„Borderline Sein“

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Wissenschaftliche Abschlussarbeit
zur Ausbildung in
systemischer Tanztherapie
„Borderline Sein“
Videoanalyse von sechs Frauen mit einer Borderline
Persönlichkeitsstörung
- eine empirische Pilotstudie -
vorgelegt von:
Aufgabenstellerin:
Tanja Burkhardt
Susanne Bender
Ludwigstr. 3
Europäisches Zentrum für
84028 Landshut
Tanztherapie
Geyerspergerstr. 25
80689 München
Datum:
30.06.2010
Für
Cindy, Franziska, Juliane, Maria, Stefanie und Tina
„BORDERLINE SEIN“
Videoanalyse von sechs Frauen mit einer
Borderline Persönlichkeitsstörung
- eine empirische Pilotstudie -
Obwohl die Borderline Persönlichkeitsstö-
Even
rung eine häufige psychiatrische Diagnose
Personality Disorder is a very common
ist, gibt es bislang noch relativ wenig Be-
psychiatric diagnosis, there are only
handlungsmanuale. Dies führt dazu, dass
alle Menschen mit einer Borderlinestörung
sowohl im ambulanten als auch im stationären Setting mit diesen wenigen Therapieansätzen relativ gleich behandelt wer-
few
though
therapeutic
the
Borderline
approaches.
This
leads to the fact that all people with
this diagnosis
get pretty much the
same kind of treatment. Often these
den. Häufig fühlen sich die Patientinnen
patients feel unfairly treated if they all
und Patienten ungerecht behandelt und in
get the same type of therapy. They
ihrer Einzigartigkeit nicht gesehen, wenn
feel that their inidividuality is not
sie diese Gleichbehandlung erfahren. Sie
sufficiently taken into account.
haben das Gefühl, dass ihrer Individualität
Dance therapists are convinced that
nicht genug Rechnung getragen wird.
essential features of the personality
Tanztherapeutinnen und -therapeuten ge-
are apparent in the bodies expression
hen davon aus, dass sich wesentliche
Merkmale der Persönlichkeit im Körperausdruck und in der Bewegung zeigen.
Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit
and movement. This scientific work is
an empirical pilot study to answer the
question, if people with the same
ist eine empirische Pilotstudie zur Beant-
diagnosis,
wortung der Fragestellung, ob Menschen
disorder, show the same movement
mit der gleichen Diagnose, nämlich Bor-
qualities and if it´s therefore right to
derline-Persönlichkeitsstörung,
treat these patients with the same kind
die
glei-
chen Bewegungsqualitäten zeigen und ob
borderline
personality
of psychotherapeutic treatment.
es demnach gerechtfertigt ist, alle Pati-
Standardized videos of the female
entinnen und Patienten mit Borderline
probands were recorded and later
Syndrom mit dem gleichen psychothera-
evaluated using the technique of the
peutischen Prgramm zu behandeln.
Standardisierte Videoaufzeichnungen und
die Übersetzung der Diagnosekriterien der
Borderline Persönlichkeitsstörung in der
laban movement analysis and the
kestenberg movement profile. For the
analysis, the diagnostic criteria of the
borderline
personality disorder,
Störungen (ICD 10, Kapitel V) bilden die
defined
in
Grundlage für die bewegungsanalytische
classification of deseases (ICD 10,
Auswertung gemäß der Fragestellung.
chapter
Die Arbeit liefert grundlegende Hinter-
movement qualities. Then the videos
grundinformationen
zur
were evaluated to check whether and
Bewegungsanalyse, die Übersetzung der
to what extent there are simililarities
Diagnosekriterien der Borderline Persön-
and
Internationalen Klassifikation psychischer
lichkeitsstörung in Bewegungsqualitäten
und die ausführliche Darstellung der Ergebnisse der Studie und der Konsequenzen für die tanztherapeutische Begleitung,
V),
the
got
differences
International
translated
in
as
the
into
probands
movement patterns.
This scientific work provides basic
information about movement analysis,
die sich aus den Ergebnissen ergeben.
the
Das Ergebnis der Studie ist im Wesentli-
critieria in the ICD 10 in movement
chen, dass zwar grundsätzliche Gemein-
qualities and the detailed description
samkeiten, wie zum Beispiel Unsicherhei-
of the results.The main conclusion of
ten in der Integration von ZEIT und KRAFT
the
in die Bewegung oder eine mangelnde
similarities in movement topics, like
Empfindung des Kern-Selbst bewiesen
insecurities in the
wurden, jedoch auch Unterschiede im
Grundtemperament und in den individuellen Vorlieben und Lebensstilen in der Therapie berücksichtigt werden müssen, um
translation
study
is,
of
the
that
diagnostic
indeed
basic
integration of the
efforts of weight and time or an
impaired development of the core-self,
were
prooved,
but
also
that
den Patientinnen das Gefühl zu geben, in
considerable differences in the basic
ihrer Individualität wahrgenommen und
temper and the individual lifestyles
wertgeschätzt zu sein.
exist, which should be considerd in
therapy to ensure that the patients feel
perceived
individuality.
and
valued
for
their
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort
1
1
Fragestellung
3
2
Theoriekapitel
6
2.1 Hintergrundinformationen zur Bewegungsanalyse
6
2.1.1 Von den Spannungsflusseigenschaften zu den Antrieben: Modell
7
der konzentrischen Weltbeeinflussung
2.1.2 Vom Formfluss zum Formen
9
2.2 Die Borderline Persönlichkeitsstörung im ICD 10 und die Übersetzung
11
ihrer Diagnosemerkmale in Bewegungsqualitäten
2.2.1 Borderline: vom Begriff zum klassifizierten Krankheitsbild
12
2.2.2 Diagnosemerkmale nach ICD 10
13
2.2.3 Übersetzung
der
Diagnosemerkmale
des
ICD
10
in
14
Bewegungskategorien
3
Studie und Resultate
21
3.1 Stichprobe, Setting der Videoaufzeichnung und Prozedere der Auswertung
21
3.2 Die Ergebnisse
23
3.2.1 Vergleichende Auswertung im Hinblick auf die bewegungsanalytischen
23
Diagnosekriterien
3.2.1.1 Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der
Konsequenzen zu handeln / unbeständige und unberechenbare
Stimmungen
23
3.2.1.2 Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit
29
zur Kontrolle explosiven Verhaltens
3.2.1.3 Deutliche Tendenz zu Streitereien oder Konflikten mit anderen,
32
vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder
getadelt werden
3.2.1.4 Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht
32
unmittelbar belohnt werden
3.2.1.5 Störungen und Unsicherheiten bezüglich Selbstbild, Zielen und
35
„inneren Präferenzen“ (einschließlich sexueller). Ich-Störung
3.2.1.6 Übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
37
3.2.1.7 Neigung,
38
sich
in
intensive,
aber
instabile
Beziehungen
einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
3.2.1.8 Ergebnisse, die nicht klar einem Diagnosemerkmal zugeordnet
39
werden können
3.2.2 Besonderheiten der einzelnen Analysandinnen in ihren individuellen
43
Bewegungsqualitäten
3.2.2.1 Franziska
43
3.2.2.2 Stefanie
44
3.2.2.3 Tina
45
3.2.2.4 Juliane
46
3.2.2.5 Cindy
46
3.2.2.6 Maria
47
3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Konsequenzen für die
49
tanztherapeutische Begleitung
Nachwort und Danksagung
57
Anhang
58
Einverständniserklärung
58
Einladung zur Videoaufzeichnung
59
Ablauf Videoanalyse
60
Quellenverzeichnis
61
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Nachgebende und ankämpfende Antriebselemente
8
Tabelle 2:
Nachgebende und ankämpfende Vorantriebe
8
Tabelle 3:
Entwicklung der Weltbeeinflussung von den
9
Spannungsflusseigenschaften zu den Antrieben
Tabelle 4:
Spannungsflusseigenschaften abrupt und graduell
24
Tabelle 5:
Antriebe, Vorantriebe und Spannungsflusseigenschaften zum
25
Faktor Zeit
Tabelle 6:
Antriebe zum Faktor Zeit
26
Tabelle 7:
Antriebe und Vorantriebe zum Faktor Zeit
26
Tabelle 8:
Bewegungsfluss frei und gebunden
27
Tabelle 9:
Spannungsflusseigenschaften niedrige und hohe Intensität
30
Tabelle 10:
Spannungsflusseigenschaften und Antriebe zum Faktor Kraft
30
Tabelle 11:
Antrieb stark mit freiem und gebundenem Bewegungsfluss
31
Tabelle 12:
Vorantrieb vehement (mit frei) und angestrengt (mit gebunden)
31
Tabelle 13:
Antriebe und Vorantriebe zum Faktor Raum
33
Tabelle 14:
Spannungsflusseigenschaften gleichbleibend und adaptierend
34
Tabelle 15:
Spannungsflusseigenschaften und Antriebe zum Faktor Raum
34
Tabelle 16:
Anteil der Bewegungen mit Rumpfbeteiligung an Gesamtzahl
35
der Bewegungen
Tabelle 17:
Bewegungen mit Rumpfbeteiligung in Solo-Improvisation und
36
in Improvisation in Beziehung
Tabelle 18:
Antrieb direkt in Beziehung und alleine
38
Tabelle 19:
Antrieb indirekt in Beziehung und alleine
38
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Repertoire der Spannungsflusseigenschaften
28
Abbildung 2: Verhältnis ankämpfender und nachgebender Antriebe
40
Abbildung 3: Verhältnis ankämpfender und nachgebender Vorantriebe
41
Abbildung 4: Verteilung der Raumantriebe, Kraftantriebe und Zeitantriebe
42
auf Gesamtzahl der Antriebe
Vorwort
Seit acht Jahren arbeite ich als Dipl. Sozialpädagogin im ambulant betreuten Wohnen
für psychisch kranke Erwachsene am Landshuter Netzwerk (www.landshuternetzwerk.de). Der Verein Landshuter Netzwerk ist ein sozialer Dienstleister, der sich
seit 1999 im Bereich der Sozialpsychiatrie engagiert. Neben dem Bereich Betreutes
Wohnen bietet der Verein eine Tagesstätte für psychisch kranke Erwachsene, eine
Suchtberatungsstelle und Zuverdienstarbeitsplätze für psychisch kranke Erwachsene.
Außerdem engagiert sich das Landshuter Netzwerk noch in der Beratung von
Migranten und in der offenen Seniorenarbeit. Ich leite die Abteilung Betreutes
Einzelwohnen und etablierte im Landshuter Netzwerk Einzel-Tanztherapie für Klientinnen und Klienten aus dem Betreuten Wohnen als Ergänzung zu ihrer externen
psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung.
Grundsätzlich setzt sich unser Klientel aus allen psychiatrischen Krankheitsbildern
zusammen. Die größte Gruppe bilden Menschen mit Psychosen oder Schizophrenie,
wobei die Gruppe der Persönlichkeitsstörungen die zweit größte und ständig wachsende Gruppe in der Abteilung Betreutes Wohnen bildet.
Die sozialpädagogische und therapeutische Arbeit mit Menschen mit einer Borderline
Persönlichkeitsstörung finde ich schon seit Beginn meiner Tätigkeit besonders interessant und herausfordernd. Die verbreitete Haltung, dass Menschen mit einer
Borderline Störung unbequem und schwierig seien, konnte ich nie teilen. Ich finde es
besonders spannend, mit diesen Menschen in Beziehung zu treten, denn sie fordern
und fördern eine besondere Wachsamkeit in der Beziehungsarbeit. Durch die
Begegnung mit ihnen konnte ich sehr viele, für mich wertvolle Erfahrungen sammeln
und ich bin dankbar für jede „Beziehungsfalle“, in die ich getappt bin und noch tappen
werde, denn durch die Arbeit mit diesem Klientel kann man so viel über sich, über
Beziehung, über Verletzung und über Grenzsetzung lernen wie in keiner anderen
therapeutischen
Arbeit.
Mein
persönliches
Interesse
an
der
Borderline
Persönlichkeitsstörung hat mich auf die Idee gebracht, mich auch in der vorliegenden
Abschlussarbeit mit diesem Thema zu beschäftigen. Während meiner Ausbildung zur
Tanztherapeutin am Europäischen Zentrum für Tanztherapie in München faszinierte
mich die Bewegungsanalyse als fundiertes und umfangreiches Instrument, ein
ganzheitliches Verständnis des Individuums durch die Beobachtung seines/ihres
nonverbalen Verhaltens zu erreichen. Alle Menschen, ob gesund oder krank, drücken
sich in ihren Bewegungen aus und zeigen bewusst oder unbewusst ihre individuelle Art
des
„In-der-Welt-Seins“.
Aus
meinem
Interesse
für
die
Borderline
1
Persönlichkeitsstörung und der Bewegungsanalyse entstand meine Idee für die
vorliegende Arbeit, nämlich die Bewegungsanalyse von Menschen, die an einer
Borderline Persönlichkeitsstörung leiden und die somit eine spezielle Art des „In-derWelt-Seins“ verbinden könnte. Diese Überlegung brachte mich auf die Idee, zu
überprüfen inwieweit sich Menschen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung aus
bewegungsanalytischer Sicht ähneln oder sich vielleicht sogar völlig unterscheiden.
Nähere Ausführungen zur Entstehung der wissenschaftlichen Fragestellung werde ich
im folgenden Kapitel darlegen, bevor ich im Kapitel 2 die Hintergrundinformationen zur
Bewegungsanalyse und die Übersetzung der Diagnosemerkmale der Borderline
Persönlichkeitsstörung in Bewegungsqualitäten darlege und dann schließlich im Kapitel
3 die Ergebnisse der Studie ausführe und diskutiere.
