Folge messbarer Funktionen, so dass f = limi fi zu L1 (Rn ) gehört. Falls jede Funktion fi die Eigenschaft F
hat, dann hat auch f die Eigenschaft
R F . Die gleiche Aussage gilt für eine monoton
fallende Folge {fi } mit fi ≥ 0 und f1 < ∞.
Beweis. Sei {fi } eine wachsende Folge. Wir teilen den Beweis in die zwei Teile der
Eigenschaft F auf:
• Wir definieren Zi := {x | fi (x, ·) ∈
/ L1 (Rm )} und
Z :=
∞
[
Zi .
i=1
Dann gilt |Zi | = 0 und mit der Subadditivität des Lebesgue-Masses folgt auch
|Z| = 0. Weiter gilt nach Voraussetzung fi (x, ·) ↑ f (x, ·). Nach dem Satz der
monotonen Konvergenz (Satz 4.11) gilt:
f (x, ·) ist messbar ∀ x ∈
/ Z, d.h. für fast alle x;
Z
f (x, y) dy existiert und
Rm Z
Z
lim
fi (x, y) dy =
f (x, y) dy .
i→∞
Rm
Rm
• Wir betrachten die folgende Funktion g, die gemäss Voraussetzungen fast
überall wohldefiniert ist:
Z
x 7→ g(x) :=
f (x, y) dy .
Rm
Analoges gilt für die Funktionen gi , die wie folgt definiert sind:
Z
gi (x) :=
fi (x, y) dy .
Rm
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
72
Nun ist {gi } eine monoton wachsende Folge mit gi ↑ g fast überall. Mit dem
Satz der monotonen Konvergenz folgt nun:
Z
Z
gi ↑
g.
Rn
Rn
Nun können wir die Existenz des gesuchten Integrals zeigen:
Z
Z
Z
Z
f ∈L1 (Rn )
g = lim
gi = lim
fi =
f
< ∞.
Rk
i→∞
Rk
i→∞
Rn
Rn
Dies zeigt, dass g < ∞ fast überall. Da aber g(x) :=
folgt:
f (x, ·) ∈ L1 (Rm )
R
Rm
f (x, ·) und f ≥ 0 ist,
für fast alle x ∈ Rm .
Für den zweiten Fall, d.h. wenn die Folge monoton fallend ist, setzen wir gi :=
f1 − fi . {gi } ist dann eine monoton wachsende Folge und jede Funktion gi besitzt
die Eigenschaft F . Deshalb hat auch g := f1 − f die Eigenschaft F und daher folgt
die zweite Aussage des Lemmas aus der ersten.
Satz 5.8. Die Eigenschaft F gilt für Indikatorfunktionen messbarer Mengen.
Zuerst wollen wir zeigen, dass aus diesem Satz zusammen mit den vorhergehenden
Lemmata der Satz von Fubini folgt.
Beweis des Satzes von Fubini (Satz 5.1). Aus Lemma 5.6 folgt, dass einfache Funktionen die Eigenschaft F haben. Sei f ∈ L1 (Rn ), dann können wirR f schreiben als
f = f + − f − , wobei f + , f − ≥ 0. Zudem gilt f + , f − ∈ L1 (Rn ), da f ± < ∞ Dann
können wir zwei monotone Folgen von einfachen Funktionen konstruieren, so dass
fk+ ↑ f + und fk− ↑ f − . Mit Lemma 5.7 folgt nun, dass F für f + und f − gilt. Unter
Anwendung von Lemma 5.6 folgt die Eigenschaft F für f + − f − = f .
Beweis von Satz 5.8. Wir betrachten 1E für eine messbare Menge E mit |E| < ∞.
Wir werden nun wie folgt vorgehen:
(i) Die Eigenschaft F gilt für 1E , wenn E ein Intervall ist.
(ii) Die Eigenschaft F gilt für 1E , wenn E ⊂ ∂I, wobei I ein Intervall ist.
(iii) Die Eigenschaft F gilt für 1E , wenn E eine offene Menge mit endlichem Mass
ist.
(iv) Die Eigenschaft F gilt für 1E wenn E eine beschränkte Gδ -Menge ist.
(v) Die Eigenschaft F gilt für 1E , wenn E eine beschränkte Nullmenge ist.
(vi) Die Eigenschaft F gilt für 1E , wenn E eine beschränkte messbare Menge ist.
(vii) Die Eigenschaft F gilt für 1E , wenn E eine messbare Menge mit endlichem
Mass ist.
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
73
Gehen wir nun also schrittweise vor.
Beweis von (i): Wir schreiben
I = [a1 , b1 ] × · · · × [ak , bk ] × [c1 , d1 ] × · · · × [cm , dm ] .
|
{z
} |
{z
}
=:I1
=:I2
Wir haben dann:
y 7→ 1I (x, y) : =
falls x ∈ I1
falls x ∈
6 I1 .
1I2 ,
0,
Daher ist die Abbildung y 7→ 1I (x, y) eine integrierbare Funktion für alle x ∈ Rk .
Ausserdem ist
(
Q
Z
|I2 | = m
falls x ∈ I1
i=1 (di − ci ),
g(x) :=
1I (x, y) dy =
0,
falls x ∈
/ I1 .
Rn
Also ist auch x 7→ g(x) eine integrierbare Funktion und
Z
k
Y
Z
g=
|I2 | · 1I1 (x) dx = |I2 ||I1 | =
(bi − ai ) ·
i=1
m
Y
(di − ci ) = |I| .
i=1
Beweis von (ii): Sei A ⊂ ∂I. Dann ist 1A (x, y) gleich 0, falls x 6∈ I1 oder x ∈ I1
und x 6∈ ∂I2 . Also ist ist y 7→ 1A (x, y) für fast alle x ∈ Rn
• entweder identisch 0;
• oder die Indikatorfunktion einer Nullmenge.
Deshalb ist
Z
g(x) :=
identisch 0 und
1A (x, y) dy
Z
0=
Z
g=
1A .
Beweis von (iii): Sei A offen mit |A| < ∞. Dann existiert eine Zerlegung von
A in sich nicht überlappende Intervalle (Whitney-Zerlegung), d.h.
A=
∞
[
Ii
mit Ii ∩ Ij ⊂ ∂Ii ∩ ∂Ij ∀ i 6= j
i=1
Wir definieren nun induktiv:
I˜1 = I1 ,
I˜2 = I2 \ I1 , . . . , I˜N = In \
N
−1
[
Ii .
i=1
Jedes I˜i ist die Differenz von Ii und einer Menge Ai mit Ai ⊂ ∂Ii . Aus (i) und (ii)
folgt, dass die Funktionen 1Ii und 1Ai die Eigenschaft F besitzen. Wegen Lemma
5.6 hat 1I˜i auch die Eigenschaft F . Sei nun
gk :=
k
X
i=1
1I˜i .
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
74
Dann gilt die Eigenschaft F auch für gk (Lemma 5.6) und da gk ↑ 1A folgt mit
Lemma 5.7, dass die Eigenschaft F auch für 1A gilt.
Beweis von (iv): Sei A eine beschränkte Gδ -Menge, d.h. A ⊂ BN (0) für ein N
gross genug und
∞
\
A=
Ui ,
i=1
wobei die Ui offene Mengen sind. Als nächstes definieren wir folgende monoton
fallende Folge von Mengen:
Vi := V ∩
i
\
Ui ∩ BN (0) für i ≥ 1 .
k=1
R
Die Mengen Vi sind offen und es gilt: Vi ↓ A und somit 1Vi ↓ 1A . Da aber 1V1 ≤
|BN (0)| < ∞ ist, folgt mit (iii) und Lemma 5.7, dass 1A die Eigenschaft F hat.
Beweis von (v): Sei nun E eine beschränkte Nullmenge. Wir wählen eine
beschränkte Gδ -Menge A mit E ⊂ A und |A| = 0. Wir wissen bereits, dass die
Eigenschaft F für A gilt und deswegen ist
1A (x, ·) ∈ L1 (Rm )
für fast alle x ∈ Rm .
Daraus lässt sich nun folgendes schliessen:
Z
Z Z
0 = 1A =
1A (x, y) dy dx
und somit
Z
1A (x, y) dy = 0
für fast alle x .
Nun definieren wir die Menge Ax := {y ∈ Rn | (x, y) ∈ A}. Es gilt dann:
Z
|Ax | = 0 für fast jedes x, weil
1A (x, ·) = |Ax | .
Nachdem wir nun die Indikatorfunktion von A untersucht haben, gehen wir ähnlich
mit der Indikatorfunktion von E vor und nutzen dazu folgenden Zusammenhang
zwischen E und A: Wir defineren wieder Ex := {y ∈ Rm | (x, y) ∈ E}. Da Ex ⊂ Ax
ist, ist Ex eine Nullmenge für fast alle x. Weiter gilt 1E (x, y) = 1Ex (y). Da Ex für
fast alle x eine Nullmenge ist, gilt: 1Ex = 1E (x, ·) ist für fast alle x messbar und
Z
Z
Z Z
1E = |E| = 0 =
|Ex | dx =
1E (x, y) dy dx .
Rm
Beweis von (vi): Sei E eine beschränkte messbare Menge. Dann existieren eine
beschränkte Gδ -Menge A und eine beschränkte Nullmenge Z, so dass E = A \ Z.
Dann folgt mit (iv) und (v), dass 1A und 1Z die Eigenschaft F besitzen. Lemma
5.6 impliziert dann, dass auch 1E die Eigenschaft F hat.
Beweis von (vii): Sei E eine messbare Menge mit unendlichem Mass. Wir
setzen Ek := E ∩ Bk (0). Wegen (vi) besitzen die Mengen Ek die Eigenschaft F und
da Ek ↑ E, gilt sie auch für E.
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
5.2
75
Der Satz von Tonelli
Wenn die Funktion f nicht-negativ ist, dann gilt die Identität (66) auch dann, wenn
das Integral von f unendlich ist.
Satz 5.9 (Satz von Tonelli). Sei f : Rn × Rm → R eine messbare Funktion mit
n
f ≥ 0, dann ist
R die Funktion y 7→ f (x, y) für fast alle x ∈ R messbar und die
Funktion x 7→ Rm f (x, y) dy ist ebenfalls messbar. Zudem gilt:
Z
Z Z
f=
f (x, y) dy dx
Rn ×Rm
Rn
Rm
Eine wichtige Folgerung dieses Theorems ist das folgende Korollar (das aber auch
über die Definition des äusseren Lebesgue-Masses bewiesen werden kann):
Korollar 5.10. Seien A ⊂ Rn und B ⊂ Rm zwei messbare Mengen. Dann ist auch
A × B messbar und |A × B| = |A||B| (mit der Konvention dass 0 · ∞ = ∞ · 0 = 0).
Beweis. Schritt 0: Sei A × B messbar. Dann ist auch 1A×B messbar. Nun ist die
Identität |A||B| = |A × B| einfach eine Folgerung des Satzes von Tonelli, wenn wir
f := 1A×B setzen.
Schritt 1: Falls A und B beide offen (bzw. abgeschlossen) sind, dann ist auch
A × B offen (bzw. abgeschlossen) und somit messbar.
Schritt 2: Seien nun A und B zwei messbare Mengen mit |A|, |B| < ∞. Sei
ε > 0 gegeben und
• A1 ⊂ A, B1 ⊂ B abgeschlossen mit |A \ A1 |, |B \ B1 | < ε;
• A2 ⊃ A, B2 ⊃ B offen mit |A2 \ A|, |B2 \ B| < ε.
Dann ist A2 × B2 offen und
(A2 × B2 ) \ (A × B) ⊂
(A2 \ A1 ) × B2 ∪ A2 × (B2 \ B1 ) .
Die beiden Mengen (A2 \A1 )×B2 und A2 ×(B2 ×B1 ) sind offen und deshalb können
wir die Schritte 0 und 1 anwenden:
(A2 ×B2 )\(A×B) ≤ |A2 \A1 ||B2 |+|A2 ||B2 \B1 | < 2ε(|B|+ε)+2ε(|A|+ε) . (67)
Da |A|, |B| < ∞, beweist (67) die Messbarkeit von A × B.
Schritt 3: Seien nun A und B zwei beliebige messbare Mengen. Wir definieren
Ak := A×Bk (0) und Bk := B×Bk (0). Mit Schritt 2 folgt die Messbarkeit von Ak und
Bk . Da Ak × Bk ↑ A × B, können wir auf die Messbarkeit von A × B schliessen.
