Kindesschutz bei häuslicher Gewalt – ein Überblick Wenn er meiner Schwester etwas getan hätte, dann, dann …. (15-jähriger Bruder) Bern, 5. Juli 2011 Kantonale Fachtagung Heidi Simoni Mitarbeit von Sabine Brunner Marie Meierhofer-Institut für das Kind Zürich www.mmi.ch Nein, …. …. …. mir hat er nichts gemacht …. …. (17-jährige Schwester) …. und denn mach i so: Halt Mami – Halt Papi! …. und ich ha au es Schwärt, wo im Dunkle lüchtet … (5-Jähriger) 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt „Kindeswohl“: eine interdisziplinäre Konzeption Erkenntnisse Hohe Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen durch häusliche Gewalt Schädigung von Kindern und Jugendlichen durch häusliche Gewalt als Opfer und als ZeugInnen vgl. u.a. Seith, Kahnemann Leitfragen Wie erleben, verstehen und bewältigen Kinder und Jugendliche häusliche Gewalt / elterliche Gewaltbeziehungen? Wohl des Kindes – best interests of the child Kindesinteressen = Bedürfnisse und Rechte Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln orientiert sich an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern. Vgl. Maywald, Jörg: Kinderrechte als Leitbild in der Arbeit mit Kindern; Vortrag anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Marie Meierhofer-Institut für das Kind, 29.6.07, www.mmi.ch Was stärkt Kinder und Jugendliche in dieser Situation? …. die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen. Nicht Thema: Kinder/Jugendliche als „TäterInnen“ Dettenborn, H., Walter, E.: Familienrechtspsychologie. Ernst Reinhard: München, Basel, 2002. 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 1 UN-Konvention über die Rechte von Kindern Übergreifende Bestimmungen und materielle Rechte Begriffsbestimmung (Artikel 1) Kind ist jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat Diskriminierungsverbot (Artikel 2) Recht auf Schutz vor Diskriminierung in jeder Form Wohl des Kindes (Artikel 3) Wohl des Kindes als vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt Verwirklichung der Kindesrechte (Artikel 4) Staatenverpflichtung zur Verwirklichung der Rechte und internationale Zusammenarbeit Drei Säulen des Kinderrechtsgebäudes: Schutzrechte, Förderrechte, Partizipationsrechte 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen 3v-Bezugspersonen: vertraut, verlässlich, verfügbar – Martin Buber: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ – Herzka: „dialogische Entwicklung, autoritätskritische Erziehung“ Verhältnis Kind - Eltern Respektierung des Elternrechts (Artikel 5) Achtung der Rechte und Verantwortung der Eltern, das Kind gemäss der Entwicklung seiner Fähigkeiten zu leiten und zu führen. auch: Verantwortung der Eltern, dem Kind die Ausübung seiner Rechte zu ermöglichen Trennung von den Eltern (Artikel 9) Das Recht des Kindes, bei seinen Eltern zu leben, es sei denn, ein solches Zusammenleben werde als unvereinbar mit dem höheren Interesse des Kindes betrachtet; das Recht, bei einer Trennung von einem oder beiden Elternteilen den Kontakt mit beiden Eltern aufrechtzuhalten 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Missachtung kindlicher Bedürfnisse Gefährdung gelingender Entwicklung und Gesundheit • • Misshandlung (körperlich, seelisch, sexuell) Vernachlässigung körperliche Unversehrtheit, existentielle Sicherung und Sicherheit entwicklungsförderliche Anregungen und Herausforderungen – Orientierung, Strukturen – auf individuelle Unterschiede zugeschnittene Erfahrungen – vielfältige Beziehungen, Zugehörigkeit ausserdem Gefährdung durch: • feindselige Auseinandersetzungen im nahen oder weiteren Umfeld • eingeschränkte Autonomieentwicklung • Überforderung/Unterforderung: emotional, kognitiv, sozial stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität eine persönliche Entwicklungsperspektive eine sichere Zukunft für die Menschheit 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 2 Kinder in Gewaltbeziehungen Direkte Bedrohung und Gefährdung, Misshandlung (als ZeugIn und als Opfer) Indirekte Gefährdung, Vernachlässigung durch Einschränkungen bei beiden Eltern •Verletzung der körperlichen und psychischen Integrität •Überforderung: emotional, kognitiv, sozial •Akute und chronische Traumatisierungen •manifeste und subtile Folgedefizite für individuelle und soziale Entwicklung 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Beeinträchtigung von Kindern und Jugendlichen durch häusliche Gewalt Entwicklung behindert, da Balance zwischen Sicherheitsbedürfnis und Erkundungslust gestört Angst – – – – vor (mindestens) einem Elternteil um (mindestens) einen Elternteil um Geschwister um sich selbst Auseinandersetzung mit sich und der Welt nur eingeschränkt möglich Erleben von