Da ich zu Beginn der Abschlussarbeit in meiner täglichen Arbeit mit Menschen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung ausschließlich mit Frauen konfrontiert war, entschied ich mich, die wissenschaftliche Fragestellung mit sechs dieser Frauen zu
überprüfen. Deshalb werde ich in der vorliegenden Arbeit überwiegend die weibliche
Form verwenden und im Empiriekapitel ausschließlich von Probandinnen und
Klientinnen sprechen.
2
1 Fragestellung
Heutige Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Fragestellungen zur Diagnose
und Behandlung der Borderline Persönlichkeitsstörung rücken vermehrt den Körper
und das Körpererleben der Patienten in den Blickpunkt (GEISSLER und HEISTERKAM, 2007;
JORASCHKY et al. 2006).
In meiner sozialpädagogischen und therapeutischen Arbeit erlebe ich, dass den Frauen
mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung die Basis des liebevollen Gesehen- und
Gespiegeltwerdens, das ein Säugling von seiner Mutter erfährt, gar nicht oder nur
unzureichend zuteilgeworden ist. Ich erlebe sie als bedürftig und emotional
ausgehungert, gleichzeitig als abwertend und aggressiv. Sie binden und stoßen weg.
Sie erlauben sich nicht, sich selbst zu versorgen, sind wütend und traurig zugleich.
GEISSLER, HEISTERKAMP (2007, S. 499) beschreiben, dass der Körper des Borderline
Patienten einerseits „Austragungsort unausgelebter und abgewehrter psychischer
Konflikte“ ist und er andererseits als Träger von Gefühlen empfunden wird und so zur
Befindlichkeits-Schraube wird, an der autoregulativ gedreht werden kann. Außerdem
„ist der Körper dadurch, dass seine materielle Präsenz sich (...) nicht verleugnen lässt,
der Teil der eigenen Person, der für die Objekte sichtbar, damit in seiner Erscheinung
und seinem Aussehen aber auch bewertbar ist und somit für die gesamte Person des
Patienten verantwortlich gemacht werden kann“ (GEISSLER, HEISTERKAMP 2007, S. 499).
Viele Patienten mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung empfinden Ekel und Hass
gegenüber ihrem Körper. Die Beschäftigung mit dem verhassten Körper ist
angstbesetzt und kann zur Überschwemmung des Patienten mit unangenehmen,
unaushaltbaren Gefühlen führen. Daher ist es besonders wichtig, vor allem bei schwer
gestörten Borderline Patienten, vorsichtig bei der Konfrontation mit der eigenen
Körperlichkeit zu sein und die „Körperarbeit“ an das jeweilige Strukturniveau des
Klienten anzupassen.
JORASCHKY et al. (2006) beschreiben, dass im „Körpergedächtnis“ sowohl die im
impliziten Gedächtnis (Verhaltensgedächtnis) als auch im Episodengedächtnis
(Erinnerungen an Erlebnisse) gespeicherten positiven und negativen intersubjektiven
Erfahrungen „abgelegt“ sind. „Dies macht verständlich, dass sich verschiedenste
Erfahrungen der Vernachlässigung und Traumatisierung, wie sie bei BorderlinePatienten gehäuft sind, im Körpererleben verankern. Störungen des Selbstgefühls mit
Gefühlen
absoluten
Unwertes,
einhergehend
mit
ständigen
Selbstzweifeln,
3
verwirrenden Entwertungszyklen in Beziehungen und oft trostlosen Körpergefühlen des
Hässlichseins und der Verunstaltung, sind typische Phänomene im Selbsterleben von
Borderline-Patienten“ (BIRGER, DULZ et al. 2009, S. 349). Bei der Erforschung und
Behandlung der Borderline Persönlichkeitsstörung spielt somit der Körper und das
Körpererleben dieser Patienten eine wichtige Rolle, denn wenn, wie oben angeführt, im
Körpergedächtnis Erfahrungen gespeichert werden, so manifestieren sich diese im
Körperausdruck und somit auch in den Bewegungsmustern von Menschen.
„Im Kontext der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen gibt es bislang noch reIativ
wenig Behandlungsmanuale. Ausnahmen stellen hier die Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT) nach MARSHA LINEHAN (LINEHAN 1996) sowie die von der Gruppe um KERNBERG
entwickelte Übertragungsfokussierte Psychotherapie bei Borderlinestörungen dar“
(Remmel, Kernberg et al. 2006, S. 302). PELZER (2010) erklärt, dass neben der DBT
auch die Übertragungsfokussierte Psychotherapie zum Einsatz kommen könne. Diese
beiden Therapieansätze kommen aus heutiger Sicht im stationären und ambulanten
Setting für die psychotherapeutische Behandlung der Borderline Persönlichkeitsstörung infrage. Im örtlichen Bezirkskrankenhaus wird die Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT) als einziger Therapieansatz allen Menschen mit Borderline-Diagnose
angeboten. Diese „Gleichbehandlung“ trifft auf Menschen, die sich noch nie in ihrer
Individualität, ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit gesehen und vor allem
wertgeschätzt fühlten, was verständlicherweise dazu führt, dass sie sich erneut nicht
wahrgenommen und willkommen fühlen. In Gesprächen hörte ich immer wieder, dass
die beschriebene Vorgehensweise in der Psychiatrie als kränkend und wenig hilfreich
erlebt wird. Zudem erlebte ich die sechs Probandinnen im täglichen Umgang als sehr
unterschiedliche Frauen, die sowohl bezogen auf ihr äußeres Erscheinungsbild als
auch auf ihre Vorlieben und Hobbys und nicht zuletzt auf ihre Symptomkonstellation
große Unterschiede aufwiesen. Auf diesem Hintergrund entwickelten sich Zweifel, ob
die wahrgenommene Gleichbehandlung bezogen auf das Angebot der therapeutischen
Interventionen gerechtfertigt ist.
Zudem beschreiben einige unserer Klientinnen, dass sie das Gefühl hätten, mit ihrer
Diagnose weniger liebevoll und fürsorglich behandelt zu werden als zum Beispiel
Menschen mit einer Schizophrenie. Eine Patientin, bei der noch bis vor wenigen
Jahren die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung in den Akten vermerkt war,
erklärte: „Seitdem ich Borderline bin, bin ich total abgestempelt, bin Patientin zweiter
Klasse. Mir wurde ins Gesicht gesagt, dass mir keine Zuneigung entgegengebracht
4
werden dürfe, weil ich schließlich Borderline sei.“ An dieser Aussage schockierten mich
mehrere Dinge: zum einen natürlich die Aussage, dass Menschen mit einer BorderlineStörung keine Zuwendung erfahren dürften und das Erleben, mit dieser Diagnose
schlechter behandelt zu werden, und zum anderen die Formulierung der Patientin,
„seitdem ich Borderline bin“. Es deutet für mich auf eine starke Identifikation mit der
Diagnose, mit dem „Stempel“ Borderline hin und könnte dazu führen, dass die
Diagnose weitgehend die Identität dieser Frauen bestimmt. So stellt sich mir die Frage,
ob sich Patientinnen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung in ihrem „In-der-WeltSein“ derart ähneln, dass man tatsächlich von „Borderline-Sein“ sprechen könnte?
Zielsetzung dieser Arbeit ist die Untersuchung von Personen mit einer Borderline
Persönlichkeitsstörung mittels standardisierter Bewegungsanalyse, um folgende
Fragestellung zu beantworten:
Zeigen Menschen mit der gleichen Diagnose, Borderline Persönlichkeitsstörung,
auch die gleichen Bewegungsmuster?
Die vorliegende Pilotstudie folgt der Entwicklung, den Körperausdruck in die
Erforschung von psychiatrischen Krankheitsbildern mit einzubeziehen und soll vor
allem
Auskunft
darüber
geben,
ob
Menschen
mit
einer
Borderlinestörung
sinnvollerweise auch in der Tanztherapie mit gleichen therapeutischen Programmen
behandelt werden sollen oder ob nur durch individuell entwickelte Therapiepläne eine
erfolgreiche Behandlung der Borderline Persönlichkeitsstörung erreicht werden kann.
5
2 Theoriekapitel
2.1 Hintergrundinformationen zur Bewegungsanalyse
„Wenn wir den Körper anschauen [sic], sehen wir die Geschichte dieses Körpers und
die Geschichte der Schwierigkeiten, die dieser Körper im Verhältnis zu sich selbst hat“
(ORBACH UND CARROLL 2006, S. 69).
„Bewegungsbeobachtungs-
und
-diagnoseinstrumente
der
Tanz-
und
Bewegungstherapie dienen der differenzierten Erfassung des Ist-Zustandes anhand
objektivierbarer Parameter mit dem Ziel, menschliches Verhalten besser zu verstehen
und zu erforschen, adäquate Interventionen zu bestimmen und den Therapieprozess
zu evaluieren“ (RÖSSLER 2004, S. 382). Die wissenschaftliche Weiterentwicklung und die
methodische
Anwendung
der
objektivierenden
Bewegungsanalyse,
die
als
diagnostisches Verfahren und zur Entwicklung eines Therapieplanes eingesetzt wird
(BERUFSVERBAND
DER
TANZTHERAPEUTINNEN DEUTSCHLANDS 2009), ist ein wesentlicher
Bestandteil der Tanztherapie.
Basierend auf den Erkenntnissen von Rudolf von Laban gibt es heute eine Reihe von
komplexen Bewegungsbeobachtungssystemen. Während Labans Ursprung der Tanz
als Kunstform war, hatte Judith Kestenberg als Kinderpsychiaterin die Entwicklung des
Kindes im Auge (BENDER 2007). Sie entwickelte das „Kestenberg-Movement-Profile“,
das von ihrer Tochter Janet Kestenberg-Amighi, Warren Lamb und anderen weiter
ausdifferenziert wurde und heute ein wissenschaftlich fundiertes und komplexes
System zur Bewegungsanalyse darstellt. Die vorliegende Arbeit basiert auf der „LabanBewegungsanalyse“ (LBA) und dem „Kestenberg Movement Profile“ (KMP), da diese
beiden Systeme in mehr als 150 Unterrichtsstunden in der Ausbildung zur
systemischen Tanztherapeutin am Europäischen Zentrum für Tanztherapie in München
schwerpunktmäßig vermittelt wurden.
In den folgenden Punkten gebe ich einen kurzen Überblick über die im Ergebniskapitel
verwendeten Begriffe aus der Bewegungsanalyse nach Laban und Kestenberg. Um
einen tieferen Einblick in die Materie zu erhalten, möchte ich auf die einschlägige
Fachliteratur verweisen (BENDER 2007; KESTENBERG-AMIGHI, LOMAN et al. 1999). Leser, die
bereits mit der Bewegungsanalyse vertraut sind, können dieses Kapitel überspringen.
6
2.1.1 Von den Spannungsflusseigenschaften zu den Antrieben – Modell der
konzentrischen Weltbeeinflussung
„Die Entwicklung des Menschen von den Spannungsflusseigenschaften am Anfang des
Lebens zur Integration der Antriebe bis ungefähr zum 6. Lebensjahr zeigt die Entwicklung von der Konzentration auf innere Vorgänge zur Zuwendung und Bewältigung der
Außenwelt“ (BENDER 2007, S.83).
BENDER beschreibt, dass Weltbeeinflussung Tätigkeiten umfasst, die die Umwelt verändern und eine Mikro- oder Makrogesellschaft stabilisieren. „Für die Fähigkeit der Weltbeeinflussung müssen wir den Zyklus von Spannungsflusseigenschaften (als muskuläre Vorbereitung), Vorantrieben (als Lernqualitäten) hin zu den Antrieben als eigentliche
Bewältigung der Umweltanforderungen durchlaufen“ (BENDER 2007, S. 87).
In allen Bewegungen sehen wir Spannungsfluss. Damit wird in der Bewegungsanalyse
der Wechsel von Muskelspannung im Körper bezeichnet. Beim gebundenen Fluss
kontrahieren der Agonist und der Antagonist gleichzeitig. „Wenn die Energie der
Bewegung frei durch den Körper fließt, sprechen wir von freiem Fluss. Die Bewegung
kann nicht unbedingt gestoppt werden, der Agonist funktioniert alleine ohne große
Kontrolle des antagonistischen Muskels“ (BENDER 2007, S. 10). Ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen freiem und gebundenem Fluss ist Voraussetzung für die
Eigenregulation von Emotionalität.
Die Spannungsflusseigenschaften stellen verschiedene Möglichkeiten des Wechselspiels von gebundenem und freiem Spannungsfluss dar und ermöglichen den Umgang
mit Gefühlen. Von allen Bewegungskategorien sind die Spannungsflusseigenschaften
als Ausdruck des Kerntemperaments die stabilsten über die Lebensspanne, wenn nicht
psychische oder physische Traumata diese Muster unterbrechen. Wir unterscheiden
sechs verschiedene Spannungsflusseigenschaften:
•
gleichbleibender Fluss
•
Adaptierung
•
hohe Intensität
•
niedrige Intensität
•
Abruptheit
•
Gradualität
Bei der Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern fand KESTENBERG heraus, dass
Vorantriebe die Brücke zwischen dem inneren Fokus auf die Muskeltätigkeit (Spannungsflusseigenschaften) und der sich entwickelnden Fähigkeit, mit den Realitäten der
Außenwelt umzugehen, darstellen. Sie bilden daher ein wichtiges Bindeglied in der
7
Entwicklung zur Weltbeeinflussung. „Wir sprechen immer dann von einem Vorantrieb,
wenn eine Bewegung mit einer inneren Anstrengung, Besorgnis oder Vermeidung
hinsichtlich der Aufmerksamkeit gegenüber dem Raum, der Absicht des Krafteinsatzes
und des Erspürens des richtigen Zeitpunktes geschieht“ (BENDER 2007, S. 31).