Beweis des Satzes von Tonelli. Wir definieren
(
min{k, f (x, y)}, wenn |(x, y)| ≤ k
fk (x, y) :=
0,
wenn |(x, y)| ≥ k .
Für alle k ∈ N ist fk messbar. Ausserdem gilt fk ↑ f und
Z
Z
0 ≤ fk ≤ k · 1Bk (0) = k|Bk (0)| < ∞ .
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
76
Wir schliessen, dass fk ∈ L1 (Rn × Rm ) ist und können daher den Satz von Fubini
anwenden,
d.h. die Funktion y 7→ f (x, y) ist messbar für f.a. x ∈ Rn und die Funktion
R
x 7→ f (x, y) dy ist ebenfalls messbar für f.a. x. Wie im Beweis von Lemma 5.7
definieren wir
Zk := {x ∈ Rn : y 7→ fk (x, y) nicht messbar}
und
Z :=
[
Zk .
k
Z ist eine Nullmenge und wenn x 6∈ Z, ist y 7→ fk (x, y) messbar ∀k. Da fk (x, ·) ↑
f (x, ·) ist auch y 7→ f (x, y) messbar für x ∈
/ Z.
Wegen des Satzes über die monotone Konvergenz gilt für x 6∈ Z:
Z
Z
f (x, y) dy
fk (x, y) dy ↑
Rm
Rm
{z
} |
{z
}
|
=:gk (x)
=:g(x)
Deshalb gilt: gk ↑ g fast überall und folglich
ist
R
R g messbar. Ferner folgt aus dem Satz
über die monotone Konvergenz, dass gk ↑ g. Weiter ist
Z
Z
Z Z
Z
Z Z
fk (x, y) dy dx = gk ↑ g =
f (x, y) dy dx
fk =
Rn ×Rm
Fubini
Rn
Rm
Rn
Rm
und
Z
Z
↑
fk
Z
⇒
f
monotone
Konvergenz
Rn ×Rm
Z
Rn ×Rm
f=
Rn ×Rm
Z
f (x, y) dy
Rn
dx .
Rm
Korollar 5.11. Sei E ⊂ Rn × Rm eine messbare Menge und f ∈ L1 (E). Dann gilt
für fast alle x ∈ Rn :
• die Menge Ex := {y ∈ Rm : (x, y) ∈ E} ist messbar
• die Funktion f (x, ·) ∈ L1 (Ex )
R
R R
• E f = Rn Ex f (x, y) dy dx.
Beweis. Wir setzen
(
f (x, y), (x, y) ∈ E
f˜(x, y) :=
0,
(x, y) ∈
/ E.
Dann folgt:
Z
Z
f=
E
f˜ .
Rn ×Rm
Aus dem Satz von Fubini folgt, dass die Funktion y 7→ f˜(x, y) = f (x, y) ∈ R für fast
alle x messbar ist. Es ist klar, dass 1E ≥ 0. Aus dem Satz von Tonelli folgt, dass die
Funktion y 7→ 1E (x, y) für fast alle x messbar ist.
5 DIE SÄTZE VON FUBINI UND TONELLI
77
Da 1E (x, y) = 1Ex (y) ist, bedeutet dies, dass Ex für fast alle x messbar ist. D.h.
für alle y ∈ Ex ist die Funktion y 7→ f˜(x, y) = f (x, y) ∈ R für fast alle x messbar.
Ausserdem haben wir
Z
Z
f (x, y) dy =
f˜(x, y) dy
Rm
Ex
und
Z
Z
Z
Z
f (x, y) dy dx =
Rn
Ex
Rn
Rm
f˜(x, y) dy dx =
Z
f.
Rn ×Rm
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
6
78
Abstrakte Masstheorie
6.1
Allgemeine σ-Algebren
Definition 6.1. Sei X eine Menge. Eine σ-Algebra Σ auf X ist eine Teilmenge
von P(X) mit folgenden Eigenschaften:
1) X ∈ Σ;
2) wenn E ∈ Σ, dann E c ∈ Σ;
S
3) wenn {Ei }i∈N ⊂ Σ, dann i∈N Ei ∈ Σ .
Die Beweise der meisten Sätze und Lemmata dieses Kapitels sind einfache Modifizierungen der Beweise der Aussagen für die σ-Algebra der Lebesgue-messbaren
Mengen. Deshalb beweisen wir in diesem Kapitel nur jene Aussagen, die neue Ideen
brauchen.
Satz 6.2. Für jede σ-Algebra Σ gelten die Eigenschaften b), c), d), e) und f ) des
Theorems 2.34.
Definition 6.3. Sei Σ ⊂ P(X) eine σ-Algebra. Ein Mass auf Σ ist eine Abbildung
µ : Σ → [0, +∞] mit folgenden Eigenschaften:
a) µ(∅) = 0;
b) µ(E) ≤ µ(F ), wenn E ⊂ F ;
c) für jede Familie {Ek }k∈N ⊂ Σ disjunkter Mengen (d.h. Ek ∩ Ej = ∅ ∀k 6= j)
gilt:
!
∞
∞
X
[
µ(Ek ) .
(68)
µ
Ek =
k=1
k=1
Wenn Σ eine σ-Algebra auf X ist und µ ein Mass auf Σ, dann nennen wir das Tripel
(X, Σ, µ) einen Massraum.
Die Eigenschaften b) und c) werden “Monotonie” beziehungsweise “σ-Additivität”
genannt.
Lemma 6.4 (σ-Subadditivität). Sei {Ek } ⊂ Σ. Dann gilt:
!
∞
∞
[
X
µ
Ek ≤
µ(Ek ) .
k=1
k=1
S
Beweis. Wir betrachten die Mengen Fk := Ek \( k−1
i=1 Ei ). Dann ist Fi ∈ Σ, Fi ⊂ Ei
∀ i und Fi ∩ Fj = ∅, wenn i 6= j. Also ist
!
!
∞
∞
∞
∞
[
[
X
X
µ
Ei = µ
Fi =
µ(Fi ) ≤
µ(Ei ) .
i=1
i=1
i=1
i=1
Satz 6.5. Sei Σ eine σ-Algebra und {Ek } ⊂ Σ eine monotone Folge von Mengen.
Dann gelten folgende Aussagen:
i) Falls Ek ↑ E ⇒ E ∈ Σ und µ(Ek ) ↑ µ(E).
ii) Falls Ek ↓ E ⇒ E ∈ Σ. Wenn es k0 mit µ(Ek0 ) < +∞ gibt, dann gilt sogar
µ(Ek ) ↓ µ(E).
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
6.2
79
Messbare Funktionen
Definition 6.6. Sei Σ eine σ-Algebra. Eine Abbildung f : X → R heisst Σ-messbar,
wenn
{f > a} ∈ Σ
∀ a ∈ R.
Satz 6.7. Sei Σ eine σ-Algebra.
i) Wenn f und g messbare Funktionen sind, so sind auch f + g, f · g, f /g, c · f ,
für c ∈ R messbar, wenn diese Operationen wohldefiniert sind (d.h. wenn 0 · ∞
oder −∞ + ∞ nur auf einer Nullmenge auftreten). Wenn φ : R → R stetig ist
und f reellwertig und messbar, dann ist auch die Komposition φ ◦ f messbar.
ii) Wenn fk : E → R ein Folge von messbaren Funktionen ist, dann sind auch
inf fk , sup fk , lim inf fk und lim sup fk messbar.
P
iii) Eine einfache Funktion f = N
i=1 λi 1E mit λi 6= λj , Ei ∩ Ej = ∅ ∀i 6= j ist
genau dann messbar, wenn Ei ∈ Σ ∀i .
iv) Wenn f ≥ 0 und messbar ist, existiert eine Folge nicht-negativer, messbarer
einfacher Funktionen {fk } mit fk ↑ f .
Theorem 6.8 (Satz von Egorov). Sei (X, Σ, µ) ein Massraum, E ∈ Σ eine Menge
mit endlichem Mass (d.h. µ(E) < ∞) und fk : E → R eine Folge von messbaren
Funktionen, die fast überall gegen eine Funktion f konvergiert. Dann gilt: ∀ε > 0,
∃F ∈ Σ mit µ(F ) < ε, so dass fk gleichmässig auf E\F konvergiert.
Bemerkung 6.9. Es gibt keine Version des Satzes von Lusin für einen allgemeinen
Massraum. Damit der Satz von Lusin in einem Massraum gilt, muss der Massraum
auch über eine topologische Struktur verfügen, die bestimmte Eigenschaften und
eine gewisse“Kompatibilität” mit der entsprechenden σ-Algebra mit sich bringt.
6.3
Integrale
In diesem Kapitel sei (X, Σ, µ) immer ein Massraum.
P
Definition 6.10. Sei f = N
i=1 λi 1Ei eine einfache messbare Funktion mit λi ≥ 0
und Ei ∩ Ej = ∅, ∀i 6= j. Dann definieren wir das Integral von f wie folgt:
Z
f dµ :=
N
X
λi µ(Ei ) ,
i=1
dabei gilt die Konvention, dass λi µ(Ei ) = 0, wenn λi = 0 und µ(Ei ) = ∞.
Lemma 6.11. Sei f ≥ 0 eine einfache Funktion. Dann ist
Z
Z
f dµ = sup
g dµ : 0 ≤ g ≤ f mit g einfach und messbar .
Beweis. Sei S := { g : g einfach und messbar und 0 ≤ g ≤ f }. Da f ∈ S ist, gilt:
Z
Z
f dµ ≤ sup g dµ .
g∈S
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
80
Daher genügt es die folgende Behauptung zuR beweisen:
R Falls 0 ≤ g ≤ f und f, g
einfache messbare Funktionen sind, dann ist gdµ ≤ f dµ. Wir können f und g
wie folgt darstellen:
f=
N
X
λi 1Ei
und
g=
i=1
M
X
γi 1Fi ,
i=1
wobei
• Ei ∩ Ej = ∅ = Fi ∩ Fj ∀i 6= j;
• Ei 6= ∅ =
6 Fj ∀i, j;
S
S
• X = i Ei = j Fj .
Da 0 ≤ g ≤ f ist, gilt:
• λi ≥ 0, γj ≥ 0 ∀i, j;
• γj ≤ λi , wenn Ei ∩ Fj 6= ∅.
Nun ist
Z
f dµ =
N
X
λi µ(Ei ) =
i=1
N
X
λi µ Ei ∩
i=1
und da
(
M
[
!
Fk
k=1
=
N X
M
X
λi µ(Ei ∩ Fk )
i=1 k=1
Ei ∩ Fj = ∅ ⇒ µ(Ei ∩ Fk ) = 0,
Ei ∩ Fj 6= ∅ ⇒ λi ≥ γk ,
haben wir
Z
f dµ =
=
N X
M
X
i=1 k=1
M
X
N
X
k=1
i=1
γk
N X
M
X
λi µ(Ei ∩ Fk ) ≥
!
µ(Ei ∩ Fk )
γk µ(Ei ∩ Fk )
i=1 k=1
M
X
=
k=1
γk µ
N
[
!
(Ei ∩ Fk )
Z
=
g dµ .
i=1
Definition 6.12. Sei f ≥ 0 eine messbare Funktion. Dann definieren wir:
Z
Z
f dµ := sup
g dµ .
0≤g≤f
g einfach
und messbar
Satz 6.13. Seien f und g zwei messbare Funktionen, dann gelten die folgenden
Aussagen:
R
R
(i) 0 ≤ f ≤ g ⇒ f dµ ≤ g dµ;
R
(ii) f ≥ 0 und µ({f > 0}) = 0 (d.h. f ist f.ü. gleich 0) ⇒ f dµ = 0.
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
81
Beweis. (i) Es ist
Z
f ≤g ⇒
Z
h dµ ≤
sup
0≤h≤f
h einfach
und messbar
Z
h dµ ⇒
sup
Z
f dµ ≤
g dµ .
0≤h≤g
heinfach
und messbar
(ii) Wir haben
Z
Z
f dµ =
sup
h dµ,
0≤h≤f
h einfach
und messbar
{h > 0} ⊂ {f > 0} ⇒ µ({h > 0}) = 0
und
h=
N
X
(Ei ∩ Ej = ∅, λi 6= λj , ∀i 6= j).
λi 1Ei
i=1
Wenn λi = 0, dann ist λiRµ(Ei ) = 0. Wenn λi > 0, so ist Ei ⊂ {h > 0} und damit
µ(Ei ) = 0. Deshalb folgt hdµ = 0.