Isolation, Tabuisierung, Sprachlosigkeit 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Erleben und Verstehen von häuslicher Gewalt Gewaltbeziehungen tangieren die kindliche Entwicklung auf verschiedenen Ebenen Im Vorschulalter – existentielle Bedrohung – alterstypische Fantasien, Zwiespälte, Ängste, Wut – Allmacht ⇔ Ohnmacht – Widersprüchen ausgeliefert Im Primarschulalter – Angst, Versagensgefühle, Ohmacht, Wut – Gefühl durch Fehlverhalten VerusacherIn zu sein – Recht ⇔ Unrecht, moralische Entrüstung Im Jugendalter – Schuldgefühle aufgrund von Ablösungswünschen und Verantwortungsübernahme – Versagensgefühle, Ohnmacht, Wut Emotionale und kognitive Entwicklung Regulation von Gefühlen Verstehen, einordnen von Erfahrungen Selbstwert, Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit Identität, Geschlechtsidentität, Elternidentität Fehlende positive Modelle, Vorbilder Umgang mit Konflikten, Streitkultur Umgang mit körperlicher Stärke, mit Aggression Umgang mit Überlegenheit, mit Macht Bedeutung von Respekt, Wertschätzung Moralische Entwicklung, Werte 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 3 Kinder in hoch konflikthaften Familiensystemen 4-Ebenen-Systematik (nach J. Schreiner) Symptome Dynamik und System ➞ innere Konflikte, Spannungsfelder Psychische Anpassungs- und Überlebensstrategien Coping, Bewältigung Ein Symptom kann verschiedene Ursachen haben Eine Ursache kann zu verschiedenen Symptomen führen Mögliche psychische Beeinträchtigungen Ängste, Alpträume, Zwänge Freudlosigkeit, Erstarrung, Einsamkeit Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit Scham-, Schuldgefühle Impulsdurchbrüche Verlust des Gefühls emotionaler Geborgenheit Alle Reaktionen sind – mehr oder weniger funktionale – Versuche der Bewältigung 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Mögliche körperliche Beeinträchtigungen Bauchschmerzen, Appetitstörungen, Essstörungen Kopfschmerzen Schlafstörungen Erhöhte Krankheitsanfälligkeit Chronische Krankheiten Beeinträchtigte Motorik 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Mögliche Schwierigkeiten im Sozialverhalten Zeichen von Überforderung Aggressives, hyperaktives Verhalten Rückzug Schulschwierigkeiten, Konzentrationsstörungen Überverantwortliches Verhalten Gestörtes Bindungsverhalten Veränderter Umgang mit Gleichaltrigen 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 4 Mögliche Störungsbilder Entwicklungsrückstände und –störungen Depressive Störungen Selbstverletzendes Verhalten Dissoziatives Verhalten Mutistisches Verhalten Suizidalität Posttraumatische Belastungsstörung Posttraumatische Belastungsstörung „verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“ (ICD-10) •beharrliches Wiedererleben des Ereignisses in Gedanken, Träumen oder Handlungen •anhaltendes Vermeidungsverhalten •anhaltende Symptome erhöhter Erregung •länger als einen Monat + klinisch bedeutsam Kinder/Jugendliche bei häuslicher Gewalt: -Ereignisse in der frühen Kindheit nicht erinnerbar -akute und chronische Traumatisierung 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Psychische Anpassungs- und Überlebensstrategien Solidarisierung Überidentifikation radikale Parteinahme radikale Ablehnung Beziehungsverweigerung Übernahme von Elternverantwortung aktives Konfliktmanagement … 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Bewältigungsstrategien Distanzierung, altersgemässe Abgrenzung Hilfe holen Eigene Interventionen ins Gewaltgeschehen Rückzug in die eigene (Spiel-)welt Orientierung an Gleichaltrigen und Drittpersonen, die nicht in die Gewalt verstrickt sind Bewältigung durch Humor .... 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5 System und Dynamik bei häuslicher Gewalt Zu wem gehört das Kind? • Individuum – Dyade(n) – Triade – Familie – erweiterte Familie • Kinder erleben bei häuslicher Gewalt eine verstörende familiale Triade mit instabilen dyadischen Beziehungen • wer ist in, wer ist out? • Elternbeziehung: oft schwierig nachvollziehbar • eigene Beziehung zur Mutter – eigene Beziehung zum Vater zum Opfer? nicht zum Täter? nicht zur Täterin? zum nicht gewalttätigen Elternteil? nicht zum gewalttätigen Elternteil? zum weniger gewalttätigen Elternteil? • Teufelskreise rund um Schuld und Schuldgefühle, Macht und Ohnmacht, „Liebe“ und Angst und Hass, Hoffnung und Enttäuschung • eigene Interessen ↔ Interessen der Familie 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt trotz allem: zu beiden? 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Scheinlösungen Recht auf beide Eltern? 1) „Ich zwinge mein Kind nicht – es darf schon, wenn es will ...