Den Faktoren Raum, Kraft und Zeit sind jeweils zwei Vorantriebe zugeordnet.
•
Raum: kanalisieren und flexibel
•
Kraft: vehement (mit freiem Bewegungsfluss) / angestrengt (mit gebundenem
Bewegungsfluss) und vorsichtig
•
Zeit: plötzlich und zögerlich
Bei der Bewegungsbeobachtung unterscheiden wir zwischen den Vorantrieben, die sowohl einen inneren (auf die Muskelspannung) als auch einen äußeren Fokus (auf die
Umwelt) haben, und den Antrieben, die die innere Motivation zur Problemlösung und
Konzentration auf die äußere Realität nutzen. Der Mensch drückt sich in seinen
Antrieben aus und teilt durch die Bewegung etwas von seinem inneren Wesen mit.
Antriebe beschreiben den dynamischen Aspekt der Bewegung. Den Faktoren Fluss,
Raum, Kraft und Zeit sind jeweils zwei Antriebselemente zugeordnet, von denen eines
eine eher nachgebende, einfühlende, weibliche und das andere eine eher
kämpferische, widerstehende, männliche Einstellung beinhaltet:
Fluss
Raum
Kraft
Zeit
Nachgebend
Frei
Indirekt
Leicht
Getragen
Ankämpfend
Gebunden
Direkt
Stark
Schnell
Tabelle 1: Nachgebende und ankämpfende Antriebselemente (BENDER 2007, S.69)
Auch die Vorantriebe können in ankämpfende und nachgebende Vorantriebe unterteilt
werden. Zum Bewegungsfluss gibt es keine Vorantriebe.
Raum
Kraft
Zeit
Nachgebend
Flexibel
Vorsichtig
Zögerlich
Ankämpfend
Kanalisieren
Vehement / Angestrengt
Plötzlich
Tabelle 2: Nachgebende und ankämpfende Vorantriebe
In Theorien des Kestenberg-Movement-Profiles (KMP) wird beschrieben, dass es für
die Bewältigung der Realität hilfreich sei, wenn die nachgebenden und ankämpfenden
Antriebe sowohl bei Männern als auch bei Frauen ausgewogen vorhanden sind
(BENDER 2007). Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung von den einzelnen
Spannungsflusseigenschaften hin zu den Antrieben und verdeutlicht die Entwicklung
der Weltbeeinflussung.
8
Spannungsfluss-
Vorantriebe
Antriebe
Lebensjahr
Gleichbleibend
Kanalisieren
Direkt
1. Lebensjahr
Adaptierend
Flexibel
Indirekt
1.-6. Lebensjahr
eigenschaft
Raum
Hohe Intensität
Kraft
Vehement/
angestrengt
Stark
2. Lebensjahr
Niedrige Intensität
Vorsichtig
Leicht
Abrupt
Plötzlich
Schnell
Zeit
3. Lebensjahr
Graduell
Tabelle 3:
Zögerlich
Getragen
Entwicklung der Weltbeeinflussung von den Spannungsflusseigenschaften zu den
Antrieben (BENDER 2007, S. 88)
2.1.2 Vom Formfluss zum Formen
„Solange wir leben, verändert sich allein schon durch das Ein- und Ausatmen mehr
oder weniger stark die Form unseres Körpers. Wenn wir einatmen, wird unser
Brustkorb weit und die Körperform ein bisschen runder. Wenn wir ausatmen, schrumpft
der Brustkorb zusammen und die Körperform wird ein bisschen flacher. Dieser
Formfluss, der Wechsel von Wachsen und Schrumpfen im Körper, gibt dem
Spannungsfluss und dem Wechsel von Spannungen im Körper Form oder Struktur. Er
ist die Grundlage für Beziehungsentwicklung, die mit der Beziehung zu sich selbst
beginnt und sich dann auf andere ausweitet“ (BENDER 2007, S. 127).
Die früheste und einfachste Form der Beziehungsgestaltung ist der bipolare Formfluss,
in dem das Baby symmetrisch zu einem angenehmen Stimulus oder Kontakt hinwächst
oder von einem unangenehmen Stimulus oder Kontakt wegschrumpft und damit ein
generalisiertes Bedürfnis an die Umwelt ausdrückt. Das interaktive Wachsen und
Schrumpfen mit der Bezugsperson legt den Grundstein für Vertrauen. Der bipolare
Formfluss ist daher der Ursprung jeder Beziehungsentwicklung. „Neugeborene zeigen
fast nur bipolaren Formfluss. Erst mit der motorischen Entwicklung in Verbindung mit
der Bindung an die Bezugspersonen entwickelt sich auch der unipolare, d.h. einseitige
Formfluss“ (BENDER 2007, S. 129). Der unipolare Formfluss ermöglicht das absichtsvolle
Wachsen oder Schrumpfen hin oder weg von einer Person oder einem Objekt bei
Empfindungen von Behagen oder Unbehagen. Erst mit den Richtungsbewegungen
kann die Person eine Brücke zu seinen Mitmenschen bauen, indem sie auf sie zeigt
oder sich bei Unbehagen gegen sie abblockt. Es „sind einfache, maximal
9
zweidimensionale Bewegungen, die geradlinig oder bogenförmig eine Richtung im
Raum beschreiben, um entweder ein Objekt zu lokalisieren, zu definieren, zu
kennzeichnen oder sich gegen Objekte oder Menschen zu verteidigen oder diese
abzuwehren“. (BENDER 2007, S. 151) Richtungsbewegungen wirken in einer Beziehung
eher distanzierend. Erst das Formen drückt eine komplexe Beziehung zu anderen
Menschen und Objekten aus. „Im Formen werden Teile oder der ganze Körper durch
die Bewegung mehrdimensional konkav oder konvex verändert, um sich den
Charakteren von Objekten oder Menschen anzupassen oder Menschen und Objekte
dazu zu bringen, sich anzupassen“ (BENDER 2007, S. 173). Der bipolare bzw. unipolare
Formfluss und die Richtungsbewegungen sind drei Dimensionen zugeordnet, die
wiederum den ersten drei Lebensjahren zugeordnet werden können:
Horizontale Dimension (1. Lebensjahr):
•
verbreitern / verschmälern (bipolarer Formfluss)
•
mittiges Verschmälern / seitliches Verbreitern (unipolarer Formfluss)
•
quer / seitwärts (Richtungsbewegungen)
Vertikale Dimension (2. Lebensjahr):
•
verlängern/verkürzen (bipolarer Formfluss)
•
verkürzen nach oben bzw. unten / verlängern nach oben bzw. unten (unipolarer
Formfluss)
•
abwärts / aufwärts (Richtungsbewegungen)
Sagittale Dimension (3. Lebensjahr):
•
auswölben / aushöhlen (bipolarer Formfluss)
•
auswölben nach vorne bzw. hinten / aushöhlen nach vorne bzw. hinten (unipolarer Formfluss)
•
rückwärts / vorwärts (Richtungsbewegungen)
Beim Formen sprechen wir nicht mehr von Dimensionen, sondern von Flächen. So
setzt sich z.B. die horizontale Fläche (Tischfläche) aus der horizontalen Dimension
(seit/seit) und der sagittalen Dimension (vor/rück) zusammen.
Horizontale Fläche: einschließen und ausbreiten
Vertikale Fläche (hoch/tief, seit/seit): sinken und steigen
Sagittale Fläche (vor/rück, hoch/tief): zurückziehen und vorrücken
10
2.2 Die Borderline Persönlichkeitsstörung im ICD 10 und die Übersetzung
ihrer Diagnosemerkmale in Bewegungsqualitäten
2.2.1 Borderline: vom Begriff zum klassifizierten Krankheitsbild
Bereits vor beinahe 150 Jahren veröffentlichten BREUER und FREUD Falldarstellungen
von Personen, die sie als „hysterisch“ bezeichneten. Nach heutigem Verständnis wären
diese Personen vielfach der Borderline Persönlichkeitsstörung zuzuordnen. Der Begriff
„Borderline“ tauchte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bereits in der Literatur auf, jedoch war seine Verwendung aufgrund der Vielfältigkeit der Symptome und
Erscheinungsformen eher diffus. Der Psychoanalytiker STERN führte basierend auf den
Erkenntnissen aus seiner psychoanalytischen Praxis 1938 den Begriff Borderline für
ein Krankheitsbild ein, das weder der psychiatrischen Gruppe der Neurosen noch der
der Psychosen zugeordnet werden konnte (SENDERA A.; SENDERA M.; 2007).
Zwischen 1967 und 1975 entwickelte O. F. KERNBERG eine Theorie der BorderlinePersönlichkeitsorganisation.
Zusammen
mit
den
von
GRUNDERSON
und
SINGER
entwickelten Kriterien ging Kernbergs Konzept 1980 erstmals als Definition der
Borderlinestörung in das DSM (diagnostisches und statistisches Manual) ein, das
vorwiegend in den Vereinigten Staaten von Amerika verwendet wird. In die
Internationale
Klassifikation
Weltgesundheitsorganisation
psychischer
wurde
die
Störungen
(ICD
Diagnose
der
10)
der
Borderline
Persönlichkeitsstörung erst 11 Jahre später aufgenommen, nämlich 1991 unter dem
Begriff der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, Borderline Typus (MENTZOS,
MÜNCH; 2003). Die ICD 10 ist das in Deutschland gebräuchliche Diagnoseschema.
2.2.2 Diagnosemerkmale nach ICD 10
In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen im Kapitel V ist die
emotional instabile Persönlichkeitsstörung, der die Borderline Störung als Unterpunkt
zugeordnet ist, wie folgt beschrieben:
„Eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung
von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter
Stimmung. Es besteht eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit,
impulshaftes Verhalten zu kontrollieren. Ferner besteht eine Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden. Zwei Erscheinungsformen können unterschie11
den werden: Ein impulsiver Typus, vorwiegend gekennzeichnet durch emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle; und ein Borderline-Typus, zusätzlich gekennzeichnet durch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen,
durch ein chronisches Gefühl von Leere, durch intensive, aber unbeständige Beziehungen und eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen
und Suizidversuchen“ (DEUTSCHES INSTITUT
FÜR MEDIZINISCHE
DOKUMENTATION
UND
INFORMATION,
2009).
Die Forschungskriterien der ICD 10 legen fest, dass, um von der „Emotional instabilen
Persönlichkeitsstörung, Borderline Typus“ (F60.3.1) sprechen zu können, mindestens
drei der folgenden Merkmale vorliegen müssen:
•
deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen
zu handeln;
•
deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann,
wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden;
•
Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens;
•
Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden;
•
unbeständige und unberechenbare Stimmung
Zusätzlich müssen mindestens zwei der folgenden Merkmale vorliegen:
• Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und "inneren Präferenzen" (einschließlich sexueller);
• Neigung sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der
Folge von emotionalen Krisen;
• übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden;
• wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung;
• anhaltende Gefühle von Leere.
(TRESS, WÖLLER et al.; 2002)
12
2.2.3 Übersetzung der Diagnosekriterien des ICD 10 in Bewegungskategorien
„In der klinischen Arbeit mit Patientinnen mit Borderline Persönlichkeitsstörungen fiel
schon immer die auffällige Störung des Verhältnisses zum eigenen Körper auf, dennoch fehlt dieses Kriterium in den Diagnosekriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (JORASCHKY und PÖHLMANN, 2006, S. 207).
Das Diagnoseschema der ICD 10, Kapitel V (Internationale Klassifikation psychischer
Störungen)
wird
im
europäischen
Raum
genutzt,
um
eine
Borderline
Persönlichkeitsstörung festzustellen. Die dort festgelegten Kriterien sind hierzulande im
psychiatrischen Arbeitsfeld allgemein bekannt. Zur Überprüfung der Fragestellung, ob
Menschen mit einer Borderlinestörung die gleichen Bewegungsmuster zeigen, ist ein
zugrunde liegendes Schema notwendig, das zusammen mit den Kenntnissen über
Bewegungsanalyse
geeignet
ist,
Probandinnen
mit
einer
Borderline
Persönlichkeitsstörung bewegungsanalytisch zu untersuchen. Dafür wurden die
Kriterien der ICD 10 in Bewegungskategorien übersetzt. Ziel der Übersetzung ist,
festzulegen wie sich die Diagnosekriterien im Körper und in der Bewegung
ausdrücken.
Diese
übersetzten
Kriterien
müssten
dann
in
unterschiedlicher
Gewichtung bei allen Probandinnen sichtbar werden. Inwieweit dies der Fall ist, wird im
Ergebniskapitel ausführlich dargestellt.
Diagnosekriterium
die
Im folgenden Abschnitt werden zu jedem
Bewegungsqualitäten
dargelegt,
die
aus
der
Verhaltensbeschreibung zu erwarten sind und für die spätere Auswertung des
Videomaterials zugrunde gelegt werden.
Aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Abschlussarbeit wird auf die Auswertung
der Spannungsflussrhythmen verzichtet, obwohl sie in der Übersetzung der
Diagnosekriterien erwähnt werden. KESTENBERG benannte „fünf Grundrhythmen, die
bestimmten Körperzonen zugeordnet sind. Diese fünf Grundrhythmen sind jeweils in
einen libidinösen, d.h. lustvollen, und einen aggressiven, d.h. trennenden, ablösenden
Rhythmus aufgeteilt“ (BENDER 2007, S. 91):
•
orale Rhythmen (Saug- und Beißrhythmus),
•
anale Rhythmen (Verdreh- und Pressrhythmus),
•
urethrale Rhythmen (Fließ- und Stopprhythmus),
•
innergenitale Rhythmen (Wiege- und Wogerhythmus)
•
außergenitale Rhythmen (Hüpf- und Sprungrhythmus)
Auch auf Körperspaltungsphänomene wird in der Übersetzung hingewiesen, obwohl
sie in der vorliegenden Studie nicht untersucht wurden.