Definition 6.14. Sei E ∈ Σ und f : E −→ [0, ∞] eine messbare Funktion. Dann
ist auch f · 1E messbar. Wir setzen
Z
Z
f dµ :=
f · 1E dµ .
E
X
Eine äquivalente Definition ist auch:
Z
f dµ =
Z
sup
g dµ .
0≤g≤f
g=0 auf E c
g einfach und messbar
E
X
Lemma 6.15. Sei {fk } mit fk ≥ 0 eine monotone Folge einfacher messbarer Funktionen, so dass fk ↑ f . Sei g eine einfache messbare Funktion mit g ≤ f . Dann
gilt:
Z
Z
g dµ ≤ lim
k→+∞
E
Beweis. Sei
g=
N
X
fk dµ .
E
λi 1Ei + 0 · 1X\ S Ei ,
i=1
wobei die Ei disjunkte messbare Mengen sind und λi > 0. Für ε > 0 sei
gε :=
N
X
(λi − ε)1Ei .
i=1
Dann ist gε ≥ 0 für ε klein genug und
Z
E
Z
N
N
X
X
gε dµ =
(λi − ε) µ(Ei ) −→
λi µ(Ei ) =
g dµ .
ε→0
i=1
i=1
Deshalb genügt es, zu zeigen, dass
Z
Z
lim
fk dµ ≥
gε dµ
k→+∞
E
E
∀ε > 0 .
(69)
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
82
Für λi > 0 und ∀x ∈ Ei haben wir
lim fk (x) ≥ λi > gε (x) .
k→+∞
Das bedeutet, dass
{f > g } ∩ Ei
| k {zε
}
↑ Ei .
(70)
monotone Folge von Mengen
Sei nun
fk :=
M
X
γj 1Fj ,
j=1
wobei Fj ∩ Fi = ∅ ∀j 6= i und X =
M
X
Z
fk dµ =
E
S
j
Fj . Dann folgt:
γj µ(Fj ) ≥
M X
N
X
j=1
j=1 i=1
M X
N
X
≥
γj µ(Ei ∩ Fj )
γj µ(Ei ∩ Fj ∩ {fk > gε })
j=1 i=1
M X
N
X
≥
(λi − ε)µ(Ei ∩ Fj ∩ {fk > gε })
j=1 i=1
N
M
X
X
=
(λi − ε)
µ(Ei ∩ Fj ∩ {fk > gε })
i=1
j=1
N
X
=
(λi − ε)µ Ei ∩
i=1
M
[
!
Fj
!
∩ {fk > gε }
j=1
N
X
(λi − ε) µ(Ei ∩ {fk > gε }) .
=
i=1
Deshalb ist
Z
fk dµ ≥
lim
k→∞
E
N
X
i=1
(70)
(λi − ε) lim µ(Ei ∩ {fk > gε }) =
k→∞
Z
gε ,
d.h. (69) ist gezeigt.
Lemma 6.16.
(i) (Linearität)
Seien f, g : E −→ R zwei nicht-negative messbare Funktionen und c1 , c2 positive Zahlen. Dann gilt:
Z
Z
Z
c1
f dµ + c2
g dµ = (c1 f + c2 g) dµ .
E
E
E
(ii) (Additivität)
Sei f : E −→ R eine nicht-negative messbare Funktion. Weiter seien E1 und
E2 zwei messbare Mengen mit E1 ∩ E2 = ∅ und E1 ∪ E2 = E. Dann ist
Z
Z
Z
f dµ =
f dµ +
f dµ .
E
E1
E2
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
Beweis.
83
(i) Seien f und g einfache messbare Funktionen, d.h.
f=
N
X
λi 1Ei und g =
M
X
i=1
γj 1Fj
j=1
mit der üblichen Konvention, dass {Ei } und {Fj } zwei Zerlegungen von X
sind. Dann ist
Z
n
X
X
f=
λi µ(Ei ) =
λi · µ(Ei ∩ Fj )
E
i=1
und
Z
g=
E
i,j
M
X
γj µ(Fj ) =
j=1
X
γj µ(Fj ∩ Ei ) .
i,j
Sei x ∈ Fj ∩ Ei . Dann ist c1 f (x) + c2 g(x) = c1 λi + c2 γj und damit
Z
X
(c1 f + c2 g) =
(c1 λi + c2 γj )µ(Ei ∩ Fj )
E
i,j
= c1
X
X
λi · µ(Ei ∩ Fj ) + c2
i,j
i,j
Z
= c1
γj · µ(Ei ∩ Fj )
Z
f + c2
g.
E
Seien nun f und g beliebige messbare Funktionen. Wir haben dann
• ∃ {fiR} eine Folge nicht-negativer
einfacher Funktionen, so dass 0 ≤ fi ≤ f
R
und E fi dµ −→ E f dµ.
R
• R∃{gi } eine Folge einfacher Funktionen, so dass 0 ≤ gi ≤ g und E gi dµ −→
g dµ.
E
Nun ist
c1 f + c2 g ≥ c1 fi + c2 gi ≥ 0
Z
Z
Z
Z
f i + c2
gi
(c1 f + c2 g) ≥ (c1 fi + c2 gi ) = c1
=⇒
E
E
E
E
Z
Z
Z
=⇒
(c1 f + c2 g) ≥ c1
f + c2
g.
i→+∞
E
E
E
Es bleibt noch zu zeigen, dass
Z
Z
Z
(c1 f + c2 g) ≤ c1
f + c2
g.
E
Per Definition ist
E
E
Z
Z
(c1 f + c2 g) =
sup
h.
0≤h≤c1 f +c2 g
h einfach
und messbar
E
E
Sei {h̃k } eine Folge einfacher messbarer Funktionen, so dass limk→+∞
R
(c f + c2 g) und h̃k ≤ c1 f + c2 g. Wir behaupten nun, dass
E 1
Z
Z
Z
h̃k ≤ c1
f + c2
g.
E
E
E
R
E
h̃k =
(71)
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
84
Mit dem Approximationssatz wählen wir zwei Folgen {fi } und {gi } einfacher
messbarer und nicht-negativer Funktionen, so dass fi ↑ f und gi ↑ g. Mit
Hilfslemma 6.15 folgt:
Z
Z
lim
(c1 fi + c2 gi ) ≥
h̃k .
i→+∞
E
E
Da fi und gi einfache Funktionen sind, wissen wir bereits, dass das Integral
linear ist, d.h.
Z
Z
Z
Z
Z
fi + c2 lim c2
gi ≤ c1 f + c2 g .
lim (c1 fi + c2 gi ) = c1 lim
i→∞
i→∞
E
i→∞
E
E
Die letzte Ungleichung zeigt (71). (NB: Die letzte Ungleichung wird nicht aus
der Konvergenz des Integrals geschlossen, da wir noch keine allgemeine Version
des Satzes von Beppo Levi bewiesen haben! Die Ungleichung folgt vielmehr aus
der Definition des Integrals).
(ii) f ≥ 0 ist messbar mit Definitionsbereich E = E1 ∪ E2 . Die Mengen E, E1 und
E2 sind messbar. Zudem ist E1 ∩ E2 = ∅. Es folgt, dass
f · 1E1 + f · 1E2 = f (1E1 + 1E2 ) = f .
{z
}
|
=1 auf E
Deshalb ist
Z
Z
f+
E1
Z
Z
f · 1E1 +
f=
E2
E1
Z
f · 1E2 =
(i)
E2
Z
(f 1E1 + f 1E2 ) =
E
f.
E
Theorem 6.17 (Satz von Beppo Levi für nicht-negative Funktionenfolgen).
Sei {fk } mit fk ≥ 0 eine monotone Folge messbarer Funktionen mit fk ↑ f . Dann
gilt:
Z
Z
f = lim
fk .
k→+∞
Beweis. Aus f ≥ fk und der Monotonie des Integrals folgt
wollen nun die Ungleichung
Z
Z
f ≤ lim
fk
R
f ≥
R
fk ∀k. Wir
k→∞
beweisen. Wir erinnern uns, dass
Z
Z
f=
sup
g.
0≤g≤f
g einfach
und messbar
Also genügt es, zu zeigen, dass
Z
Z
g ≤ lim
fk
k→+∞
∀g einfach und messbar mit 0 ≤ g ≤ f.
Analog zu dem Verfahren im Beweis von Satz 3.18 finden wir für jedes k eine einfache
nicht-negative Funktion hk , so dass
fk −
1
≤ hk ≤ fk
k
auf {fk ≤ k}
und
hk = k auf {fk ≥ k}.
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
85
Es ist leicht zu sehen, dass hk ↑ f . Deshalb erhalten wir mit Hilfslemma 6.15:
Z
Z
Z
g ≤ lim
hk ≤ lim
fk .
k→∞
k→∞
Definition 6.18. Sei f : X → R eine messbare Funktion. Wie in der Masstheorie
von Lebesgue definieren wir f + := max{f, 0} und f − := max{−f, 0}. Dann sind die
Funktionen f ± messbar, f + ≥ 0, f − ≥ 0 und f = f + − f − . Wir sagen, dass
R
R
R
(i) X f dµ existiert, wenn X f + dµ < ∞ oder X f − dµ < ∞;
R
R
(ii) f ∈ L1 (X, µ), wenn X f + < ∞ und X f − < ∞.
Wenn i) gilt definieren wir das Integral von f als
Z
Z
Z
+
f dµ :=
f dµ −
f − dµ .
X
X
X
Theorem 6.19. Es gelten folgende Aussagen:
R
R
R
(i) f ∈ L1 (X, µ) ⇔ X |f | dµ < ∞ und X f dµ ≤ X |f | dµ.
(ii) Falls |f | ≤ |g| fast überall und g ∈ L1 (X, µ), dann ist f ∈ L1 (X, µ).
(iii) Wenn f ∈ L1 (X, µ), dann ist f (x) < ∞ für fast alle x ∈ X.
R
R
(iv) Wenn
f
=
g
fast
überall
und
f
dµ
existiert,
dann
existiert
auch
g dµ
X
X
R
R
und X f dµ = X g dµ.
R
R
(v) RFalls X f dµ Rexistiert und c ∈ R, dann existiert auch (cf ) dµ und es ist
(cf ) dµ = c f dµ .
(vi) Wenn f, g ∈ L1 (X, µ) und λ, µ ∈ R, dann ist λf + µg ∈ L1 (X, µ) und
Z
Z
Z
(λf + µg) = λ f + µ g .
6.4
Konvergenzsätze
Theorem 6.20 (Satz von Beppo Levi in allgemeiner Form). Seien {fk } und
f messbare Funktionen.
R
i) RFalls fk ↑ f und es ein Φ ∈ L1 (X, µ) gibt mit f0 ≥ Φ, dann gilt: X fk dµ ↑
f dµ.
X
R
ii) RFalls fk ↓ f und es ein Φ ∈ L1 (X, µ) mit f0 ≤ Φ gibt, dann gilt: X fk dµ ↓
f dµ.
X
Theorem 6.21 (Lemma von Fatou in allgemeiner Form). Sei {fk } eine Folge
messbarer Funktionen, so dass ein Φ ∈ L1 (X, µ) existiert mit f ≥ Φ, dann gilt die
Ungleichung
Z
Z
(lim inf fk )dµ ≤ lim inf
X
k→∞
k→∞
fk dµ .
X
6 ABSTRAKTE MASSTHEORIE
86
Theorem 6.22 (Satz von Lebesgue in allgemeiner Form). Seien f , {fk }
messbare Funktionen und sei Φ ∈ L1 (X, µ) mit |fk | ≤ Φ ∀k. Falls fk fast überall
gegen f konvergiert, dann ist
Z
Z
lim
fk dµ =
f dµ .
k→+∞
X
X
Die Konvergenzsätze folgen aus Satz 6.17: Die Beweise funktionieren genau gleich, wie jene für die Lebesguesche Masstheorie.
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
7
87
Transformationssatz und Zerlegung der Einheit
7.1
Der Transformationssatz
Seien Ω, Γ ⊂ Rn und F : Ω → Γ eine Lipschitz-stetige Abbildung. Wir wissen
von Theorem 2.42 in Kapitel 2.6, dass F (E) eine messbar Menge ist falls E ⊂ Ω
messbar ist. Es gibt eine Formel, die einen Zusammenhang zwischen dem Mass
von F (E) und demjenigen von E und der Determinante des Differentials von F
herstellt (eine Lipschitz-stetige Abbildung ist fast überall differenzierbar: diese Aussage ist das bekannte Theorem von Rademacher, eines der wichtigsten Theoreme
der reellen Analysis). In diesem Kapitel werden wir diese Formel für eine Spezialfall
beweisen, d.h. wenn die Abbildung F zusätzlich ein Diffeomorphismus ist (d.h. eine
umkehrbare C 1 -Abbildung mit C 1 -Umkehrfunktion).