“ Kinder brauchen: • mindestens eine 3v-Bezugsperson, besser sind mehrere • ein vielfältiges, verlässliches Beziehungsnetz • Möglichkeiten, ihr Verhältnis zu beiden Eltern zu klären Scheinheiliger Rückgriff auf den Kindeswillen und Abschieben der Verantwortung (vgl. Metapher „Emotionale Brücke“ von Schreiner) 2) Das PAS Konzept (Parental Alienation Syndrom) Bei • • • • Misshandlung, häuslicher Gewalt, Vernachlässigung: Schutz überschaubare Verhältnisse, Vorhersehbarkeit Information und Orientierungshilfen individuelle Lösungen 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Entwertung des Willens und des Beitrags des Kindes zur Problemlösung 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 6 Beziehung und Entfremdung 1. 2. 3. 4. 5. Kontinuum von Kind-Elternbeziehungen Nach: KELLY, J. / JOHNSTON, J., The alienated child. A reformulation of parental alienation syndrome., Family Court Review, 2001, 39, 249-266. Entfremdung ist beunruhigend. Vorlieben und Bündnisse sind normal. Entfremdung setzt Beziehung voraus. Distanzierung ist (auch) eine Leistung. Das Fehlen von Ambivalenzen ist (meist) alarmierend Kerima Kostka, Einfache Lösungen für komplexe Situationen? «PAS» und gemeinsames elterliches Sorgerecht – ein Bericht aus Deutschland, FamPra.ch, 4/2005, 802 ff. Heidi Simoni, Beziehung und Entfremdung, FamPra.ch, 4/2005, 772 ff. 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Obhut und Kontakt bei häuslicher Gewalt - Obhut beim nicht gewalttätigen Elternteil sofern nicht andere Gründe dagegen sprechen bei Bedarf Unterstützung bei der Erziehung - Schutz vor dem gewalttätigen Elternteil Schutz vor Überforderung und Retraumatisierung Möglichkeit Verhältnis zu klären (unmittelbar und/oder vermittelt, direkt und/oder indirekt, jetzt oder später) - Perspektive(n) des Kindes berücksichtigen seine Geschichte, seine Sichtweise, seine Zukunftsaussichten 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Kindeswohl und Kindeswille: kein Widerspruch! Eine Willensäusserung ist mehr als JA oder NEIN. Sie ist durch Bedürfnisse und Ziele motiviert. Willensäusserungen des Kindes sind hilfreich – für das Kind selbst und für die Erwachsenen. Je jünger ein Kind ist, desto unmittelbarer müssen seine Äusserungen/seine Bedürfnisse beantwortet werden. Das Kind zu hören ist Teil seines Schutzes. Je besser die Erwachsenen selber mit Widersprüchen umgehen können, desto besser gelingt dies dem Kind. partizipieren ≠ entscheiden 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 7 Folie 28 HS2 Heidi Simoni; 09.11.2009 Erkenntnisse aus der Resilienzforschung Sonderheft des Informationszentrums Kindesmisshandlung/ Kindesvernachlässigung des Deutschen Jugendinstitut e.V „UNKinderrechtskonvention. Impulse für den Kinderschutz“: Wiesner, Reinhard (2009). Partizipation als Modus des Kinderschutzes. Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention für die Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe. IzKK-Nachrichten , 21-23. 1. kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal (keine Superkids) 2. dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess 3. das Ergebnis des Zusammenwirkens individueller und sozialer Faktoren Personal: Sozial: Erfahrung von Selbstwirksamkeit aufmerksame, interessierte Personen Bedeutsam: Sinnhaftigkeit, roter Faden in der Biografie vgl. u.a.: Kumpfer, 1999; Luthar, Cicchetti & Becker, 2000; Opp & Fingerle, 2007; Rutter, 2000; Werner & Smtih 2001; Wustmann 2004/2008 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Kinder unterstützen - Orientierung ermöglichen • • • • • • • • • beim Mitteilen von Erfahrungen beim Einordnen von Erfahrungen (Realitätskontrolle) beim Wahrnehmen eigener Gefühlen beim Ausloten eigener Bedürfnisse, Möglichkeiten beim Umgang mit Widersprüchen beim Planen, beim Umgang mit Zeit beim Finden von Schutzmöglichkeiten beim Finden von Bewältigungsmöglichkeiten beim Erleben von Selbstwirksamkeit 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt Kinder in schwierigen Lebensumständen unterstützen durch echtes Interesse am Kind durch die eigene triadische Kapazität und Kompetenz Klärung der Position des Kinds im Familiensystem durch eigene Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme durch die eigene Kompetenz im Umgang mit Widersprüchen und Ambivalenzen 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 8 Leitfragen für Intervention Ist das Kind ausreichend geschützt? Wird es durch eine Intervention gefährdet? Anhaltende Gefährdung trotz Trennung, durch Kontakte? Befinden und Verhalten des Kind? Beziehungsverhalten des Kindes? Beziehungsverhalten von Bezugspersonen? Dynamik in der Familie? Gesamtbelastung der Familie? Wie kann das Kind ausreichend Raum für sich und seine Entwicklung erhalten? 5.7.2011 / H. Simoni / MMI Kinder und häusliche Gewalt 9