13
•
Deutliche
Tendenz,
unerwartet
und
ohne
Berücksichtigung
der
Konsequenzen zu handeln
•
unbeständige und unberechenbare Stimmungen
Verhält sich eine Person unerwartet oder überraschend, deutet dies darauf hin, dass
sich abrupte Wechsel im Intensitätslevel der Bewegung zeigen. Die Person wechselt
abrupt von einem Spannungsgrad in einen anderen. Vielleicht bricht sie auch unvermittelt eine Bewegung ab und beginnt etwas Neues. Dass eine Bewegung oder Handlung
unerwartet erfolgt, kann bedeuten, dass sie aus der Person herausbricht, somit nicht
vorhergesehen werden kann. Vielleicht steht sie auch nicht unmittelbar in Zusammenhang mit der Situation. KLEIN (1998, S. 274) erklärt, dass diese abrupten Wechsel von
einer Bewegungsqualität zur nächsten die gefühlsmäßigen Wechselbäder im Kontakt
mit diesen Menschen auf der Bewegungsebene deutlich machen.
Dass die Konsequenzen einer Handlung nicht berücksichtigt werden, deutet darauf hin,
dass die Person in der Situation nicht antizipiert, also entweder nicht in der Lage ist,
die Folgen der Handlung abzuschätzen, oder diese aus verschiedenen Gründen außer
Acht lässt. Möglicherweise ist das Verhalten rein emotional gesteuert und es besteht
kein Zugang mehr zu rationalen Überlegungen. Dies würde auf ein „Kopf-Körper-Spaltungsphänomen“ hindeuten.
Die Fähigkeit, den Verlauf einer Handlung mit deren möglichen Konsequenzen zu antizipieren, setzt voraus, dass ein Bewusstsein von „Zeit“ besteht. Auf der Bewegungsebene übt ein Kind den Umgang mit Zeit im dritten Lebensjahr. Es ist die Phase des
Einübens der Harnkontrolle, des Einübens der Spannungsflussrhythmen Fließen und
Stoppen (KESTENBERG und KESTENBERG-AMIGHI, 1993). Bewegungen in dieser Phase finden
vermehrt in der sagittalen Dimension statt – d.h., es geht um vorwärts und rückwärts
und somit auch um die Auseinandersetzung mit Zukunft und Vergangenheit.
Fehlt nun die Fähigkeit zur Antizipation, gehen wir davon aus, dass die Integration des
Zeitfaktors in die Bewegung nicht gelungen ist. Dies bedeutet, dass der Person die beiden Zeitantriebe schnell und getragen nicht in ausgewogenem Maß zur Verfügung stehen. Somit kann es zum Beispiel sein, dass die Person im „schnellen“ Antrieb auf eine
Situation reagieren muss, in der der „getragene“ zwar angebrachter wäre, sie den jedoch nicht zur Verfügung hat.
Ich überprüfe bei diesem Diagnosekriterium nun das Vorhandensein von Abruptheit
und die Integration des Faktors Zeit durch die Überprüfung der Antriebe schnell und
getragen.
Die Patientinnen bleiben vermutlich mit der Beschäftigung im „Innen“ und kommen gar
nicht erst in die Antriebe von Zeit. Somit sollte sich eine deutliche Betonung der Span14
nungsflusseigenschaften und Vorantriebe im Vergleich zu den Antrieben zeigen.
Der zweite Teil des Diagnosekriteriums lautet „unbeständige und unberechenbare
Stimmungen“. Die Fähigkeit zur Eigenregulation von Emotionalität setzt grundsätzlich
ein ausgewogenes Verhältnis von freien und gebundenen Bewegungen voraus. Ich
vermute, dass bei den Probandinnen dieses Verhältnis nicht ausgewogen ist.
Außerdem
soll
überprüft
werden,
inwieweit
die
Probandinnen
verschiedene
Spannungsflusseigenschaften, also verschiedene Möglichkeiten des Wechsels von
freiem zu gebundenem Fluss, zur Verfügung haben. KESTENBERG beschrieb, dass die
Fähigkeit zur Regulation vielfältiger Stimmungen auch mit dem sogenannten „loadfactor“ zusammenhängt. Das bedeutet, wenn eine Person zwei oder drei verschiedene
Spannungsflusseigenschaften in verschiedenen Variationen benutzt, hat sie eine
größere Auswahl an Reaktionsmöglichkeiten und eher das Potenzial zu einem
angepassten Verhalten als jemand, der nur eine Eigenschaft zeigt (BENDER 2007). In
diesem
Zusammenhang
wird
vermutet,
dass
bei
den
Probandinnen
eine
Spannungsflusseigenschaft deutlich betont ist, denn wenn unberechenbare und
unbeständige Stimmungen zum Problem werden, kann davon ausgegangen werden,
dass die Regulation dieser Stimmungen über die Spannungsflusseigenschaften nicht
adäquat funktioniert.
•
Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur
Kontrolle explosiven Verhaltens
Mangelnde Impulskontrolle deutet auf Abruptheit in der Bewegung hin. KESTENBERGAMIGHI et al. (1999) beschreiben, dass eine Person, die die Abruptheit als
Überlebenstechnik anwendet, sehr unbeständig und labil ist.
Ausbrüche von Wut deuten auf eruptive Bewegungen hin. Im sechsten Lebensjahr
werden vermehrt eruptive Bewegungen sichtbar. Wir bezeichnen Bewegungen, die
durch ein „abruptes Ansteigen und Fallen der Spannung mit scharfen Übergängen in
hoher Intensität von freier zu gebundener Bewegung“ (BENDER 2007, S. 101) geschehen, als Sprungrhythmus.
Die Unfähigkeit zur Kontrolle des explosiven Verhaltens deutet darauf hin, dass die Bewegung in solchen Momenten im freien Bewegungsfluss abläuft. Um eine Bewegung
zu stoppen, bzw. sie zu kontrollieren, braucht die Person gebundenen Bewegungsfluss. Da bei der Borderline Persönlichkeitsstörung kennzeichnend ist, die Ausbrüche
von Wut oder Gewalt nicht kontrollieren zu können, scheint hier ein Ungleichgewicht
zwischen gebundenem und freiem Bewegungsfluss vorzuliegen und somit die Eigenregulation von Emotionalität beeinträchtigt zu sein. Außerdem liegt die Vermutung nahe,
15
dass der urethral aggressive Spannungsflussrhythmus Stoppen nicht zur Verfügung
steht. Stoppen gehört in die Phase des Erlernens der Harnkontrolle und hat mit der
Auseinandersetzung
mit
Persönlichkeitsstörung
Zeit
zeigen
zu
tun.
vermutlich
Menschen
mit
abrupt Ausbrüche
einer
Borderline
von Aggressivität
(Sprungrhythmus) und agieren diese dann im Fließrhythmus aus, ohne sie stoppen zu
können. Die mangelnde Kontrolle der Wut führt dazu, dass der Sprungrhythmus eine
bedrohliche Qualität erhält und dass beim Gegenüber das Gefühl entsteht, die Person
kann sich nicht mehr beherrschen, weil sie dem Gefühlsausbruch, der in hoher
Intensität auftaucht, kein Ende mehr setzen kann.
Zu diesem Diagnosekriterium werden die Spannungsflusseigenschaften abrupt und
hohe Intensität als innere Vorbereitung auf die Auseinandersetzung mit den Faktoren
Zeit und Kraft. Außerdem wird untersucht, ob Kraftantriebe vermehrt im freien
Bewegungsfluss gezeigt werden, da dies das Gefühl von mangelnder Kontrolle
erklären würde.
•
Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem
dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
Tendieren Menschen zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vermute ich ein allgemein hohes Anspannungsniveau. Dies zeigt sich in der Bewegung entweder in der
Spannungsflusseigenschaft hohe Intensität, im gebundenen Fluss oder im unvollständigen Pressrhythmus. Das heißt, die Spannung im Körper wird abrupt aufgebaut und in
hoher Intensität gleichbleibend gehalten. Die Unvollständigkeit des Pressrhythmus bedeutet, dass die Spannung nicht abrupt wieder losgelassen wird, sondern sie wird nur
langsam wieder abgebaut. Wir sehen ein Bewegungsmuster von lang anhaltender
Spannung im Körper. Der Pressrhythmus ist bei Kindern im 2. Lebensjahr besonders
deutlich
sichtbar.
Es
ist
die
Phase
der Aufrichtung
und
deutet
auf
die
Auseinandersetzung mit der eigenen Kraft hin. Gemeinsam mit dem anal-libidinösen
Rhythmus „verdrehen“ lernt das Kind, sich durchzusetzen und entwickelt ein Gefühl
von Autonomie. Streitereien und Konflikte könnten bei Menschen mit einer Borderline
Persönlichkeitsstörung ein Lösungsversuch sein, die im Körper aufgebaute Spannung
auszuagieren und abzubauen, da sie alleine keine Möglichkeit haben, das hohe
Anspannungsniveau, in das sie so abrupt geraten sind, auch wieder abrupt
loszulassen.
Impulsive Handlungen deuten auf den Sprungrhythmus hin, der auch abrupt und in hoher Intensität passiert. Geht dem Sprungrhythmus jedoch ein unvollständiger Pressrhythmus voraus, ist die impulsive Handlung eine Möglichkeit, das hohe Spannungsni16
veau auszuagieren. Hier wird der Sprungrhythmus zum „Endpunkt“ des Pressrhythmus. Also die Spannung, die in hoher Intensität im gebundenen Fluss gehalten wurde,
wird nicht wie im Pressrhythmus abrupt losgelassen und wechselt wieder in niedrige Intensität, sondern führt in hoher Intensität und freiem Fluss in eine Explosion. Das Gegenüber erlebt dies als bedrohlich. Für die betreffende Person ist es jedoch ein Lösungsversuch, das hohe Anspannungsniveau auszuagieren, da die Möglichkeit, die
Spannung bewusst loszulassen, durch das Fehlen des vollständigen Pressrhythmus
nicht zur Verfügung steht.
•
Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
Wenn Handlungen nicht beibehalten werden können, fehlt der Person die Fähigkeit,
Aufmerksamkeit zu halten. KESTENBERG-AMIGHI et al. (1999) sahen auch hier einen Zusammenhang mit Abruptheit in den Bewegungen.
Die grundsätzliche Fähigkeit zur Aufmerksamkeit hat jedoch vor allem mit der Integration des Raumfaktors in der Bewegung zu tun. BENDER zitierte RUDOLF VON LABAN: „Wer gelernt hat, sich zum Raum in Beziehung zu setzen, und dies physisch beherrscht, hat
Aufmerksamkeit (...)“ (BENDER 2007, S. 69).
Ich untersuche zu diesem Diagnosemerkmal die Integration des Raumfaktors durch die
Überprüfung des Verhältnisses der Raumantriebe direkt und indirekt und die zugrunde
liegenden
Spannungsflusseigenschaften
„gleichbleibend
und
adaptierend“
als
muskuläre Vorbereitung zur Entwicklung der Raumantriebe.
Der zweite Teil des Diagnosekriteriums ist, dass die Personen eine Handlung nur dann
beibehalten können, wenn diese unmittelbar belohnt wird. Das Wörtchen „unmittelbar“
deutet erneut darauf hin, dass den Personen die Fähigkeit, vorauszuplanen fehlt. Hier
geht es wie bereits beschrieben um die Fähigkeit zur Antizipation und somit um die
Auseinandersetzung mit dem Faktor Zeit in der Bewegung.
Zusätzlich müssen mindestens zwei der folgenden Eigenschaften und Verhaltensweisen vorliegen:
•
Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und “inneren
Präferenzen” (einschließlich sexueller). Ich-Störung
Das Selbstbild beschreibt die Vorstellung, die jemand von sich selbst hat. Es beruht auf
Selbstwahrnehmung und steht im Gegensatz zum Fremdbild, also wie Dritte jemanden
von außen wahrnehmen.
17
STERN hat in seinem Buch „Die Lebenserfahrung des Säuglings“ (STERN 2003) die sensomotorische Entwicklung des Kindes beschrieben. In seinem komplexen Modell beschreibt er unter anderem die Entwicklung der Empfindung des „Kernselbst“, welche
die Grundlage für das Selbstbild über die gesamte Lebensspanne darstellt. Die Erfahrung, die dieses „Kernselbst“ prägt, ist grundsätzlich körperlich. Das „Kernselbst“ entsteht, wenn das Kind seinen Körper kennenlernt. Es wird definiert als Integration von
Urheberschaft, Selbst-Kohärenz, Selbst-Affektivität und Selbstgeschichtlichkeit, die alle
kinästhetische Erlebnisse sind – d.h. vereinfacht die bewusste Wahrnehmung der eigenen Bewegung (RUSSEL 2008, S. 3).
Der Rumpf wird als Sitz des Kernselbst betrachtet, denn im Rumpfbereich empfinden
wir alle Gefühle. Eine Nichtwahrnehmung des Rumpfbereiches hat demnach auch immer eine emotionale Abgeschnittenheit zur Folge (BENDER 2007).