Theorem 7.1 (Transformationssatz). Sei folgendes gegeben:
• Ω, Γ ⊂ Rn zwei offene Mengen,
• F : Ω → Γ ein Diffeomorphismus,
• E eine beschränkte messbare Menge mit E ⊂ Ω,
• f : Γ → [0, ∞] eine messbare Funktion (bzw. f : E → R eine L1 -Funktion).
Dann ist f ◦ F messbar (bzw. eine L1 -Funktion) und es gilt:
Z
Z
f.
f ◦ F | det dF | =
(72)
F (E)
E
Wir bemerken, dass die Funktion f ◦ F | det dF | integrierbar ist: Denn | det dF |
ist eine stetige Funktion und somit messbar. Falls f ◦ F nicht-negativ ist, so ist auch
f ◦ F | det dF | nicht-negativ: In diesem Fall bedeutet integrierbar einfach messbar.
Falls f ◦ F ∈ L1 (E), dann bemerken wir zudem, dass | det dF | eine beschränkte
Funktion auf E ist (weil E ⊂ Ω kompakt und | det dF | stetig ist). Also ist (f ◦
F | det dF |) ∈ L1 (E).
Mit Theorem 7.1 können wir das Mass des Bildes F (E) leicht berechnen.
Korollar 7.2. Seien Ω, Γ und F wie in Theorem 7.1. Dann ist F (E) messbar für
jede messbare Menge E ⊂ Ω und es gilt:
Z
|F (E)| =
| det dF | .
(73)
E
Beweis. Falls E beschränkt ist und E ⊂ Ω, dann ist die Formel (73) eine Folgerung
der Formel (72), wenn wir f := 1Γ setzen. Sei nun E eine allgemeine messbare
Teilmenge von Ω und {Fk } eine wachsende Folge kompakter Teilmengen von Ω mit
Fk ↑ Ω (nutzen Sie eine Whitney-Zerlegung, um die Existenz einer solchen Folge zu
zeigen!). Wir definieren E0 := E ∩ F0 und Ek := E ∩ Fk \ Fk−1 , falls k ≥ 1. Dann ist
Z
X
XZ
|F (E)| =
|F (Ek )| =
| det dF | =
| det dF | .
k
k
Ek
E
(wobei die erste Gleichung aus der Injektivität von F folgt).
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
88
Die Einschränkung der Funktion F in Theorem 7.1 auf eine kompakte Teilmenge
von Ω ist Lipschitz-stetig. Deshalb folgt die Messbarkeit von F (E) aus Theorem
2.42. Wir werden später sehen, dass der Beweis von Theorem 7.1 auf dem Stoff von
Kapitel 2.6 basiert.
Als nächstes werden wir sehen, dass der folgende Satz die Kernidee für den Beweis
des Transformationssatzes ist.
Satz 7.3. Seien Ω, Γ und F wie in Theorem 7.1 und I ⊂ Ω ein abgeschlossenes
Intervall. Dann ist
Z
|F (I)| = | det dF | .
(74)
I
Beweis von Satz 7.1. Die allgemeine Formel (72) folgt leicht aus (74). Wir skizzieren
hier den Beweis dieser Tatsache.
Schritt 1: Die Transformationsformel (73) gilt für offene Mengen: Wir finden
eine Whitney-Zerlegung und nutzen die Bemerkungen im Beweis von Korollar 7.2.
Schritt 2: Die Formel gilt für jede beschränkte Gδ -Menge A: In diesem Fall ∃
eine fallende Folge Ak ↓ A mit Ak offen und beschränkt. Deshalb ist
Z
Schritt 1
|F (B)| = lim |F (Ak )|
=
lim
| det dF |
k→+∞
k→+∞ A
k
Z
Z
Z
| det dF | 1B =
| det dF |.
= lim
| det dF |1Ak =
k→+∞
Rn
Rn
B
Die Formel gilt für allgemeine Gδ -Mengen: für jede solche Menge B finden wir eine
Folge von beschränkten Gδ -Mengen Bk ⊂ Ω mit Bk ↑ B.
Schritt 3: Die Formel gilt für jede messbare Menge E. Sei D ⊂ Ω messbar.
Dann ist D = B \ Z, wobei B eine Gδ -Menge und Z eine Nullmenge ist. Da F
auf kompakten Teilmengen von Ω Lipschitz-stetig ist, folgt aus Theorem 2.42, dass
F (Z) eine Nullmenge ist, wenn Z ⊂ Ω. Aber wir können die Idee des Beweises von
Korollar 7.2 anwenden und eine Darstellung von Z als abzählbare Vereinigung von
Nullmengen Zk mit Z k ⊂ Ω kompakt finden. Deshalb ist auch F (Z) eine Nullmenge
und
Z
Z
Schritt 2
|F (D)| = |F (B)|
=
| det dF | =
| det dF | .
B
D
Schritt 4: Mit Schritt 3 folgt
PNdie Transformationsformel (72) für einfache messbare Funktionen: Sei also f = i=1 λi 1Ai eine messbare Funktion mit Ai ⊂ Γ. Dann
sind auch die Mengen F −1 (Ai ) =: Bi messbar (die Umkehrung F −1 : Γ → Ω ist
auch eine C 1 -Abbildung!). Wir haben dann
Z
X
X
X Z
f =
λi |F (E) ∩ Ai | =
λi |F (Bi ∩ E)| =
λi
| det dF |
F (E)
i
=
X
i
Z
Z X
E
i
E∩Bi
Z
1Ai ◦ F | det dF |
λi
E
i
=
1Bi | det dF | =
λi
i
X
E
Z
λi 1Ai ◦ F | det dF | =
f ◦ F | det dF | .
E
Schritt 5: Mit Schritt 4 folgt die Transformationsformel (72) für jede messbare
Funktion f ≥ 0: Wir wählen eine Folge {fk } nicht-negativer einfacher messbarer
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
89
Funktionen, die monoton gegen f konvergiert und wenden das Theorem über die
monotone Konvergenz (Satz von Beppo Levi) an.
Schritt 6: Mit Schritt 5 folgt die Transformationsformel (72) für jede messbare
Funktion f ≥ 0: Schliesslich erhalten wir die Transformationsformel (72) für L1 Funktionen, wenn wir die Identität f = f + − f − nutzen.
7.2
Beweis des Transformationssatzes: Teil I
Der Beweis des Satzes 7.3 baut auf den folgenden drei Lemmata auf:
Lemma 7.4. Es gibt eine Konstante C mit der folgenden Eigenschaft: Sei ε eine
positive reelle Zahl und F : Ω ⊂ Rn → Rn eine Abbildung mit der folgenden Eigenschaft:
|(F (x) − F (y)) − (x − y)| ≤ ε|x − y|
∀x, y ∈ Ω.
Dann ist
|F (E)| ≤ (1 +
√ n
nε) |E|
für jede offene Menge E.
(75)
Lemma 7.5. Falls F (x) = v + M x, mit v ∈ Rn , M ∈ Rn×n , dann gilt für jede
messbare Menge E ⊂ Rn : |F (E)| = |detM ||E|.
Lemma 7.5 haben wir schon in Kapitel 2.6 bewiesen: siehe Theorem 2.43. Lemma
7.4 folgt mit der gleichen Idee, wie die Abschätzung (41) in Theorem 2.42.
Für das dritte Lemma erinnern wir uns an die Taylor-Entwicklung erster Ordnung einer differenzierbaren Funktion:
Tx0 F (y) = F (x0 ) + dFx0 (y − x0 ) .
Wir bemerken, dass wenn F ein Diffeomorphismus ist, dann ist dFx0 (und damit
auch Tx0 F ) invertierbar.
Lemma 7.6. Sei ε > 0 und seien F und I wie in Satz 7.3. Dann ∃ δ > 0, so dass
(Tx0 F )−1 ◦ F (z) − (Tx0 F )−1 ◦ F (w) − (w − z) ≤ ε|z − w|
(76)
für jedes x0 ∈ I und z, w ∈ Bδ (x0 ) ∩ I.
Beweis von Lemma 7.4. Als erstes bemerken wir, dass F eine Lipschitz-stetige Funktion ist. Also folgt mit Teorem 2.42:
(i) F (E) ist messbar für jede messbare Menge E;
(ii) |F (E)| = 0 für jede Nullmenge E.
Nun beweisen wir den Satz für einen abgeschlossenen Würfel. Sei
W := [x1 − `, x1 + `] × . . . × [xn − `, xn + `]
ein solcher Würfel mit Mittelpunkt x und Seitenlänge 2`. Dann ist |y − x| ≤
∀y ∈ W . Betrachten wir den Würfel
W 0 := [f1 (x) − `, f1 (x) + `] × . . . × [fn (x) − `, fn (x) + `] .
√
n`
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
90
Wenn y ∈ W ist, dann ist y 0 = (y − x) + f (x) ∈ W 0 und
√
|f (y) − y 0 | ≤ ε|x − y| ≤ ε n` .
√
Wenn wir nun σ := (1 + nε)` setzen, so ist f (y) im Würfel
W 00 := [f1 (x) − σ, f1 (x) + σ] × . . . × [fn (x) − σ, fn (x) + σ]
enthalten. Deshalb ist F (W ) ⊂ W 00 und somit
√
√
|F (W )| ≤ |W 00 | = (1 + nε)n (2`)n = (1 + nε)n |W | .
S
Sei nun E offen
und
{W
}
eine
Whitney-Zerlegung
von
E.
Dann
ist
E
=
i
i∈I
i Wi
P
und |F (E)| ≤ i |F (Wi )|. Weiter ist Wi ∩ Wj eine Nullmenge für alle i 6= j und mit
(ii) folgt |F (Wi ∩ Wj )| = 0. Wir haben also
X
|F (E)| =
|F (Wi )| .
i
Da die Mengen Wi Würfel sind, impliziert obiges Argument
X
X
√
√
|Wi | = (1 + nε)n |E| .
|F (E)| =
|F (Wi )| ≤ (1 + nε)n
i
i
Beweis von Lemma 7.6. Seien x0 , x, y ∈ I. Dann ist
Tx0 F (x) − Tx0 F (y) = F (x0 ) + dFx0 (x − x0 ) − F (x0 ) − dFx0 (y − x0 ) = dFx0 (x − y)
und deshalb
|Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| ≤ c · |x − y| ,
(77)
wobei
c := max kdFx0 kO .
x0 ∈I
Setzen wir ω := dFx0 (x − y) und nutzen die Umkehrbarkeit von dFx0 , so ist
x − y = (dFx0 )−1 (ω). Nun folgt:
|ω| = c1 · |ω| .
|x − y| = (dFx0 )−1 (ω) ≤ max dFx−1
0
x0 ∈I
Deshalb haben wir
|Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| = |ω| ≥
1
· |x − y| .
c1
(78)
Mit (77) und (78) folgt:
|x − y|
≤ |Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| ≤ c2 · |x − y|,
c2
∀x0 , x, y .
(79)
Wir schreiben (76) als
|(Tx0 F )−1 ◦ F (z) − (Tx0 F )−1 ◦ F (w) − (z − w)| ≤ ε|z − w| .
|
{z
} | {z }
=:x
=:y
(80)
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
91
Zusammen mit (79) ist
|Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| ≤
ε
|z − w|
c2
(81)
zu zeigen. Wenn wir das zeigen können, folgt:
|x − y| ≤ c2 · |Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| ≤ c2
ε
· |z − w| = ε · |z − w| .
c2
Wegen der Linearität von dFx0 ist
=
=
=
=
Tx0 F (x) − Tx0 F (y)
Tx0 F ◦ (T Fx0 )−1 ◦ F (x) − Tx0 F ◦ (T Fx0 )−1 ◦ F (w) − (T Fx0 (z) − Tx0 F (w))
F (z) − F (w) − Tx0 F (z) + Tx0 F (w)
F (z) − F (w) − F (x0 ) − dFx0 (z − x0 ) + F (x0 ) + dFx0 (w − x0 )
(F (z) − dFx0 (z)) − (F (w) − dFx0 (w)) .
(82)
Wir definieren die Abbildung G durch G(ξ) := F (ξ) − dFx0 (ξ). Dann implizieren
(82) und der Schrankensatz
|Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| = |G(z) − G(w)| ≤ kdGξ k|z − w| ,
(83)
wobei ξ ein Punkt des Segments [z, w] ist.