Bei einer Störung im Selbstbild können wir also davon ausgehen, dass auch die Entwicklung des „Kernselbst“ fundamental beeinträchtigt ist. Somit müssten wir in der Bewegung von Menschen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung wenig bis keine Bewegungen des Rumpfbereiches sehen, da die Körperteile, die nicht wahrgenommen
werden, auch nicht bewegt werden. Wir können damit rechnen, dass wenig Posituren
(die Bewegungen beziehen den ganzen Körper mit ein – gehen durch das Zentrum des
Körpers (BENDER 2007)) sondern primär periphere Bewegungen und Gesten (Aktionen
der Extremitäten, in der es zu keiner Gewichtsübertragung kommt (BENDER 2007)) in der
Bewegung gezeigt werden.
Außerdem wird vermutet, dass die Probandinnen kaum ein „Verdrehen“ in der
Wirbelsäule zeigen (anal libidinöser Spannungsflussrhythmus).
Körperspaltungen sind wahrscheinlich, zum Beispiel eine Arme-Körper-Spaltung, bei
der die Arme leblos oder mit gehaltener Energie wie am Körper „aufgehangen“ wirken.
Es besteht keine Verbindung zwischen „Sein“ (Rumpf) und „Tun“ (Arme/Hände)
(BENDER 2007).
•
Übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
Wenn Menschen sich bemühen, Verlassenwerden zu vermeiden, gehen wir davon aus,
dass sie grundsätzlich dazu neigen, festzuhalten. Festhalten sehen wir körperlich in einem unvollständigen Pressrhythmus.
Das übertriebene Bemühen Verlassenwerden zu vermeiden, deutet zudem darauf hin,
dass Personen mit einer Borderline Persönlichkeit einen starken Wunsch nach Nähe
und somit eine große Bedürftigkeit haben. Um dieser Ausdruck zu verleihen, zeigen sie
wahrscheinlich viele orale Rhythmen.
18
Außerdem kann eine deutliche Betonung des Raumantriebes direkt in Beziehung
vermutet werden, denn „Direktheit ermöglicht den konzentrierten Kontakt zu einem
Menschen. Das Gegenüber spürt genau, dass es gemeint ist.“ (BENDER 2207, S. 49)
•
Neigung, sich in intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen, oft
mit der Folge von emotionalen Krisen
Intensive Beziehungen lösen in der Regel starke Gefühle aus. Diese starken Gefühle
sind vermutlich der Grund, weshalb sich die Person auf die Beziehung einlässt.
Vermutlich ist vor allem die Spannungsflusseigenschaft „hohe Intensität" vertreten und
im Bewegungsfluss tritt „frei“ gegenüber „gebunden“ stärker zutage. Wir wissen, dass
bei Personen mit einer Borderline Störung die eigene Emotionalität grundsätzlich
instabil ist. Eine instabile Beziehung kann somit den Spiegel für die eigene emotionale
Instabilität darstellen.
•
Wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung
Bei allen Probandinnen der vorliegenden Studie liegt das Symptom der wiederholten
Selbstbeschädigung vor. Alle sechs Frauen verletzten sich in der Vergangenheit
massiv selbst oder/und haben bereits Suizidversuche unternommen. Bei zwei Frauen
ist das Muster der massiven Selbstverletzung noch heute häufig Thema. Alle Frauen
betrieben oder betreiben teils massiven Substanzmissbrauch und/oder haben bzw.
hatten Essstörungen (Bulimie, Esssucht). Bei einigen ist die Selbstschädigung durch
Ritzen, Schneiden oder Brennen durch engmaschige therapeutische Begleitung,
Kriseninterventionsstrategien und Skills-Training (LINEHAN 1996) weitgehend in den
Hintergrund gerückt. Wir machen jedoch die Erfahrung, dass selbstschädigendes
Verhalten ein tiefsitzendes und ein, wenn auch dysfunktionales, paradox haltgebendes
Verhaltensmuster zu sein scheint. Die Möglichkeiten der Selbstschädigung sind
vielfältig und die Erscheinungsformen werden gegeneinander ausgetauscht. So
beschreibt eine der Probandinnen, dass sie sich zwar nicht mehr schneide, dafür trinke
sie dann exzessiv Alkohol oder rauche eine Schachtel Zigaretten am Stück, obwohl sie
Raucher zutiefst verabscheue. Die Möglichkeit, sich selbst zu schädigen gebe ihr das
Gefühl, sich selbst bestrafen zu können und sie könne sich gar nicht vorstellen, sich
gar nicht mehr schaden zu dürfen. Die Abscheu und der Ekel vor dem eigenen Körper
sei so groß, dass sie sich nicht vorstellen könne, einen liebevollen Umgang mit ihm zu
pflegen und ihm nicht mehr schaden zu wollen. Bei einer anderen Probandin liegt eine
chronische Suizidalität vor. Sie hält fest am „Zwischen-den-Welten-Sein“ und gibt damit
ihrem Gefühl, lebendig tot zu sein, Ausdruck. Das Symptom der Drohungen und
19
Handlungen mit Selbstbeschädigung wird in der vorliegenden Studie nicht weiter
überprüft. Die teils schwerwiegenden Vernarbungen der Körper der Probandinnen
sprechen für sich und werden hier nicht weiter dargestellt.
•
Anhaltendes Gefühl von Leere
Das Gefühl von Leere steht im Gegensatz zu dem Gefühl von Ausgefüllt-, von SattSein. Im dritten Lebensjahr beschäftigen sich Kinder damit, was sie schon alles
können. „Während es im zweiten Lebensjahr sehr damit beschäftigt war, wie groß es
schon ist, kommt im dritten Lebensjahr ein Gefühl des Ausgefülltseins hinzu“ (BENDER
2007, S. 134). Es geht um die Entwicklung von Selbstvertrauen. Auf der
Bewegungsebene geht es nun um Bewegungen in der sagittalen Dimension (vor/rück),
die sich auf Qualitäten wie Antizipation, Entscheidung und Umsetzung beziehen und
somit das Selbstvertrauen stärken bzw. erzeugen. Ein Gefühl von Leere deutet auf ein
bipolares Aushöhlen hin. Das heißt, die Person höhlt z.B. beim Ausatmen sowohl den
Bauch- und Brustraum als auch den Rückenbereich aus. Der Körper schrumpft nach
innen.
Der bipolare Formfluss in der sagittalen Dimension ist vermutlich nicht dynamisch,
sondern erstarrt, was bedeutet, dass wir keinen Formfluss in der sagittalen Dimension
sehen.
20
3 Studie und Resultate
Die Antwort auf die wissenschaftliche Fragestellung, ob Personen mit der Diagnose
Borderline die gleichen Bewegungsqualitäten zeigen, wird in diesem Kapitel ausführlich
dargestellt. Die Vorbereitung und Durchführung der Studie wird erläutert, die
Ergebnisse dargelegt und die Konsequenzen für die therapeutische Begleitung von Patientinnen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung, die sich aus den Ergebnissen
der Studie ergeben, erklärt.
Die vorliegende Arbeit kann als Pilotstudie verstanden werden, die aufgrund des
begrenzten Rahmens einer Abschlussarbeit nicht größer angelegt werden konnte.
Die vorliegenden Ergebnisse sind aufgrund der geringen Stichprobe und der Tatsache,
dass die Studie von einer einzigen Person vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet
wurde, nicht repräsentativ, können allerdings eine richtungsweisende Grundlage für
weiterführende Studien bieten.
3.1 Stichprobe, Setting der Videoaufzeichnung und Prozedere der Auswertung
Alle sechs Probandinnen, die sich bereit erklärten an der Studie mitzuwirken, sind
Klientinnen des ambulant betreuten Wohnens am Landshuter Netzwerk. Bei den
ausgewählten
Probandinnen
wurde
von
Fachärzten
die
Borderline
Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Alle sechs Frauen leben in ihren eigenen
Wohnungen und werden im Rahmen des ambulant Betreuten Einzelwohnens durch
sozialpädagogisches Fachpersonal begleitet. Die Probandinnen sind zwischen 35 und
45 Jahre alt und bei allen ist die Erkrankung soweit ausgeprägt, dass sie dem
Arbeitsmarkt
nicht
zur
Verfügung
stehen.
Fünf
Probandinnen
beziehen
Erwerbsunfähigkeitsrente, eine bezieht Leistungen über die Bundesagentur für Arbeit.
Alle Probandinnen werden mit Psychopharmaka behandelt und sind seit Jahren im
Psychiatriesystem eingebunden.
Für die vorliegende Studie wurden ausschließlich Frauen ausgewählt, um die Stichprobe homogen zu halten.
Die Teilnehmerinnen haben sich freiwillig gemeldet, an der Studie teilzunehmen.
Aufgrund des sehr begrenzten Rahmens einer Abschlussarbeit entschied ich mich dafür, die Studie mit sechs Probandinnen durchzuführen. Die Probandinnen überlegten
sich jede ein Pseudonym, um die Anonymität der Studie zu sichern.
Für die Videoaufzeichnung wurden die Frauen einzeln in den Tanztherapieraum eingeladen. Allen sechs Probandinnen wurden die gleichen Bewegungsaufgaben gestellt,
21
um die Vergleichbarkeit der sechs Videos zu gewährleisten. Die Aufzeichnung dauerte
pro Probandin ungefähr 25 Minuten.
Die Teilnehmerinnen hatten zu Beginn der Videoaufzeichnung einige Minuten Zeit, sich
mit dem Therapieraum vertraut zu machen. Sie wurden gebeten, den Raum mit der
Videokamera und den bereitgelegten Medien wahrzunehmen und zu erkunden. Drei
der sechs Frauen kannten zwar den Therapieraum und auch die Methode der
Tanztherapie, jedoch war die Situation mit Videokamera für alle sechs Probandinnen
neu und ungewohnt. Dann sollten sie sich einen Platz im Raum aussuchen, um dort im
Stehen einige Sekunden von vorne, von hinten und von beiden Seiten aufgenommen
zu werden. Anschließend sollten sie auf verschiedene Arten durch den Raum gehen:
vorwärts, rückwärts, seitwärts gehen, dann dabei mit dem Tempo spielen, also mal
schnell, mal langsam gehen und zum Schluss noch eine eigene Art der Fortbewegung
finden. Diese Sequenz dauerte ca. drei bis vier Minuten und schloss die Phase des
Ankommens im Raum und in der neuen Situation ab. Nun sollten die Probandinnen mit
den drei bereitgestellten Medien (Ball, Tuch und Stab) nacheinander frei zu dem
vorgegebenen Musikstück (Peter Gabriel: Red Rain) improvisieren. Für die
Improvisation mit dem Ball, dem Tuch und dem Stab hatten die Probandinnen jeweils
ca. drei Minuten Zeit. Sobald die Musik angehalten wurde, sollten sie zum nächsten
Gerät wechseln. Bei der folgenden Aufgabe sollten die Probandinnen erneut mit den
drei Medien nacheinander improvisieren, diesmal allerdings mit mir in Beziehung zu
einem erneut vorgegebenen Musikstück (Cirque du Soleil: KA, forest). Diese Sequenz
dauerte insgesamt ungefähr 10 Minuten.
Für die letzte Bewegungsaufgabe hatten die Probandinnen eigene Musikstücke dabei.
Sie sollten sich eines der drei Medien, mit denen sie sich vorher bewegt hatten,
aussuchen und damit zu ihrem eigenen Musikstück frei improvisieren.
Für die Auswertung des Videomaterials wurde der Teil der freien Improvisation mit den
drei Medien alleine und in Beziehung verwendet. Der Rahmen dieser Abschlussarbeit
ließ nicht zu, dass mehrere, objektive Personen bei der Auswertung des
Videomaterials beteiligt wurden. Die sechs Videos wurden bezüglich jeder einzelnen
Bewegungsqualität (Spannungsflusseigenschaften, Antriebe, Vorantriebe, Formfluss
usw.) gesichtet und diese wurden dann einzeln ausgezählt. Eine Bewegung ist eine
abgeschlossene Aktion. Ein Schritt, Wurf, Stoß oder Schwung ist somit eine Bewegung
und wird auch als solche gezählt. Innerhalb dieser Aktionen kommt es durchaus zu
mehreren Wechseln im Spannungsfluss von frei zu gebunden, was erklärt, warum
deren Gesamtanzahl höher ist als die der Gesamtaktionen.
22
3.2 Die Ergebnisse
Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit den Ergebnissen der Studie. Zunächst werde ich
die vergleichende Auswertung im Sinne der Fragestellung darlegen. Anschließend
folge ich dem Wunsch meiner Probandinnen und stelle ihre individuellen Besonderheiten in den Bewegungsqualitäten dar.
Die Zusammenfassung der Ergebnisse und die Darlegung der Konsequenzen für die
tanztherapeutische
Begleitung
von
Patientinnen
mit
einer
Borderline
Persönlichkeitsstörung schließt das Kapitel ab.
3.2.1 Vergleichende Auswertung im Hinblick auf die bewegungsanalytischen
Diagnosekriterien
3.2.1.1 Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen
zu handeln / unbeständige und unberechenbare Stimmungen
Wenn Personen unerwartet handeln, bestimmt Abruptheit ihr Bewegungsmuster, und
wenn sie nicht in der Lage sind, Konsequenzen abzuschätzen, fehlt ihnen die Fähigkeit
zur Antizipation und sie haben ein mangelndes Gefühl für ZEIT.
Für den zweiten Teil des Diagnosemerkmals wird das Verhältnis von freiem und gebundenem Bewegungsfluss als grundlegende Voraussetzung für die Eigenregulation von
Emotionalität und das individuelle Repertoire an Spannungsflusseigenschaften
untersucht.