Falls x, w ∈ Bδ (x0 ), dann gehört auch ξ zu Bδ (x0 ). Nun ist dGξ = dFξ − dFx0 .
Wegen der Stetigkeit von dF ∃δ > 0, so dass
kdFζ − dFx0 k ≤
c2
ε
für alle ζ ∈ Bδ (x0 ).
Mit dieser Wahl der Konstanten δ folgt, dass
|Tx0 F (x) − Tx0 F (y)| ≤
ε
|z − w| .
c2
Da I kompakt ist, ist dF gleichmässig stetig in einer Umgebung von I. Deshalb
können wir die Konstante δ unabhängig von x0 wählen.
7.3
Beweis des Transformationssatzes: Teil II
In diesem Kapitel schliessen wir den Beweis des Satzes 7.3 ab. Die Idee ist, dass
in einer kleinen Umgebungen eines Punktes x0 ∈ Ω die Taylorentwicklung Tx0 F
erster Ordnung der Funktion F eine gute Approximation von F ist. Die genaue
mathematische Formulierung dieser Idee ist durch Lemma 7.6 gegeben.
Beweis des Satzes 7.3. Sei ε > 0 gegeben. Wir wählen ein δ > 0, so dass die Behauptung von Lemma 7.6 gilt. Dann zerlegen wir I in kleinere sich nicht überlappende
Intervalle {Ii }i∈{1,...,N } mit der Eigenschaft, dass Ii ⊂ Bδ (xi ) mit xi ∈ I.
Da F Lipschitz-stetig ist, ist |F (∂Ii )| = 0 (siehe Theorem 2.42!). Die inneren
Kerne von Ji und Ii sind disjunkt und deshalb gilt:
X
X
|I| =
|Ji |
und
|F (I)| =
|F (Ji )| .
(84)
i
i
Wir wollen nun |F (Ji )| abschätzen. Wir schreiben
F (Ji ) = Txi F (Txi F )−1 ◦ F (Ji ))
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
92
und setzen G := (Txi F )−1 ◦ F . Dank Hilfssatz 7.5 wissen wir, dass
|F (Ji )| = | det dFxi ||G(Ji )| .
Mit Lemma 7.6 folgt, dass G die Bedingungen des Satzes 7.4 erfüllt. Deshalb haben
wir
|F (Ji )| ≤ (1 + Cε)n | det dFxi ||G(Ji )| .
Nun betrachten wir die Umkehrfunktion G−1 : G(Ji ) → Ji : Wir wissen, dass
|G(x) − G(y) − (x − y)| ≤ ε|x − y| .
Wenn wir nun x = G−1 (ξ) und y = G−1 (ζ) setzen, erhalten wir
|G−1 (ξ) − G−1 (ζ) − (ξ − ζ)| ≤ ε|G−1 (ξ) − G−1 (ζ)| .
Da G−1 Lipschitz-stetig ist, gibt es eine Konstante C (unabhängig von xi ), so dass
|G−1 (ξ) − G−1 (ζ)| ≤ C|ξ − ζ|. Deshalb ist die Bedingung von Satz 7.5 auch für G−1
erfüllt.
Also ist
−1
G (Tx0 F )−1 (F (Ji ) ≤ (1 + Cε)n |(Tx0 F )−1 (F (Ji ))|
|Ji |
=
Satz 7.5
=
(1 + Cε)n | det(dFx0 )−1 ||F (Ji )| .
Deshalb haben wir für jedes i:
(1 + Cε)−n | det dFxi ||Ji | ≤ |F (Ji )| ≤ (1 + Cε)n | det dFxi ||Ji | .
(85)
Da x 7→ det dFx stetig ist, können wir δ so klein wählen, dass
||det dFx | − |det dFy || < ε,
wenn |x − y| < δ.
Folglich haben wir
Z
|det dFxi ||Ji | =
Z
|det dFxi | =
Ji
Z
|det dF | +
Ji
Ji
|det dFxi | − |det dF |)
{z
}
|
<ε, da |xi −y|<δ ∀y∈Ji
Folglich ist
Z
Z
|det dF | − ε|Ji | ≤ |det dFxi | ≤
|det dF | + ε|Ji | .
(86)
Ji
Ji
(85) und (86) zusammen implizieren
Z
Z
−n
n
| det dF | + Cε|Ji | .
(1+Cε)
|det dF | − Cε|Ji | ≤ |F (Ji )| ≤ (1 + Cε)
Ji
Ji
(87)
Mit (84) und (87) folgt:
Z
Z
−n
n
(1 + Cε)
| det dF | − Cε|I| ≤ |F (I)| ≤ (1 + Cε)
| det dF | + Cε|I| ,
I
I
(88)
wobei die Konstante C in (88) nicht von ε abhängt. Wir lassen ε ↓ 0 und es folgt
die gesuchte Identität:
Z
| det dF | = |F (I)| .
I
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
7.4
93
Die Zerlegung der Einheit
Definition 7.7. Der Träger einer stetigen Funktion ϕ ist die Menge {ϕ 6= 0}.
Theorem 7.8. Sei A ⊂ Rn und O eine Überdeckung von A mit offenen Mengen.
Dann gibt es eine offene Menge V ⊃ A und eine Familie Φ := {ϕi } von C ∞ Funktionen ϕ : A → R mit folgenden Eigenschaften:
(i) 0 ≤ ϕ(x) ≤ 1,
(ii) ∀x ∈ A, ∃ eine Umgebung U von x, so dass nur endlich viele ϕ ∈ Φ positive
Werte auf U annehmen,
P
(iii)
ϕ∈Φ ϕ = 1,
(iv) ∀ϕ ∈ Φ, ∃U ∈ O, so dass der Träger von ϕ kompakt und in U enthalten ist.
Eine solche Familie Φ wie in Theorem 7.8 heisst eine zur Überdeckung O untergeordnete Zerlegung der Einheit (oder auch Zerlegung der Eins).
S
Bemerkung 7.9. Sei O eine Familie offener Mengen und U = U ∈O U . Sei
P f :U →
∞
R eine C -Funktion und sei Φ eine Zerlegung der Einheit. Dann ist f = ϕf . Jede
Funktion ϕf ist dann eine C ∞ -Funktion mit Träger in einer Menge U ∈ O. Deshalb
hat ϕf einen kompakten Träger in U, d.h. ϕf ∈ Cc∞ (U).
Lemma 7.10. ∀ Br (x0 ) ⊂ Rn , ∃ϕ ∈ C ∞ mit:
(i) ϕ ≡ 1 auf Br (x0 ),
(ii) ϕ ≡ 0 auf Rn \ B2r (x0 ),
(iii) 0 ≤ ϕ ≤ 1.
Beweis. O.B.d.A. können wir r = 1 und x0 = 0 wählen: Falls ϕ die Bedingungen
0
) die gesuchte Funktion für Br (x0 ).
für B1 (0) erfüllt, dann ist ψ(x) = ϕ( x−x
r
Wir suchen nun eine Funktion f : R → [0, 1] mit f ∈ C ∞ und
(
1, auf ] − 1, 1[
f=
0, auf ] − ∞, −2] ∪ [2, +∞[ .
Wir setzen dann ϕ(x) := f (|x|). Es ist einfach zu zeigen, dass eine solche Funktion
ϕ die Bedingungen des Lemmas erfüllt.
Nun werden wir die Existenz einer solchen Funktion f zeigen. Dazu definieren
wir α : [0, +∞[→ [0, +∞[ durch


falls t ∈ [0, 1]
0,
1
− (t−1)(2−t)
α(t) = e
, falls t ∈]1, 2[


0,
falls t ∈ [2, +∞[ .
Dann ist α ∈ C ∞ , α > 0 auf ]1, 2[ und α = 0 auf [0, 1] ∪ [2, +∞[. Wir definieren
weiter f : [0, ∞[→ [0, 1] durch

Rt

auf [0, 1]
1,
α(τ )dτ
0
⇒ f (t) = 0 < f (t) < 1, auf ]1, 2[
f (t) = 1 − R 2

α(τ )dτ

1
0,
auf [2, +∞[ .
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
94
Dann ist f ∈ C ∞ .
Schliesslich erhalten wir die gesuchte Funktion f mit einer Spiegelung, d.h. wir
setzen f (t) := f (−t) für t < 0.
Lemma 7.11. Es gibt eine C ∞ -Funktion λ : [0, ∞[→ R, so dass
• inf λ > 0;
• λ(t) = t ∀t ≥ 1.
Beweis. Wir nehmen die Funktion f von Lemma 7.10 und setzen λ(t) := t+f (t).
Beweis des Theorems 7.8. Fall 1: A ist eine kompakte Menge. ∀x ∈ A, ∃ Brx (x),
so dass B2rx ⊂ U (NB: der Radius hängt vom Punkt x ab). Damit ist {Brx (x)}x∈A
eine Überdeckung von A.
Sei {Bri (x)}i∈{1,...,N } eine endliche Teilfamilie, die A überdeckt (die Existenz einer
solchen Überdeckung folgt aus der Kompaktheit von A). Wir wenden nun Lemma
7.10 an und finden Funktionen ψi ∈ C ∞ (Rn ) mit 0 ≤ ψi ≤ 1 und
(
1, auf Bri (xi )
ψi =
0, auf Rn \ B2ri (xi ) .
Da {Brxi (xi )} eine Überdeckung von A ist, gilt:
ψ(x) :=
N
X
ψi (x) ≥ 1
∀x ∈ A.
i=1
ψi
. Die Funktion ist wohldefiniert und C ∞ , weil λ(ψ) > 0 überall.
Wir setzen ϕi := λ(ψ)
Weiter zeigt eine einfache Rechnung, dass
P
X
ψi (x)
ϕi (x) =
=1
∀x ∈ A ,
ψ(x)
i
weil ψ ≥ 1 auf A. Da der Träger von ϕi ⊂ B2ri (xi ) ⊂ U und 0 ≤ ϕi ≤ 1, ist
Φ = {ϕ1 , ..., ϕN } eine zu O untergeordnete Zerlegung der Eins.
n
Allgemeiner Fall. Sei A eine
S Teilmenge des R und O eine Überdeckung von A
mit offenen Mengen. Sei à := U ∈0 U . Dann ist à offen und O ist eine Überdeckung
von Ã. Deshalb genügt es, das Theorem für offene Mengen zu zeigen.
Sei also A eine offene Menge und O eine offene Überdeckung von A. Wir konstruieren folgende Mengen:
1
Ak := x ∈ A : dist (x, ∂A) ≥
∩Bk (0) .
k
|
{z
}
abgeschlossen
|
{z
}
abgeschlossen und beschränkt ⇒Ak ist kompakt
Wir haben nun Ak ↑ A und die Ak sind für alle k kompakt (man könnte eine solche
Folge von Mengen auch mithilfe der Whitney-Zerlegung konstruieren!).
Nun ist A \ Ak+1 eine offene Menge mit Ak ⊂ A \ Ak+1 . Setzen wir ∀k: Bk :=
◦
Ak \ Ak−1 , dann sind die Bk kompakt und für k = 1 ist B1 = A1 . Zusätzlich gilt:
dist (Bk , Bj ) ≥ dist (Bk , Bk+2 ) > 0 ∀j ≥ k + 2 .
Weiter gilt: ∀x ∈ Bk existieren U ∈ O mit x ∈ U und damit eine Kugel Brx (x), so
dass
7 TRANSFORMATIONSSATZ UND ZERLEGUNG DER EINHEIT
95
Abbildung 13: Die Folge Ak ↑ A.
• B2rx (x) ⊂ U ,
• rx ≤ 14 min{dist (Bk , Bk−2 ), dist (Bk , Bk+2 )}.
∀k sei Ok eine endliche Überdeckung von Bk mit Kugeln {Brxi (xi )}i∈Ik . Um die
Notation einfacher zu machen, schreiben wir Bi := Brxi (xi ) und B0i := B2rxi (xi ).
Wir setzen Ok0 := {B0i }i∈Ik ,
O :=
∞
[
Ok
und
k=1
S
Menge ∞
k=1
0
O :=
∞
[
Ok0 .
k=1
Nun überdeckt O die
Bk = A. Weiter gibt es für jedes x ∈ A eine offene
Umgebung à von x, so dass à ∩ Bi 6= ∅ für endlich viele Kugeln Bi ∈ O0 . Denn:
Sei x ∈ A und k, so dass x ∈ Bk . Sei Bj ∈ O eine Kugel die x enthält. Dann gilt:
S
0
Bi ∩ B0j 6= ∅ nur für die Kugeln B0j ∈ k+2
j=k−2 Oj , d.h. nur für endlich viele.
Diese Eigenschaft von O0 wird lokale Endlichkeit der Überdeckung genannt. Für
jedes i wählen wir eine Funktion ψi ∈ C ∞ (Rn ) mit ψi ≡ 1 auf Bi und ψi ≡ 0 auf
Rn \ B0i (siehe Lemma 7.10). Dank der lokalen Endlichkeit von O0 ist die Funktion
X
ψ(x) :=
ψi (x)
i∈O
∞
wohldefiniert und C . Daraus folgt auch ψ(x) ≥ 1 ∀x ∈ A, weil jedes x ∈ A in einer
Kugel Bi enthalten ist.
Sei nun ϕi := ψψi . Dann ist ϕi ∈ C ∞ (A), 0 ≤ ϕi ≤ 1 und ∀x ∈ A gilt:
P
X
i ψi (x)
ϕi (x) =
= 1.
ψ(x)
i
Der Träger der Funktionen ϕi ist in einer Kugel B2ri (xi ) enthalten, die wiederum in
einer Menge U ∈ O enthalten ist.
8 DER SATZ VON GAUSS
8
96
Der Satz von Gauss
8.1
Hyperflächen des Rn
Definition 8.1. Eine Untermannigfaltigkeit von Rn mit der Dimension k ist eine
Menge M ⊂ Rn , die folgende Bedingung an jeder Stelle x0 ∈ M erfüllt:
(U) Es gibt eine offene Umgebung U von x0 , eine offene Menge V ⊂ Rn und ein
Diffeomorphismus h : U → V , so dass
h(U ∩ M ) = {y ∈ V : yk+1 = . . . = yn = 0} .
In diesem Kapitel untersuchen wir die Untermannigfaltigkeiten des Rn mit Dimension n − 1. Solche Untermannigfaltigkeiten werden Hyperflächen genannt. Eine
Mannigfaltigkeit heisst C k - bzw. C ∞ -Mannigfaltigkeit, wenn die Abbildung h in
Definition 8.1 C k bzw. C ∞ ist.
Theorem 8.2. Eine Teilmenge M ⊂ Rn ist genau dann eine Hypefläche, wenn eine
der folgenden Aussagen an jeder Stelle x0 efüllt ist.
(P) Es gibt eine offene Menge W ⊂ Rn−1 , eine offene Umgebung U von x0 und eine
injektive C 1 -Abbildung Φ : W → U , so dass Φ(W ) = U ∩M , Rang (dΦΦ−1 (x0 ) ) =
n − 1 und die Umkehrabbildung Φ−1 : M ∩ U → W stetig ist.
(G) Es gibt eine offene Menge W ⊂ Rn−1 , eine offene Umgebung U von x0 und
eine C 1 -Abbildung f : W → R, so dass U ∩ M der Graph von f ist.
(N) Es gibt eine offene Umgebung U von x0 und eine Funktion g : U → R, so dass
∇g(x0 ) 6= 0 und U ∩ M = g −1 ({0}).
Beweis. (N) ⇒ (G): Dies ist einfach die Aussage des Theorems über implizite
Funktionen (aber aufpassen: die Umgebung U , die die Bedingung (G) erfüllt, ist
möglicherweise eine kleinere Menge als die Umgebung, die die Bedingung (N) erfüllt).
(G) ⇒ (P): Wir definieren die Funktion Φ : W → U als
Φ(x1 , . . . , xn−1 ) := (x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 )) .
Diese Abbildung ist injektiv, Φ(W ) = U ∩ M und der Rang von dΦ ist überall n − 1,
wie die explizite Berechnung der Jacobi-Matrix zeigt:


∂f
1 0 . . . 0 ∂x
1

 0 1 . . . 0 ∂f


∂x2
.
 .. .. . . .. ..

 . .
. . .
∂f
0 0 . . . 1 ∂xn−1
Die Umkehrabbildung Φ−1 (p) besteht einfach aus den ersten n − 1 Koordinaten an
der Stelle p ∈ M ∩ U und ist somit stetig.
(P) ⇒ (U): Seien y0 := Φ−1 (x0 ) und Z := dΦx0 (Rn−1 ). Die Dimension von Z
ist der Rang der linearen Abbildung dΦx0 , d.h. n − 1. Deswegen gibt es einen Vektor
v ∈ Rn , so dass v 6∈ Z. Wir konstruieren die Abbildung k : W × R → Rn wie folgt:
k(x1 , . . . , xn−1 , xn ) := Φ(x1 , . . . , xn−1 ) + xn v .
8 DER SATZ VON GAUSS
97
Offensichtlich ist k eine C 1 -Abbildung. Ausserdem ist k(y0 , 0) = x0 und der Rang
von dky0 ist gleich n, weil das Bild von dky0 den Raum Z und den Vektor v enthält.
Das Theorem über die Umkehrfunktion garantiert dann die Existenz zweier offener
Umgebungen V 0 und U 0 von (y0 , 0) und x0 , so dass k : V 0 → U 0 ein Diffeomorphismus
ist. Wir wollen nun zeigen, dass h(Bδ (x0 ) ∩ M ) ⊂ {xn = 0}, falls der Radius δ klein
genug ist. Wenn diese Behauptung falsch wäre, dann gäbe es eine Folge von Punkten
{zj } ⊂ M ∩ U 0 , so dass
|zj − x0 | <
1
j
und
h(zj ) 6= {xn = 0} .
Da zj ∈ M ∩U 0 ⊂ M ∩U ist, können wir die Punkte wj := Φ−1 (zj ) betrachten. Wegen
der Stetigkeit von Φ−1 konvergiert diese Folge gegen y0 . Sei nun pj := (zj , 0). Dann
ist k(pj ) = zj und wenn j gross genug ist, gehört (zj , 0) zu V 0 . Zusammenfassend:
pj und h(zj ) wären dann zwei verschiedene Punkte in V 0 mit k(pj ) = k(h(zj )) = zj :
das widerspricht jedoch der Injektivität von h auf V 0 .
(U) ⇒ (N): Seien (h1 , . . . , hn ) die Koordinatenfunktionen des Diffeomorphismus
h. Wir setzen g := hn . Die Bedingung h(U ∩ M ) = {y ∈ V : yn = 0} ist dann
äquivalent zu U ∩ M = g −1 ({0}). Zudem muss ∇g(x0 ) 6= 0 sein, sonst wäre das
Differential von h an der Stelle y0 nicht umkehrbar.
Definition 8.3. Sei (W, Φ) ein Paar, das die Bedingung (P) von Theorem 8.2
erfüllt. Dann heisst dieses Paar eine Karte und Φ eine gute Parametrisierung von
U ∩ M . Ein Atlas von M ist eine Familie von Karten Φi : Wi → M , i ∈ I, so dass
{Φi (Wi )}i∈I eine Überdeckung von M ist.
Seien nun (W, Φ) und (V, Ψ) zwei Karten mit Φ(W ) ∩ Ψ(V ) 6= ∅. Wir wollen
dann die folgenden Mengen und Abbildungen betrachten:
• W̃ := W ∩ Φ−1 (Ψ(V )), Ṽ := V ∩ Ψ−1 (Φ(W ));
• ϕ := Ψ−1 ◦ Φ, ψ := Φ−1 ◦ Ψ.
Die Funktion ϕ bildet W̃ auf Ṽ ab und ψ bildet Ṽ auf W̃ ab. Die beiden Funktionen
sind stetig, weil Kompositionen von stetigen Funktionen wieder stetig sind. Weiter
sind ϕ ◦ ψ und ψ ◦ ϕ die Identitätsabbildungen: ψ ist die Umkehrfunktion von ϕ. Es
folgt, dass ϕ : W̃ → Ṽ ein Homöomorphismus ist.
Sei nun x0 ∈ Ṽ , p = Φ(x0 ) und y0 = ϕ(x0 ) wie in Abbildung 14. Der Beweis der
Implikation “(P) ⇒ (U)” liefert uns:
• Eine Umgebung W 0 von (x0 , 0) ∈ W̃ × R, eine Umgebung Ω0 von p0 und ein
Diffeomorphismus h : W 0 → Ω0 , so dass h|V 0 ×{0} = Φ.
• Eine Umgebung W 0 von (y0 , 0) ∈ Ṽ × R, eine Umgebung Ω00 von p0 und ein
Diffeomorphismums k : V 0 → Ω00 , so dass k|W 0 ×{0} = Ψ.
Wir definieren nun:
• Ω := Ω0 ∩ Ω00 ;
• U := {x : (x, 0) ∈ h−1 (Ω)} = Φ−1 (Ω), Z := {y : (y, 0) ∈ k −1 (Ω)} = Ψ−1 (Ω).
8 DER SATZ VON GAUSS
98
p
Φ
Ψ
ϕ
ψ
x0
W
y0
W̃
Ṽ
V
Abbildung 14: Kartenwechsel mit den Abbildungen Φ, Ψ, ϕ und ψ.
Wir zeigen zuerst, dass U und Z offene Mengen sind: dies folgt aus der Offenheit von
Ω und aus der Stetigkeit von Φ und Ψ. Aber wir haben auch: Φ(U ) = M ∩Ω = Ψ(Z).
Deshalb ist U eine Teilmenge von W̃ und Z eine Teilmenge von Ṽ . Ausserdem haben
wir auch ϕ = Ψ−1 ◦ Φ = k −1 ◦ h und ψ = Φ−1 ◦ Ψ, d.h. die Abbildungen ϕ und ψ
sind C 1 -Funktionen. Deshalb ist ϕ : W̃ → Ṽ ein Diffeomorphismus.
Wir fassen die letzte Betrachtung im folgenden Satz zusammen:
Satz 8.4 (Kartenwechsel). Seien M ⊂ Rn eine Hÿperfläche, (W, Φ), (V, Ψ) zwei
Karten mit Φ(W ) ∩ Ψ(V ) 6= ∅ und Ṽ , W̃ , ϕ und ψ wie folgt definiert:
W̃ := W ∩Φ−1 (Ψ(V )) ,
Ṽ := V ∩Ψ−1 (Φ(W )) ,
ϕ := Ψ−1 ◦Φ
und
ψ := Φ−1 ◦Ψ .
Dann ist ϕ : W̃ → Ṽ ein Diffemorphismus und ψ seine Umkehrabbildung.
Definition 8.5. Die Abbildungen ϕ und ψ in Satz 8.4 heissen Kartenwechsel.
8.2
Das Flächenintegral
Sei M ⊂ Rn eine Hyperfläche, (W, Φ) eine Karte und K eine kompakte Teilmenge
von V . Sei f : Φ(K) → R eine stetige Funktion. Wir definieren das Integral von f
auf Ω := Φ(K) als
Z
Z
f :=
Ω
wobei
JΦ(x) =
f (Φ(x))JΦ(x) dx ,
(89)
K
q
det dΦtx · dΦx .
(90)
Die lineare Abbildung dΦtx : Rn → Rn−1 ist die Transposition der Abbildung dΦx .
Lemma 8.6. Der Wert des Integrals (90) hängt nicht von der Karte ab. D.h.: Wenn
(V, Ψ) eine zweite Karte ist und K ⊂ Φ−1 (Ψ(V )), dann haben wir
Z
Z
f (Φ(x))JΦ(x) dx =
f (Ψ(z))JΨ(z) dz .
(91)
K
Ψ−1 (Φ(K))
8 DER SATZ VON GAUSS
99
Beweis. Wir verwenden wieder die Notation des Satzes 8.4. Wir haben dann:
• Ψ−1 (Φ(K)) = ϕ(K);
• Φ = Ψ ◦ ϕ und deshalb dΦx = dΨϕ(x) dϕx .
Aus der letzten Gleichung erhalten wir:
(JΦ(x))2 = det(dΦtx · dΦx ) = det dϕtx · dΨtϕ(x) · dΨϕ(x) · dϕx
2
= det dϕtx det dΨtϕ(x) · dΨϕ(x) det dϕx = | det dϕx |2 JΨ(ϕ(x)) .
Wenn wir die Wurzel ziehen, folgt
JΦ(x) = | det dϕx |JΨ(ϕ(x)) .
Wir definieren noch g(z) := f (Ψ(z))JΨ(z). Dann haben wir
Z
Z
f (Ψ(z))JΨ(z) dz =
g
Ψ−1 (Φ(K))
und
ϕ(K)
Z
Z
g ◦ ϕ| det dϕ| .
f (Φ(x))JΦ(x) dx =
K
K
Nun folgt (90) aus dem Transformationssatz 7.1.