Lediglich bei einer von sechs Probandinnen zeigt sich ein Übergewicht von abruptem
zu graduellem Spannungsfluss (Tabelle 4, S. 24). In diesem Fall kann man nicht davon
ausgehen, dass Abruptheit grundsätzlich in der Bewegung bei Personen mit einer
Borderline-Störung stärker vertreten ist als Gradualität. Alle Personen haben Abruptheit
zur Verfügung und können daher unerwartet handeln. Fünf von sechs Personen zeigen
allerdings mehr Gradualität im Spannungsfluss und hätten somit eher die Anlagen für
den Zeit-Antrieb „getragen“. Bei Maria sind beide Spannungsflusseigenschaften relativ
ausgewogen vorhanden, wobei auch hier die Gradualität leicht betont ist.
23
SPANNUNGSFLUSSEIGENSCHAFT
Probandin
Abrupt
Graduell
Franziska
173
89
Stefanie
92
257
Tina
120
255
Juliane
60
373
Cindy
136
280
Maria
96
125
Mittelwert
113
230
Tabelle 4: Spannungsflusseigenschaften abrupt und graduell
Spannungsflusseigenschaften sind die muskuläre und innerpsychische Vorbereitung
für die Antriebe. Um die Entwicklung eines Gefühls für ZEIT zu untersuchen, überprüfe
ich, wie die Spannungsflusseigenschaften mit den gezeigten Antrieben korrelieren
(Tabelle 5, S. 25). Zeigen die Probandinnen nämlich vermehrt Antriebe, die nicht zu
den Spannungsflusseigenschaften passen, spricht man von einer Diskrepanz. Bei
Franziska
und
bei
Stefanie
zeigt
sich,
dass
entsprechend
der
Spannungsflusseigenschaften auch die passenden Antriebselemente von Zeit betont
sind. Bei Tina, Juliane und Cindy, die vermehrt Gradualität im Spannungsfluss
aufweisen, bedeutet dies eine Diskrepanz, da sie in den Antrieben deutlich häufiger
das Antriebselement schnell im Vergleich zu getragen zeigen. Das bedeutet, sie
benutzen einen Antrieb, ohne die muskuläre Vorbereitung dazu ausreichend zur
Verfügung zu haben. Auch bei Maria besteht eine Diskrepanz, denn bei leichter
Betonung der Gradualität zeigt sie in den Antrieben deutlich vermehrt das
Antriebselement schnell.
KESTENBERG-AMIGHI beschrieb, dass die Spannungsflusseigenschaften von allen
Bewegungskategorien am beständigsten seien, wenn nicht psychische oder physische
Traumata diese Muster unterbrechen (BENDER 2007). Da bei Borderline Patientinnen
vielfältige Traumatisierungen in der Biographie typisch sind (RUPPERT, 2004), können wir
nicht davon ausgehen, dass die gezeigten Spannungsflusseigenschaften zum Faktor
ZEIT das Grundtemperament der Personen abbilden, sondern aufgrund der
Traumatisierungen die normale Entwicklung unterbrochen wurde und die gezeigten
Spannungsflusseigenschaften
sich
vielmehr
als
Überlebenstechnik
im
Bewegungsmuster manifestierten. Dies würde die Diskrepanz bei der Entwicklung der
24
Antriebe
erklären.
KESTENBERG-AMIGHI
beschreibt,
wenn
Gradualität
als
Überlebenstechnik eingesetzt wird, „kann dies daher rühren, dass die Person die
Erfahrung gemacht hat, dass jeder schnelle Wechsel die Gefahr birgt, dass (...)
missbräuchliches Verhalten von Neuem beginnt“ (BENDER 2007, S. 24). Gradualität wird
häufig von Kindern gewalttätiger Eltern bevorzugt, vermutlich um nicht von der eigenen
oder der Spontaneität der anderen überrascht zu werden.
Bei Cindy, Tina, Juliane und Maria vermute ich, dass die Gradualität als Überlebenstechnik eingesetzt wurde und eventuell gar nicht ihrem Grundtemperament entspricht.
ZEIT
Antriebe
Probandin
Spannungsflusseigenschaften
Schnell
Getragen
Abrupt
Graduell
Franziska
3
0
173
89
Stefanie
5
10
92
257
Tina
20
1
120
255
Juliane
12
1
60
373
Cindy
30
0
136
280
Maria
31
2
96
125
Tabelle 5: Antriebe, Vorantriebe und Spannungsflusseigenschaften zum Faktor Zeit
Da bei der Borderline Persönlichkeitsstörung, wie bereits in Kapitel 2.2.3 dargestellt,
die Antizipationsfähigkeit fehlt oder nicht ausreichend vorhanden ist, gehe ich davon
aus, dass die Antriebe von ZEIT nicht integriert sind. Das bedeutet, dass den
Probandinnen von den beiden Antriebselementen schnell und getragen entweder nur
eines oder beide lediglich in deutlich unausgewogenem Maße zur Verfügung stehen.
Bei allen sechs Probandinnen besteht
ein unausgewogenes Verhältnis der
Antriebselemente schnell und getragen. Bei fünf von sechs Probandinnen wird dies
besonders deutlich. Fünf von sechs Probandinnen haben den Schwerpunkt auf dem
ankämpfenden Zeitantrieb schnell. Eine Person scheint sich eher im getragenen
Antrieb zu Hause zu fühlen. Zudem spielt die Auseinandersetzung bzw. die
Beeinflussung der Umwelt durch den Faktor Zeit bei erneut fünf von sechs
Probandinnen eine untergeordnete Rolle (siehe Tabelle 6, S. 26). Lediglich bei Maria
liegt die Beschäftigung mit den Zeitantrieben über dem Durchschnitt.
25
ZEIT
Probandin
Schnell
Getragen
Gesamtzahl Zeitantriebe
Anteil Zeitantriebe an
Gesamtzahl Bewegungen
Franziska
3
0
3
1%
Stefanie
5
10
15
4%
Tina
20
1
21
6%
Juliane
12
1
13
3%
Cindy
30
0
30
6%
Maria
31
2
33
13%
Mittelwert
17
2
19
6%
Tabelle 6: Antriebe zum Faktor Zeit
Bei den Vorantrieben von ZEIT zeigt sich, dass ihr Anteil an den Gesamtbewegungen
genau wie der der Antriebe sehr gering ist (Tabelle 7).
Alle sechs Probandinnen bleiben beim Faktor ZEIT in der inneren Auseinandersetzung
mit den Spannungsflusseigenschaften.
ZEIT
Antriebe
Probandin
Schnell
Getragen
Franziska
3
0
Stefanie
5
Tina
Vorantriebe
Anteil an
Anteil an
Plötzlich
Zögerlich
1%
7
8
5%
10
4%
7
8
4%
20
1
6%
4
4
2%
Juliane
12
1
4%
6
3
2%
Cindy
30
0
5%
9
6
2%
Maria
31
2
13%
7
10
7%
Mittelwert
17
2
6%
7
7
4%
Gesamtaktionen
Gesamtaktionen
Tabelle 7: Antriebe und Vorantriebe zum Faktor Zeit
Die Ergebnisse lassen auf eine große Unsicherheit in der Entwicklung eines Gefühls
für ZEIT schließen. Man kann insgesamt davon ausgehen, dass alle Probandinnen
Schwierigkeiten damit haben, Ereignisse zu antizipieren und den richtigen Zeitpunkt für
eine Aktion zu finden. Sie versuchen, entweder die Zeit zu beschleunigen oder sie aus26
zudehnen. Da ihnen beide Antriebe nicht in ausgewogenem Maße zur Verfügung stehen, werden sie auch in Situationen, in denen es nicht passend ist, mit dem zur Verfügung stehenden Antrieb reagieren.
Der zweite Teil des Diagnosekriteriums lautet „unbeständige und unberechenbare
Stimmung“. Es wird das Verhältnis von freiem zu gebundenem Bewegungsfluss als
Voraussetzung für die Eigenregulation von Emotionalität und zusätzlich das Repertoire
der Spannungsflusseigenschaften der Probandinnen untersucht, denn wenn eine
Person verschiedene Spannungsflusseigenschaften nutzen kann, hat sie deutlich mehr
Möglichkeiten im Umgang mit Stimmungen, als wenn sie nur auf eine einzige
Spannungsflusseigenschaft zurückgreifen kann.
Das
Ergebnis
zeigt,
dass
alle
sechs
Probandinnen
beide
Elemente
des
Bewegungsflusses zur Verfügung haben und somit grundsätzlich in der Lage sind,
ihren Spannungsfluss und somit auch ihre Emotionen zu modellieren (Tabelle 8). Bei
einer Person war das Verhältnis unausgewogen. Sie bewegte sich deutlich häufiger
gebunden als frei.
FLUSS
Probandin
Frei
Gebunden
Franziska
299
318
Stefanie
330
327
Tina
326
380
Juliane
184
453
Cindy
263
285
Maria
327
354
Mittelwert
288
353
Tabelle 8: Bewegungsfluss frei und gebunden
Bezüglich des Repertoires an Spannungsflusseigenschaften wird deutlich, dass vor
allem Stefanie, die sich hauptsächlich in niedriger Intensität bewegte, aber auch
Juliane, die Gradualität und Gleichbleibend zeigte, ein geringes Repertoire an
Spannungsflusseigenschaften zur Verfügung haben (Abbildung 1, S. 28). Cindy
bewegte sich vermehrt graduell, hat jedoch auch abrupt und gleichbleibend in
ausgewogenem Maße zur Verfügung. Bei Tina sehen wir zwar eine Überbetonung von
graduell,
jedoch
sind
die
anderen
fünf
Spannungsflusseigenschaften
relativ
ausgewogen vorhanden. Ihr scheint das größte und ausgewogenste Repertoire an
Spannungsflusseigenschaften zur Verfügung zu stehen.
27
Legende: rot = gleichbleibend; dunkelblau = adaptierend; gelb = hohe Intensität; grün = niedrige
Intensität; braun = abrupt; hellblau = graduell
Franziska
Stefanie
gleichbleibend, niedrige Intensität und abrupt
niedrige Intensität
Tina
Juliane
graduell betont, Rest ausgewogen
graduell und gleichbleibend
Cindy
Maria
graduell,
abrupt und gleichbleibend
hohe Intensität und graduell
Abbildung 1: Load-Factor / Repertoire der Spannungsflusseigenschaften
28
3.2.1.2 Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
Bei diesem Diagnosekriterium werden die Spannungsflusseigenschaften abrupt und
hohe Intensität untersucht. Um Gefühle wie Wut zu kontrollieren, spielt zudem der
Bewegungsfluss eine wichtige Rolle. Es wird überprüft, ob der Antrieb stark vermehrt
im freien Bewegungsfluss abläuft und somit beim Gegenüber das Gefühl mangelnder
Kontrolle entsteht.
Wie bereits weiter oben dargestellt, zeigt nur eine der Probandinnen vermehrt Abruptheit in den Bewegungen. Hohe Intensität ist nicht bei allen sechs Probandinnen stärker
vertreten als niedrige Intensität. Maria bewegte sich am häufigsten in hoher Intensität.
Bei Cindy zeigte sich eine leichte Überbetonung und Tina bewegte sich zwar häufig in
hoher Intensität, jedoch überwog in der Summe die niedrige Intensität in ihrem Bewegungsmuster (Tabelle 9, S. 30).
Die aufgrund des Diagnosekriteriums vermutete, überwiegend hohe Intensität konnte
demnach nicht bei allen Probandinnen beobachtet werden. Dies bedeutet natürlich
nicht, dass Ausbrüche von Wut und Gewalt bei den Probandinnen nicht vorkommen
können, denn alle sechs Probandinnen haben die hohe Intensität zur Verfügung, auch
wenn sie in der ausgewerteten Videosequenz bei vier Frauen eine mehr oder weniger
untergeordnete Rolle gespielt hat. Vier von sechs Probandinnen bewegten sich
häufiger in niedriger Intensität. Möglicherweise ist auch hier die niedrige Intensität zur
Überlebenstechnik aufgrund traumatischer Erlebnisse geworden und sie versuchen,
ihre Gefühle in niedriger Intensität weniger spürbar zu machen (BENDER 2007). Die
niedrige Intensität gepaart mit gebundenem Fluss kann für die Probandinnen eine
Möglichkeit darstellen, Ausbrüche von Wut und Gewalt zu vermeiden. Möglicherweise
fürchten die Klientinnen auch, außer Kontrolle zu geraten und kontrollieren ihre
Emotionalität über Bewegungen in gebundener niedriger Intensität.
Insgesamt können wir bei allen Probandinnen recht wenig Kraftantriebe im Vergleich
zu den Spannungsflusseigenschaften sehen. Sie bleiben ähnlich wie beim Faktor ZEIT
in der inneren Auseinandersetzung und wir können daher davon ausgehen, dass bei
allen Probandinnen Unsicherheit bezüglich ihres Krafteinsatzes besteht.
Bei Stefanie, Cindy und Maria ist das Antriebselement entsprechend der zugrunde liegenden Spannungsflusseigenschaft entwickelt, jedoch stehen ihnen die beiden Antriebselemente in deutlich unausgewogenem Verhältnis zur Verfügung. Der Faktor
KRAFT ist bei ihnen nicht integriert. Bei Franziska und Juliane sehen wir kaum Kraftantriebe. Das Verharren in den Spannungsflusseigenschaften wird bei ihnen besonders
deutlich (Tabelle 10, S. 30).
29
SPANNUNGSFLUSSEIGENSCHAFT
Probandin
Niedrige Intensität
Hohe Intensität
Franziska
222
67
Stefanie
346
13
Tina
118
109
Juliane
114
95
Cindy
89
100
Maria
18
161
Mittelwert
151
91
Tabelle 9: Spannungsflusseigenschaften niedrige und hohe Intensität
KRAFT
Probandin
Spannungsflusseigenschaften
Antriebe
Hohe Intensität
Niedrige Intensität
Stark
Leicht
Franziska
67
222
4
5
Stefanie
13
346
0
47
Tina
109
118
15
6
Juliane
95
114
7
6
Cindy
100
89
24
5
Maria
161
18
59
2
Mittelwert
91
151
18
12
Tabelle 10: Spannungsflusseigenschaften und Antriebe zum Faktor Kraft
Das grundsätzliche Verhältnis von freiem und gebundenem Spannungsfluss in der
Bewegung (siehe Tabelle 8, S. 27) war nur bei Juliane deutlich unausgewogen, die
deutlich vermehrt den gebundenen Fluss in der Bewegung nutzte. Es liegt nahe, dass
sie versucht, über den gebundenen Bewegungsfluss (in niedriger Intensität) ihre
Emotionen zu kontrollieren. Die Hälfte der Probandinnen zeigt den Antrieb stark, wie
vermutet, vermehrt im freien Bewegungsfluss (Tabelle 11, S. 31). Eine Probandin zeigt
gar kein stark, eine weitere genauso viele im freien wie im gebundenen
Bewegungsfluss. Die drei Probandinnen, die sich am häufigsten im Antrieb stark
bewegen, zeigen diesen auch vermehrt im freien Bewegungsfluss. Bei Tina und Maria
30
sehen wir stark mit freiem Bewegungsfluss ohne Raumbezug. Bei Tina war außerdem
zu beobachten, dass sie den Raumbezug zum Kraftantrieb stark erst in Beziehung
dazunahm. Alleine zeigte sie siebenmal stark ohne Raumbezug. Franziska zeigte
ausschließlich im Beziehungstanz den Kraftantrieb stark, beides mal mit Raumbezug.
Bei Cindy sehen wir ausschließlich stark mit Raumbezug. Bei ihr fällt außerdem auf,
dass sie den gebundenen Bewegungsfluss hauptsächlich in Beziehung mit dem
Antrieb stark kombinierte. Es entsteht der Eindruck, dass sie sich in Beziehung im
starken Kraftausdruck stärker kontrolliert.
Bei den Vorantrieben sehen wir bei allen Probandinnen eine Überbetonung des
Vorantriebes vehement, das heißt gepaart mit freiem Bewegungsfluss (Tabelle 12).
stark mit frei
stark mit frei
stark mit gebunden
Stark mit gebunden
ohne Raumbezug
mit Raumbezug
ohne Raumbezug
mit Raumbezug
Franziska
-
2
-
2
Stefanie
-
-
-
-
Tina
8
6
-
1
Juliane
-
3
-
4
Cindy
-
17
-
7
Maria
6
31
-
22
Mittelwert
2
10
0
6
Probandin
Tabelle 11:
Antriebselement stark mit Spannungsfluss frei/gebunden verbunden mit
Raumbezug
Vehement
Angestrengt
(mit frei)
(mit gebunden)
Franziska
4
2
6
Stefanie
3
-
3
Tina
7
1
8
Juliane
4
2
6
Cindy
8
2
10
Maria
11
7
18
Mittelwert
6
2
9
Probandin
Tabelle 12:
Gesamt Vorantriebe KRAFT
Vorantrieb vehement (mit frei) und angestrengt (mit gebunden)
31
3.2.1.3 Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann,
wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
Wir überprüfen bei diesem Diagnosekriterium ein allgemein hohes Anspannungsniveau, das sich durch die Spannungsflusseigenschaft hohe Intensität und im gebundenen Bewegungsfluss zeigt. Impulsive Handlungen deuten außerdem auf Abruptheit in
Bewegungen hin.
Wie weiter oben bereits gezeigt, konnte nur bei einer Person vermehrt Abruptheit
(siehe Tabelle 4, S. 24) und insgesamt kein durchgehendes Übergewicht der
Spannungsflusseigenschaft hohe Intensität (siehe Tabelle 9, S. 30) festgestellt werden.
Alle sechs Probandinnen haben zwar die hohe Intensität zur Verfügung, jedoch ist bei
vier von sechs Probandinnen die niedrige Intensität in der Bewegung stärker betont.
Fünf von sechs Klientinnen bewegen sich häufiger gebunden als frei (siehe Tabelle 8,
S. 26), jedoch ist dieses Verhältnis nur bei einer Person außergewöhnlich deutlich.
3.2.1.4 Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
Der Ausdruck „unmittelbar“ in dem Diagnosekriterium deutet auf einen Zusammenhang
mit der Antizipationsfähigkeit und somit mit der Integration des Faktors ZEIT in die
Bewegung hin. Wie bereits weiter oben erwähnt (siehe Punkt 3.2.1.1), besteht
durchgängig Unsicherheit beim Faktor ZEIT und wir können von einer mangelnden
Antizipationsfähigkeit bei allen Probandinnen ausgehen.
Die grundsätzliche Fähigkeit zur Beibehaltung von Handlungen hat etwas mit
Aufmerksamkeit und somit mit der Integration des Faktors RAUM in die Bewegung zu
tun. Neben den Antrieben direkt und indirekt untersuche ich die zugrunde liegenden
Spannungsflusseigenschaften gleichbleibend und adaptierend. Grundsätzlich fördert
gleichbleibender Spannungsfluss die Konzentration und das Beibehalten einer
Handlung (BENDER 2007).
Alle sechs Probandinnen zeigen ein deutlich unausgewogenes Verhältnis der Raumantriebe, wobei bei allen der direkte Antrieb überwiegt. Es bestätigt sich hier, dass der
Faktor Raum bei allen sechs Probandinnen nur sehr unausgewogen genutzt wird. Vor
allem bei Franziska, Cindy und Maria kann man von einer mangelnden Integration des
Raumfaktors sprechen. Stefanie, Tina und Juliane haben den indirekten Raumantrieb
deutlicher zur Verfügung, jedoch nutzen auch sie hauptsächlich den direkten.
Zusätzlich ist bei ihnen die Betonung des Antriebsvorläufers kanalisieren auffällig, denn
in den Fällen, in denen sie kanalisieren, versuchen sie direkt zu sein (siehe Tabelle 13,
S. 33).
32
Wir kommen mit der Fähigkeit zum Antrieb direkt auf die Welt, da er uns die Fähigkeit
verleiht, uns auf die erste Bezugsperson zu beziehen. Der indirekte Antrieb steht uns
nicht von Anfang an zur Verfügung, sondern wir müssen ihn uns durch die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Umwelt erarbeiten (BENDER 2007, S. 51). Der
Prozess der Entwicklung des indirekten Raumantriebes und somit der Fähigkeit, sich
Überblick über eine Situation zu verschaffen, dauert in der Regel bis zum Ende der
Grundschulzeit.
Bei allen Probandinnen ist deutlich der direkte, also erste Antrieb des Lebens betont.
Besonders bei Franziska und bei Cindy, aber auch bei Maria ist das Verhältnis sehr
unausgewogen. Franziska und Cindy nutzen fast ausschließlich den direkten
Raumantrieb. Beide beziehen sich deutlich und fast ausschließlich auf das zur Verfügung gestellte Objekt oder die Bezugsperson.
RAUM
Antriebe
Probandin
Franziska
Stefanie
Tina
Juliane
Cindy
Maria
Vorantriebe (VAN)
Direkt
Indirekt
Gesamt
Kanalisieren
Flexibel
Gesamt
138
6
144
41
44
85
95%
5%
100%
48%
52%
100%
158
61
219
53
5
58
72%
28%
100%
92%
8%
100%
87
41
128
30
4
34
68%
32%
100%
88%
12%
100%
94
46
140
10
2
12
67%
33%
100%
83%
17%
100%
283
11
294
96%
4%
100%
-
-
-
91
12
103
40
10
50
88%
12%
100%
80%
20%
100%
Tabelle 13: Antriebe und Vorantriebe zum Faktor Raum
Bezüglich der Spannungsflusseigenschaften gleichbleibend und adaptierend lässt sich
feststellen, dass bei Juliane und Franziska ein deutlich unausgewogenes Verhältnis
vorhanden ist. Bei ihnen ist die Spannungsflusseigenschaft gleichbleibend am
deutlichsten vorhanden. Somit müssten diese beiden die beste Grundausstattung zur
Beibehaltung einer
Probandinnen
der
Handlung haben. Grundsätzlich ist bei fünf von sechs
gleichbleibende
Spannungsfluss
stärker
vertreten
als
der
adaptierende. Lediglich Tina zeigt mehr Adaptierung.
33
SPANNUNGSFLUSSEIGENSCHAFT
Probandin
Gleichbleibend
Adaptierend
Franziska
230
58
Stefanie
91
69
Tina
82
121
Juliane
275
21
Cindy
158
44
Maria
89
54
Mittelwert
154
61
Tabelle 14: Spannungsflusseigenschaften gleichbleibend und adaptierend
Eine Diskrepanz entsteht immer dann, wenn Menschen einen Antrieb zeigen, ohne die
zugrunde liegende Spannungsflusseigenschaft zu zeigen. Bei vier von sechs
Probandinnen
hat
sich
aus
der
Betonung
der
Spannungsflusseigenschaft
gleichbleibend auch der Antrieb direkt entwickelt. Bei Tina sehen wir eine Diskrepanz,
da sie vermehrt adaptierenden Spannungsfluss zeigte, bei den Antrieben dann aber
mehr den direkten Raumantrieb nutzte.
RAUM
Probandin
Spannungsflusseigenschaften
Antriebe
Gleichbleibend
Adaptierend
Direkt
Indirekt
Franziska
230
58
138
6
Stefanie
91
69
158
61
Tina
82
121
87
41
Juliane
275
21
104
46
Cindy
158
44
283
11
Maria
89
54
91
12
Mittelwert
154
61
144
30
Tabelle 15: Spannungsflusseigenschaften und Antriebe zum Faktor Raum
Fünf
von
sechs
Probandinnen
haben
durch
die
Spannungsflusseigenschaft
gleichbleibend die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu halten. Alle sechs Probandinnen
haben den Antrieb direkt zur Verfügung. Keine der Probandinnen scheint ein
grundsätzliches Problem damit zu haben, Handlungen beizubehalten. Da jedoch bei
34
allen Probandinnen Schwierigkeiten bei der Integration des Faktors ZEIT in die
Bewegung bewiesen wurden und somit die Antizipationsfähigkeit eingeschränkt ist,
haben alle sechs Probandinnen Probleme damit, vorauszuplanen und so wird eine
eventuell anstrengende oder herausfordernde Handlung nicht beibehalten, weil sie
nicht in die Zukunft planen und somit mögliche Vorteile nicht antizipieren können.
3.2.1.5 Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und “inneren Präferenzen” (einschließlich sexueller); Ich-Störung
Die Grundlage für das Selbstbild ist die Entwicklung der Empfindung des Kernselbst.
Untersucht werden die Bewegungen des Rumpfbereiches als Sitz des Kernselbst.
Die Kernselbstempfindung scheint bei allen Probandinnen problematisch zu sein. Alle
Probandinnen zeigen wenig Rumpfbewegungen. Besonders ausgeprägt ist das
Kriterium bei Franziska und Stefanie. Hier können wir von einer tief greifenden Störung
des Selbstbildes ausgehen.
Die Auszählung der Rumpfbewegungen ergab, dass die Probandinnen durchschnittlich
bei 27% ihrer Bewegungen den Rumpfbereich einsetzen oder mitbewegen (Tabelle
16). Die meisten Aktionen (durchschnittlich 73%) beinhalten lediglich Bewegungen der
Körperperipherie, d.h. der Arme oder Beine.
Im Vergleich dazu wurden auch meine eigenen Aktionen bei der Improvisation in Beziehung ausgezählt und festgestellt, dass 64% meiner Aktionen Rumpfbewegungen
enthalten.
Probandin
Anzahl Aktionen
Anzahl Aktionen mit
Rumpfbeteiligung
Anteil der Bewegungen
mit Rumpfbeteiligung
Gesamtzahl
Franziska
296
55
19%
Stefanie
359
47
13%
Tina
349
135
39%
Juliane
376
86
23%
Cindy
501
140
28%
Maria
246
99
40%
Durchschnitt gerundet
355
94
27%
Vergleichsperson
1014
653
64%
Tabelle 16: Anteil der Bewegungen mit Rumpfbeteiligung an Gesamtzahl der Bewegungen
35
Betrachtet man nun, ob und inwieweit sich die Anzahl der Rumpfbewegungen in der
Improvisation alleine und in Beziehung unterscheidet, zeigt sich vor allem bei Stefanie
eine deutliche Veränderung (Tabelle 17). Sie beteiligt ihren Rumpfbereich in Beziehung
deutlich mehr als im Solotanz. Lediglich bei Franziska ändert sich das Verhältnis nicht.
Bei fünf von sechs Probandinnen können wir Veränderungen in der Beteiligung des
Rumpfbereiches
in
Beziehung
feststellen.
Maria
beteiligt
ihren
Rumpf
im
Beziehungstanz weniger als in der Improvisation alleine.
Solo
Probandin
Gesamtzahl
der Aktionen
Anzahl mit
Rumpfbeteiligung
In Beziehung
Anteil der
Rumpfbeteili
Gesamtzahl
gung an
der Aktionen
Gesamtzahl
Anzahl mit
Rumpfbeteiligung
Anteil der
Rumpfbeteiligung an
Gesamtzahl
Franziska
167
31
19%
129
24
18%
Stefanie
220
17
7%
139
30
22%
Tina
175
42
24%
174
93
53%
Juliane
270
39
14%
106
47
44%
Cindy
305
65
21%
196
75
38%
Maria
122
68
56%
124
31
25%
Mittelwert
Tabelle 17:
24%
33%
Bewegungen mit Rumpfbeteiligung in Solo-Improvisation und in Improvisation in
Beziehung
Neben Aussagen über die Kernselbst-Empfindung der Probandinnen und damit über
ihr Gefühl sich selbst gegenüber lässt dieses Ergebnis auch Rückschlüsse auf
Probleme in der Beziehungsgestaltung zu, da die Probandinnen durch die mangelnde
Bewegung des Rumpfbereiches auch kaum Formen als essentielle Voraussetzung für
Beziehungsgestaltung zeigen. Ohne Rumpfbeteiligung ist Formen nicht möglich.