Seien nun M eine Hyperfläche, Ω ⊂ M eine kompakte Teilmenge und f : Ω → R
eine stetige Funktion. Sei {(Vi , Φi )}i∈I ein Atlas und {Ui } die entsprechenden offenen
Mengen, so dass Ui ∩ M = Φ(Vi ). {Ui } ist eine Überdeckung von Ω und deswegen
auch eine von M . Es gibt daher eine endliche Teilüberdeckung O = {U1 , . . . , UN }
von Ω. Sei nun {ϕi } eine zu O untergeordnete Zerlegung der Einheit. Dann ist der
Träger Ωi von ϕi f eine kompakte Teilmenge von Ui . Also ist Ki := Φ−1
i (Ωi ) eine
kompakte Teilmenge von Vi .
Definition 8.7 (Flächenintegral). Wir definieren das Integral von f auf Ω als
Z
f=
Ω
N
X
ϕi f =
i=1
N Z
X
i=1
ϕi (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx .
(92)
Ki
Satz 8.8. Das Flächenintegral ist wohldefiniert, d.h. es hängt weder von der Wahl
des Atlas, der Teilüberdeckung noch von der Zerlegung der Einheit ab.
Beweis. Sei {Ṽi , Φ̃i } ein zweiter Atlas, {Ũi } die entsprechenden offenen Mengen mit
M ∩ Ũi = Φ̃i (Ṽi ), Õ = {Ũ1 , . . . , ŨM } eine endliche Teilüberdeckung von K, {ϕ̃j }
eine zu Õ untergeordnete
Zerlegung der Einheit, Ω̃j die Träger von ϕ̃j f und K̃j :=
P
−1
Φ̃j (Ω̃j ). Da j ϕ̃j = 1 ist auf K, haben wir:
N Z
X
=
ϕi (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx
i=1 Ki
N X
M Z
X
i=1 j=1
Ki
ϕi (Φi (x))ϕ̃j (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx .
8 DER SATZ VON GAUSS
100
Wir nennen Ωij den Träger von ϕi ϕ̃j . Falls die zwei Mengen Φi (Vi ) und Φ̃j (Ṽj )
disjunkt sind, dann ist Ωij = ∅. In diesem Fall definieren wir Kij := K̃ij = ∅. Sonst
−1
setzen wir Kij := Φ−1
i (Ωij ) und K̃ij = Φ̃j (Ωij ). Im ersten Fall sind die beiden
Integrale
Z
ϕi (Φi (x))ϕ̃j (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx
Ki
und
Z
ϕi (Φ̃j (x))ϕ̃j (Φ̃j (x))f (Φ̃j (x))J Φ̃j (x) dx ,
K̃j
gleich 0. Im zweiten Fall können wir Lemma 8.6 anwenden:
Z
ϕi (Φi (x))ϕ̃j (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx
Ki
Z
=
ϕi (Φi (x))ϕ̃j (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx
Kij
Z
=
ϕi (Φ̃j (x))ϕ̃j (Φ̃j (x))f (Φ̃j (x))J Φ̃j (x) dx
K̃ij
Z
ϕi (Φ̃j (x))ϕ̃j (Φ̃j (x))f (Φ̃j (x))J Φ̃j (x) dx .
=
K̃j
Daraus folgt:
N Z
X
ϕi (Φi (x))f (Φi (x))JΦi (x) dx
Ki
=
i=1
N X
M Z
X
i=1 j=1
=
M Z
X
j=1
=
K̃j
M Z
X
j=1
ϕi (Φ̃j (x))ϕ̃j (Φ̃j (x))f (Φ̃j (x))J Φ̃j (x) dx
K̃j
N
X
!
ϕi (Φ̃j (x)) ϕ̃j (Φ̃j (x))f (Φ̃j (x))J Φ̃j (x) dx
i=1
ϕ̃j (Φ̃j (x))f (Φ̃j (x))J Φ̃j (x) dx .
K̃j
Wenn M selbst eine kompakte Menge ist, dann erhalten wir aus Definition 8.7
das Integral für eine beliebige stetige Funktion f : M → R. Der Fall f ≡ 1 ist
besonders interessant:
Definition 8.9. Sei M
R eine Hypefläche und K ⊂ M eine kompakte Teilmenge.
Dann ist das Integral K 1 der Inhalt von K.
Bemerkung 8.10. Wie bei der Theorie von Lebesgue ist es möglich, eine reine “geometrische” Definition des k-dimensionalen Inhaltes einer Menge im Rn herzuleiten.
Man kann dazu wie folgt vorgehen:
Für jede Menge A ⊂ Rn bezeichnen wir mit D(A) ihren Durchmesser, d.h.
D(A) := sup |y − x| .
x,y∈A
8 DER SATZ VON GAUSS
101
Wir bezeichnen mit Uδ (E) die Menge aller abzählbaren Überdeckungen {Ai }i∈N von
E mit beliebigen(!) Mengen Ai , so dass D(Ai ) < δ ∀i. Sei nun α ∈ [0, ∞[ und δ > 0.
Wir definieren
(
)
α
X
D(A
)
i
Hδα (E) := inf
ω(α)
: {Ai } ∈ Uδ (E) .
2
i
Für die Funktion ω(α) gibt es eine explizite Formel, die jedoch für den Moment
nicht interessant ist: Falls α = k ∈ N ist, dann ist ω(α) das Lebesgue-Mass der
Einheitskugel in Rk .
Das äussere Hausdorff-Mass von E ist dann gegeben durch
Hα (E) := sup Hδα (E) .
δ>0
Wie beim Lebesgue-Mass ist es möglich, eine entsprechende σ-Algebra der Hα messbaren Mengen zu definieren, die die offenen Mengen enthält. Seien M ⊂ Rn
eine Hypefläche, K ⊂ M eine kompakte Teilmenge und f : K → R eine stetige
Funktion. Dann stimmt das Integral
Z
f 1K dHn−1
n
R
R
mit dem Flächenintegral K f der Definition 8.7 überein. Diese Identität heisst area
formula und ist ein wichtiger elementarer Satz der Geometrischen Masstheorie. Diese
Identität ist jedoch nicht leicht zu beweisen!
8.3
Reguläre offene Mengen
Definition 8.11. Sei Ω ⊂ Rn eine offene Menge. Wir sagen, dass Ω regulär ist,
falls ∂Ω eine C 1 -Hypefläche ist und die folgende zusätzliche Bedingung für jede Stelle
p0 ∈ ∂Ω erfüllt ist:
(R) Sei U eine Umgebung von p0 , wo ∂Ω der Graph einer C 1 -Funktion f ist; nach
einer Umordnung der Variablen nehmen wir an, dass
∂Ω ∩ U = {(x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 )) : (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ W } .
Dann gibt es eine (möglicherweise kleinere) offene Menge V ⊂ W und ein
offenes Intervall I =]a, b[⊂ R, so dass
– p0 ∈ V × I =: U 0 ;
– entweder Ω ∩ U 0 = {x ∈ U 0 : xn < f (x1 , . . . , xn−1 )} oder Ω ∩ U 0 = {x ∈
U 0 : xn > f (x1 , . . . , xn−1 )}.
(siehe Abbildung 15).
Sei nun Ω eine reguläre offene Menge. Wir definieren das äussere Normalenfeld
ν wie folgt: Sei p0 ∈ ∂Ω und U 0 eine Umgebung von p0 , die die Bedingung (R) oben
erfüllt, wobei p0 = f (x1 , . . . , xn−1 ) =: f (x0 ). Dann setzen wir
∂f 0
∂f
1
0
−
(x ), . . . , −
(x ), 1 ,
ν(p0 ) := p
∂x1
∂xn−1
1 + |∇f (x0 )|2
wenn Ω ∩ U 0 = {x ∈ U 0 : xn < f (x1 , . . . , xn−1 )} und
1
∂f 0
∂f
0
(x ), . . . ,
(x ), −1 ,
ν(p0 ) := p
∂xn−1
1 + |∇f (x0 )|2 ∂x1
falls Ω ∩ U 0 = {x ∈ U 0 : xn > f (x1 , . . . , xn−1 )} (siehe Abbildung 16).
8 DER SATZ VON GAUSS
102
U0
p0
∂Ω
Ω
Abbildung 15: Die Bedingung (R): In diesem Fall liegt Ω unter dem Graphen von
f.
Abbildung 16: Das äussere Normalenfeld einer Menge.
8 DER SATZ VON GAUSS
8.4
103
Der Satz von Gauss
Theorem 8.12 (Satz von Gauss oder Divergenztheorem). Sei Ω ⊂ Rn eine
beschränkte reguläre offene Menge und X : Rn → Rn ein C 1 -Vektorfeld. Dann gilt:
Z
Z
div X =
X ·ν.
(93)
Ω
∂Ω
Dank der Zerlegung der Einheit können wir den Satz von Gauss auf den folgenden
Fall reduzieren:
Satz 8.13. Sei Ω wie oben und x0 ∈ Rn . Dann ∃δ > 0, so dass (93) gilt, wenn der
Träger von X in der Kugel Bδ (x0 ) enthalten ist.
Beweis von Theorem 8.12. Für jedes x0 ∈ Ω wählen wir ein δx > 0 wie in Satz
8.13. Da Ω kompakt ist, finden wir zu jeder offenen Überdeckung eine endliche
Teilüberdeckung {Bi } := {Bδxi (xi )}. Sei nun {ϕi } eine zu {Bi } untergeordnete Zerlegung der Einheit. Wir haben dann
X
ϕi X = X
auf Ω .
i
Da der Träger von Xi := ϕi X in Bi enthalten ist, können wir Satz 8.13 anwenden
und erhalten
Z
XZ
XZ
div X =
div Xi =
Xi · ν
Ω
Zi
Ω
i
∂Ω
X ·ν.
=
∂Ω
Wenn x0 6∈ Ω ist, dann ist Satz 8.13 sehr einfach zu beweisen: Wir wählen ein
δ > 0, so dass Bδ (x0 ) ⊂ Rn \ Ω: die beide Integralen in (93) sind dann gleich 0. Für
den Fall x0 ∈ Ω wählen wir δ so dass Bδ (x0 ) ⊂ Ω. In diesem Fall verschwindet die
rechte Seite von (93). Die linke Seite von (93) ist dann einfach
Z
X Z ∂fi
div X =
.
(94)
n ∂xi
Rn
R
i
Die Identität (93) folgt dann aus dem folgenden Lemma:
Lemma 8.14. Sei g : Rn → R eine C 1 -Funktion mit kompaktem Träger. Dann ist
Z
∂g
=0
∀i .
Rn ∂xi
Beweis. O.B.d.A. sei i = 1 und M so, dass der Träger von g in ] − M, M [n enthalten ist. Wir nutzen dann das Theorem von Fubini und den Fundamentalsatz der
Integralrechnung:
Z
Z
Z M
∂g
∂g
=
(x1 , x2 , . . . , xn )dx1 dx2 . . . dxn
Rn ∂x1
[−M,M ]n−1 −M ∂x1
Z
=
(g(M, x2 , . . . , xn ) − g(−M, x2 , . . . , xn )) dx2 . . . dxn = 0 .
[−M,M ]n−1
8 DER SATZ VON GAUSS
104
Wir müssen noch den Fall x0 ∈ ∂Ω untersuchen. Um die Identität (93) für diesen
Fall zu beweisen, brauchen wir zuerst ein wichtiges Lemma.
Lemma 8.15. Sei (y1 , . . . , yn ) ein zweites orthonormales Koordinatensystem. Dann
hat dies keinen Einfluss auf die zwei Integrale in (93).
Beweis. Das zweite orthonormale System erhalten wir aus einer Komposition einer
Verschiebung und einer linearen orthogonalen Abbildung: y := x0 + A · x mit A ∈
O(n). Den Fall x 7→ x0 + x überlassen wir dem/der Leser/in und betrachten y =
A · x. Als erstes bemerken wir, dass wenn x ∈ Ω, dann ist A−1 y ∈ Ω. Deswegen ist
die Menge Ω einfach die Menge Ω̃ := A(Ω) in unserem neuen Koordinatensystem.
Zudem ist ∂ Ω̃ = A(∂Ω). Seien nun X̃ das Vektorfeld und ν̃ das Normalenfeld in den
neuen Koordinaten. Dann erhalten wir
X̃(y) = AX(A−1 y)
ν̃(y) = Aν(A−1 y) .
und
Da A eine orthogonale Matrix ist, haben wir einfach
X̃(y) · ν̃(y) = X(A−1 y) · ν(A−1 y)
und somit
Z
Z
(X · ν) ◦ A−1 .
X̃ · ν̃ =
∂ Ω̃
A(∂Ω)
Sei nun (V, Φ) eine Karte für ∂Ω, U die entsprechende offene Menge, K ⊂ U eine
kompakte Teilmenge und f : K → R eine stetige Funktion. Wir setzen Ψ := A ◦ Φ
und bemerken, dass (V, Ψ) auch eine Karte ist. Ausserdem ist
p
JΨ = det At (JΦ)2 det A = JΦ ,
weil det At det A = det(At A) = det(Id) = 1 (A ist eine orthogonale Matrix!). Deshalb ist
Z
Z
Z
Z
−1
−1
f ◦A =
f (A (Ψ))JΨ =
f ◦ ΦJΦ =
f.
Ψ(V )
V
V
Φ(V )
Dies beweist, dass das Integral auf der rechten Seite von (93) koordinatenunabhängig
ist.
Sei nun e1 , . . . , en die Standardbasis des Koordinatsystems x1 , . . . , xn und fi =
Aei die Standardbasis im zweiten Koordinatsystem. Dann ist
n
n
X
X
divy X̃(y) =
fi · dX̃y (fi ) =
(Aei ) · (AdXA−1 (y) (A−1 (Aei )))
i=1
i=1
n
X
=
(Aei ) · (AdXA−1 (y) (ei )) .
i=1
Sei nun M die Jacobi-Matrix von dXA−1 (y)). Dann ist
n
X
(Aei ) · (AdXA−1 (y) (ei )) =
i=1
n
X
eti At AM ei
i=1
=
n
X
eti M ei = divx X(A−1 (y)) .
i=1
Damit folgt,
Z
Z
divy X̃ =
Ω̃
(divx X) ◦ A−1 .
A(Ω)
Da | det A| = 1 ist, erhalten wir mit der Transformationsformel:
Z
Z
divy X̃ =
divx X .
Ω̃
Ω
8 DER SATZ VON GAUSS
8.5
105
Beweis des Satzes von Gauss
Wir können nun endlich den Beweis für den Satz von Gauss abschliessen.
Beweis von Satz 8.13. Wir haben bereits gezeigt, dass der Satz für den Fall x0 6∈ ∂Ω
richtig ist. Sei nun x0 ∈ ∂Ω und ν0 := ν(x0 ). Da die Formel (93) koordinateninvariant
ist, können wir annehmen, dass
P ν(x0 ) kein Vektor der Standardbasis ist, d.h. ν0 ·ei 6=
0 ∀i ∈ {1, . . . , n}. Da X = i Xi ei ist, genügt es, den Satz für den Fall X = Xi ei zu
zeigen (die Kugeln, die den Träger von X enthalten, werden möglicherweise andere
sein, aber endlich viele. Wir wählen dann die kleineren Kugeln für den allgemeinen
Fall). Nach Umordnung der Koordinaten können wir X = αen annehmen. Da die
Abbildung
x1 e1 + . . . + xn en
7→
x1 e1 + . . . + xn−1 en−1 − xn en
eine lineare orthogonale Abbildung ist, dürfen wir auch ν0 · en > 0 annehmen.
Mit dem Theorem über implizite Funktionen folgt die Existenz einer Umgebung
U von x0 , wo ∂Ω der Graph einer Funktion f ist, d.h.
U ∩ ∂Ω = {(x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 )) : (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ W } .
O.B.d.A. können wir x0 = 0 annehmen. Da Ω eine reguläre Menge ist, finden wir
eine Zahl b > 0, so dass
] − b, b[n ∩Ω = {xn−1 < f (x1 , . . . , xn−1 ), |x1 | < b, . . . , |xn−1 | < b} .
Sei nun X = αen ein Vektorfeld mit Träger in ] − b, b[n . Aus dem Satz von Fubini
und dem Fundamentalsatz der Integralrechnung folgt dann:
Z
Z
Z b
∂α
dxn dx1 . . . dxn−1
div X =
Ω
]−b,b[n−1 −b ∂xn
Z
=
(α(x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 )) − α(x1 , . . . , xn−1 , 0)) dx1 . . . dxn−1
]−b,b[n−1
Z
=
α(x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 ))dx1 . . . dxn−1 .
]−b,b[n−1
Sei nun V :=] − b, b[n−1 und Φ(x1 , . . . , xn−1 ) := (x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 )). Wir
wissen schon, dass (V, Φ) eine Karte ist und Φ(V ) = ∂Ω∩] − b, b[n . Weiter haben wir
JΦ =
p
1 + |∇f |2
und
1
(X · ν) ◦ Φ = p
α ◦ Φ.
1 + |∇f |2
Deshalb ist
Z
Z
Z
X ·ν =
(X · ν) ◦ ΦJΦ =
α◦Φ
∂Ω
V
ZV
=
α(x1 , . . . , xn−1 , f (x1 , . . . , xn−1 )) dx1 . . . dxn−1 ,
−]b,b[n−1
und daraus folgt die gesuchte Identität.
A DAS CANTOR-DIAGONALARGUMENT
A
106
Das Cantor-Diagonalargument
Lemma A.1. Sei {fk } mit fk : I → R eine Folge von Funktionen und {qi }i∈N eine
abzählbare Menge, so dass die Folge
{fk (qi )}k∈N
∀i ∈ N
(95)
beschränkt ist. Dann gibt es eine Teilfolge {fkj }, so dass die Folge
{fkj (qi )}j∈N
∀i ∈ N
(96)
konvergiert.
Beweis. Sei {kj1 }j eine Teilfolge von {k}, so dass
lim fkj1 (q1 )
j↑∞
existiert.
Wegen (95) folgt die Existenz von {kj1 } aus dem Theorem von Bolzano. Wir geben
nun eine rekursive Definition der Folge {fji }j mit i ∈ N. Für i ≥ 2 wählen wir eine
Folge {kji }j , so dass
{kji } eine Teilfolge von {kji−1 } ist und lim fkji (qi ) existiert.
j↑∞
Wir bemerken, die folgende Eigenschaft: Wenn l > i ist, dann ist kll ein Element von
{kji }j . Also existiert
lim fkll (qi )
l↑∞
für jedes i. Deshalb ist {fkll } die gesuchte Teilfolge von {fk }k .
B SYMBOLVERZEICHNIS
B
107
Symbolverzeichnis
R
die reellen Zahlen
C
die komplexen Zahlen
R
R ∪ {+∞, −∞}
[a, b]
{x ∈ R : a ≤ x ≤ b}
[a, b[
{x ∈ R : a ≤ x < b}
]a, b]
{x ∈ R : a < x ≤ b}
]a, b[
{x ∈ R : a < x < b}
|·|e
das äusseres Lebesgue-Mass
kM kO
die Operatornorm von M
kM kHS
die Hilbert-Schmidt-Norm von M
k·kC(I)
die Maximumsnorm
◦
A
der offene Kern von A
A
die abgeschlossene Hülle von A
∂A
der Rand von A
Br (x)
der offene Ball mit Radius r und Mittelpunkt x
Br (x)
der abgeschlossene Ball mit Radius r und Mittelpunkt x
∂Br (x)
die Sphäre mit Radius r und Mittelpunkt x
C k (I)
der Raum der in I k-mal stetig differenzierbare Funktionen
C ∞ (I)
der Raum der in I beliebig oft stetig differenzierbaren Funktionen
Cc∞ (I)
der Raum der in I beliebig oft stetig differenzierbaren Funktionen
mit kompaktem Träger in I
F
Eine Funktion hat Eigenschaft F , falls sie die Bedingungen
des Satzes von Fubini erfüllt
1E
die Indikatorfunktion von E (oder charakteristische Funktion von E)
L1 (E)
der Raum
der über E Lebesgue-integrierbaren Funktionen,
R
d.h. E |f | < ∞
R
der Raum der messbaren Funktionen f mit X f dµ < ∞,
wobei (X, Σµ)ein Massraum ist
L1 (X)
Lip(·)
Lipschitz-Konstante
B SYMBOLVERZEICHNIS
M
σ-Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen
108
Index
Fσ -Menge, 34
Gδ -Menge, 26
σ-Additivität, 28
σ-Algebra, 28, 77
σ-Subadditivität, 24, 77
äusseres Hausdorff-Mass, 100
äusseres Lebesgue-Mass, 23
äusseres Normalenfeld, 100
abgeschlossene Menge, 9
abgeschlossenes Intervall, 19
Abstand zweier Mengen, 21
abzählbare Subadditivität, 24
Approximationssatz
für messbare Funktionen, 49
area formula, 100
Atlas, 96
Banachscher Fixpunktsatz, 10
Cauchy-Bedingung
für die Konvergenz nach Mass, 55
Cauchy-Folge, 9
charakteristische Funktion, 48
Diffeomorphismus, 14
Divergenztheorem, 102
Drehung
spezielle zweidimensionale, 38
Eigenschaft F einer Funktion, 70
einfache Funktion, 48
Endlichkeit eines Integrals, 66, 84
Existenz eines Integral, 84
Existenz eines Integrals, 66
gleichmässig beschränkte, 14
gleichgradig stetige Funktionenfolge, 14
gleichmässig beschränkte Funktionenfolge,
14
Graph
einer Funktion, 58
Hausdorff-Mass
äusseres, 100
Homöomorphismus, 14
Hyperfläche, 95
Indikatorfunktion, 48
Inhalt
eines Intervalls, 19
Integral
auf einem abstrakten Massraum, 78
Lebesguesches, 58
Karte, 96
Kartenwechsel, 97
Kontraktion, 10
Konvergenz
nach Mass, 54
Lebesgue-Integral, 58
Lebesgue-integrierbar, 66
Lebesgue-Mass
äusseres, 23
Lebesgue-Messbarkeit
einer Menge, 26
Lebsgue-Mass, 28
Lebsgue-messbare Menge, 26
Lebsgue-Nullmenge, 28
Lemma
von Fatou, 67, 84
von Fatou für nicht-negative Funktionenfolgen, 63
Limes inferior
einer Folge von Mengen, 23
Limes superior
einer Folge von Mengen, 23
Lipschitz-Konstante, 11
fast überall, 44
Fixpunktsatz
Banachscher, 10
Flächenintegral, 98
Fluss, 13
Funktion
charakteristische, 48
einfache, 48
messbare, 42
messbare in einem abstrakten Mass- Mannigfaltigkeit
raum, 78
C k - und C ∞ -, 95
Funktionenfolge
Mass, 32
gleichgradig stetige, 14
auf einer σ-Algebra, 77
109
INDEX
110
Matrix
von Lebesgue, 67, 85
orthogonale, 38
von Lebesgue für nicht-negative FunkMenge
tionen, 63
abgeschlossene, 9
von Lusin, 51
reguläre offene, 100
von Lusin für einfache Funktionen, 52
messbare
von Picard-Lindelöf, 8
Funktion, 42
von Tonelli, 74
Funktion in einem abstrakten Mass- spezielle Spiegelung, 38
raum, 78
spezielle zweidimensionale Drehung, 38
Metrik, 8
Spiegelung
metrischer Raum, 8
spezielle, 38
monotone Folge von Mengen, 22
Subadditivität
abzählbare, 24
Normalenfeld
äusseres, 100
Träger einer Funktion, 92
Nullmenge, 28
Transformationsformel, 86
Transformationssatz, 86
orthogonale Matrix, 38
Untermannigfaltigkeit, 95
Raum
der Lebesgue-integrierbaren Funktio- Vektorfeld, 7
nen, 66
vollständiger metrischer Raum, 9
metrischer, 8
Whitney-Zerlegung, 20
Region
einer Funktion, 58
Zerlegung der Einheit, 92
reguläre offene Menge, 100
Satz
über die majorisierte Konvergenz, 67,
85
über die majorisierte Konvergenz für
nicht-negative Funktionen, 63
über die monotone Konvergenz, 67,
84
über die monotone Konvergenz für
nicht-negative Funktionenfolgen,
83
über die monotone Konvergenz nichtnegativer Funktionenfolgen, 63
über die Zerlegung der Einheit, 92
über Kartenwechsel, 97
von Arzelá-Ascoli, 14
von Beppo Levi, 67, 84
von Beppo Levi für nicht-negative Funktionen, 63
von Beppo Levi für nicht-negative Funktionenfolgen , 83
von Egorov, 51
von Egorov für abstrakte Massräume,
78
von Fubini, 69
von Gauss, 102
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