Bei Stefanie, Tina, Juliane und Cindy zeigt sich, dass sowohl die grundlegende
Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung, wie vermutlich auch die Bereitschaft vorliegen.
Diese vier Probandinnen beziehen in Beziehung ihren Rumpfbereich stärker mit ein.
Bei Maria besteht eine grundlegende Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung, jedoch
scheint sie aus unbekannten Gründen auf diese Fähigkeiten in Beziehung nicht
zurückzugreifen.
36
3.2.1.6 Neigung, sich in intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der
Folge von emotionalen Krisen / Übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden.
Bei diesem Diagnosekriterium wird das Vorhandensein von hoher Intensität in der
Bewegung überprüft. Wie bereits dargestellt ist nur bei zwei von sechs Probandinnen
die hohe Intensität im Spannungsfluss betont. Die Neigung, sich in intensive, aber
instabile Beziehungen einzulassen, kann nicht mit einer allgemein hohen Intensität im
Spannungsfluss in Zusammenhang gebracht werden.
Außerdem wird bei diesem Kriterium untersucht, ob die Probandinnen in Beziehung
vermehrt den direkten Raumantrieb nutzen.
Bei vier von sechs Probandinnen konnte festgestellt werden, dass sie im Vergleich zur
Improvisation alleine in der Sequenz in Beziehung mehr direkt zeigen als im Solotanz
(Tabelle 18, S. 38). Bei Franziska und Cindy war dies besonders auffällig. Bei Tina und
Maria fiel auf, dass sie in der Improvisation mit den Medien in Beziehung weniger direkt
nutzten als alleine. Bei Maria war dies besonders deutlich.
Bei Franziska und Cindy tritt der direkte Raumantrieb in Beziehung deutlich in den Vordergrund. Sie beziehen sich stark auf ihr Gegenüber. Dabei tritt der indirekte Raumantrieb gegenüber dem Solotanz zurück (Tabelle 19, S. 38). Stefanie zeigt in Beziehung
zwar auch mehr
direkt, jedoch auch deutlich mehr indirekt als in der Improvisation
alleine. Stefanie scheint beide Raumantriebe zur Verfügung zu haben und sie auch
adäquat zu nutzen. Franziska und Cindy neigen dazu, sich sehr deutlich auf ihr
Gegenüber zu beziehen und ihm das Gefühl geben, dass es unersetzlich und
lebensnotwendig ist. Beide sind übrigens sehr stark bezogen auf ihre Bezugspersonen
aus dem Hilfesystem und können mit Trennungen nur sehr schwer umgehen. Ich
vermute hier einen Zusammenhang mit dem nur sehr rudimentär vorhandenen
indirekten Antrieb.
Es
erinnert
an
die
Entwicklungsphase,
bevor
ein
Kind
Objektpermanenz erreicht hat und die Existenz eines Objektes oder einer
Bezugsperson nur durch den direkten Blickkontakt sicherstellen kann.
Bei Maria und Tina ist es umgekehrt. Sie nutzen den indirekten Antrieb in Beziehungen
stärker als im Solotanz. Den direkten Antrieb nutzen sie im Beziehungstanz weniger als
in der Improvisation alleine. Der direkte Raumantrieb in Beziehungen ist nicht bei allen
stärker vorhanden als bei der Bewegung alleine. Alle sechs Frauen zeigen zwar den
Antrieb
direkt
in
Beziehungen,
was
eine
Voraussetzung
für
jegliche
Beziehungsaufnahme darstellt, jedoch zwei weniger als im Solotanz und bei einer lässt
sich kaum eine Veränderung feststellen. Bei drei von sechs Probandinnen trifft es zu,
dass sie in Beziehung den Antrieb direkt deutlich stärker nutzen.
37
Direkt in Beziehung
Probandin
Anzahl
Anteil an
Gesamtbewegungen
Direkt im Solotanz
Anzahl
Anteil an
Gesamtbewegungen
Franziska
91
73%
47
39%
Stefanie
80
58%
78
35%
Tina
35
20%
52
30%
Juliane
52
49%
42
40%
Cindy
152
76%
131
43%
Maria
28
23%
63
52%
Mittelwert
73
50%
69
40%
Tabelle 18: Antrieb direkt in Beziehung und alleine
indirekt in Beziehung
Probandin
Anzahl
Anteil an
Gesamtbewegungen
indirekt im Solotanz
Anzahl
Anteil an
Gesamtbewegungen
Franziska
1
1%
5
3%
Stefanie
56
40%
5
3%
Tina
28
16%
13
7%
Juliane
28
26%
18
7%
Cindy
3
2%
8
3%
Maria
8
6%
4
3%
Mittelwert
21
15%
9
4%
Tabelle 19: Antrieb indirekt in Beziehung und Alleine
3.2.1.7 Anhaltendes Gefühl von Leere
Bei allen sechs Probandinnen konnte kein dynamischer oder erstarrter (bipolarer)
Formfluss in der sagittalen Dimension wahrgenommen werden. Auch in den anderen
beiden Dimensionen (horizontal und vertikal) konnte wenig Formfluss beobachtet
werden. Dass ur wenig Formfluss sichtbar war, könnte mit der Kernselbstempfindung
(siehe Punkt 3.2.1.5) zusammenhängen. Formfluss wird im Rumpfbereich initiiert, da er
eng mit der Atembewegung verbunden ist. Werden Bewegungen im Rumpfbereich
festgehalten, führt dies zu einer eher flachen Atmung und zu kaum sichtbaren
Formfluss. Wenn nun alle sechs Probandinnen keinen Formfluss in der sagittalen
38
Dimension zeigen, fehlt ihnen auch die Wahrnehmung des Gefühls von AusgefülltSein,
das durch das dynamische bipolare Aushöhlen und Auswölben des
Rumpfbereiches erfahrbar wird. Somit entsteht keinerlei dynamisches Empfinden
davon, wann ich „satt“ bzw. „leer“ oder „hungrig“ bin. Wenn keine Unterschiede
wahrgenommen werden, gibt es im Empfinden keine Modulationen oder Abstufungen.
Das chronifizierte Gefühl von Leere entsteht aus dem nicht vorhandenen Formfluss in
der sagittalen Dimension und wird daher in der Bewegung aller Probandinnen sichtbar.
3.2.1.8 Ergebnisse, die nicht klar einem Diagnosemerkmal zugeordnet werden
können
Bei allen Probandinnen konnte ich eine deutliche Überbetonung ankämpfender Antriebe zu nachgebenden Antrieben erkennen (Abbildung 2, S. 40). Die Theoretiker des
Kestenberg Movement Profiles gehen davon aus, dass ein ausgewogenes Verhältnis
von nachgebenden und ankämpfenden Antriebselementen sowohl bei Frauen als auch
bei Männern hilfreich ist, um die Realität zu bewältigen (BENDER 2007).
Diese Überbetonung der ankämpfenden Antriebe bei den Probandinnen deutet darauf
hin, dass alle sechs Frauen versuchen, die Welt durch widerstehende und ankämpfende Bewegungsqualitäten zu beeinflussen. Möglicherweise wehren sie die nachgebenden und sich hingebenden Antriebe ab, da sie möglicherweise angstbesetzt sind.
Bei den Vorantrieben (Abbildung 3, S. 41) zeigt sich, dass die nachgebenden Elemente
bei vier von sechs Probandinnen ein Lernfeld darstellen, da ihr Anteil deutlich größer
als bei den Antrieben ist. Franziska, Juliane, Cindy und Maria üben sich durch die Vorantriebe in den nachgebenden Antriebselementen, bzw. sie erhalten eine „Als-ob-Qualität“. Sie tun zum Beispiel so, als bewegten sie sich leicht, getragen oder flexibel, benutzen den Antrieb aber nicht wirklich. Die Reaktion auf Umweltanforderungen durch
Vorantriebe ermöglicht den Probandinnen allerdings nicht die tatsächliche Bewältigung
der Realität. Die verstärkte Auseinandersetzung mit den nachgebenden Elementen
zeigt bei allen vier Frauen, dass sie versuchen, diese zu zeigen, es aber aus unbekannten Gründen noch nicht können, wollen oder es sich erlauben. Bei Tina bleibt das
Verhältnis von nachgebenden zu ankämpfenden Elementen bei den Vorantrieben
ziemlich stabil. Stefanies Vorantriebe zeigen sogar eine Verstärkung der ankämpfenden Elemente. Sie scheint sich mehr in der Entwicklung dieser Elemente zu üben.
39
Franziska
Stefanie
Tina
Juliane
Cindy
Maria
Abbildung 2: Verhältnis ankämpfende (rot) zu nachgebende (blau) Antriebe
40
Franziska
Stefanie
Tina
Juliane
Cindy
Maria
Abbildung 3: Verhältnis ankämpfende (rot) zu nachgebende (blau) Vorantriebe
41
Bezüglich der Verteilung der Antriebe zeigt sich bei den Probandinnen eine deutliche
Betonung von Antrieben zum Raumfaktor gegenüber Antrieben zum Kraft- oder
Zeitfaktor. Die Beeinflussung der Umwelt durch die Antriebe stark, leicht, schnell und
getragen spielt bei allen Probandinnen eine untergeordnete Rolle. Besonders deutlich
wird dies bei Franziska, Cindy und Juliane. In den Bereichen Kraft und Zeit bleiben sie
in der Auseinadersetzung im Innen und konnten die Antriebe nicht ausreichend in die
Bewegung integrieren, was bei allen sechs Probandinnen dazu führt, dass sie wenig
Gefühl für den richtigen Zeitpunkt einer Aktion oder ihre Selbstwirksamkeit durch die
Nutzung der Kraftantriebe haben (siehe Abbildung 4).
Franziska
Stefanie
Tina
Juliane
Cindy
Maria
Abbildung 4: Verteilung der Raumantriebe (blau), Kraftantriebe (rot) und Zeitantriebe (gelb) auf
Gesamtzahl der Antriebe
42
3.2.2 Besonderheiten der einzelnen Analysandinnen in ihren individuellen Bewegungsqualitäten
Bei der bewegungsanalytischen Auswertung der einzelnen Probandinnen gehe ich auf
Besonderheiten in ihren Bewegungsmustern ein. Die Musikstücke, die die Probandinnen zur Videoaufzeichnung selbst mitgebracht hatten, habe ich bei der folgenden Beschreibung aufgeführt. Ich empfehle, sich diese Titel zum Beispiel auf Youtube
(www.youtube.de) anzuhören, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Stimmung
diese Stücke transportieren.
Im folgenden Abschnitt stelle ich dar, welche Bewegungsqualitäten von den
Probandinnen bei der freien Improvisation mit dem eigenen Musikstück schwerpunktmäßig gezeigt werden und greife individuelle Besonderheiten aus 3.2.1 auf.
3.2.2.1 Franziska:
Eigenes Musikstück: G.G. Anderson: Wir sind auf der Erde, um glücklich zu sein
Gewähltes Medium: Tuch
Bei der Improvisation zu ihrem mitgebrachten Musikstück wiegt sich Franziska in
gleichbleibender, niedriger Intensität zur Musik. Wie bei der Auszählung des Repertoires an Spannungsflusseigenschaften gezeigt (Abbildung 1, S. 28), sind gleichbleibend und niedrige Intensität mit abrupt, welches hauptsächlich in den Kopfbewegungen auftauchte, ihre überwiegend genutzten Spannungsflusseigenschaften. Hieraus ergibt sich das „Talent“ für die Antriebe: direkt, leicht und schnell.
Bei Franziska war als Einzige Abruptheit häufiger zu beobachten als Gradualität. Bei
ihr ergibt sich keine Diskrepanz, denn sie zeigte zwar insgesamt nur drei Zeitantriebe,
diese waren allerdings alle schnell.
In der Analyse von Franziska fallen insgesamt sehr viele Vorantriebe auf. Interessant
ist, dass sich das Verhältnis von Antrieben zu Vorantrieben deutlich verändert, sobald
sie in Beziehung ist. Insgesamt ergibt sich bei Franziska ein Verhältnis von 52%
Antrieben zu 48% Vorantrieben, wobei sie in Beziehung 80% Antriebe und nur noch
20% Vorantriebe zeigt.
Außerdem ist eine schlechte Augen-Hand-Koordination auffällig, denn Franziska hat
alleine große Probleme, den Ball nach einem Wurf zu fangen. Dies verbesserte sich
deutlich, als sie sich in Beziehung bewegte, denn dann verlor sie denn Ball nur noch
selten. Die Augen-Hand-Koordination hat sowohl mit dem Faktor RAUM (Wo?) als
auch mit ZEIT (Wann?) zu tun.
43
Die Auseinandersetzung mit ZEIT ist bei Franziska nicht ausgereift. Ihr stehen weder
der schnelle noch der getragene Antrieb ausreichend zur Verfügung.
Auffällig sind Franziskas abrupte Kopfbewegungen, die hauptsächlich in Bewegungspausen auftreten und wie unbewusste Schattenbewegungen oder Tics wirken. Franziska hat eine deutlich kindliche Ausstrahlung. Ihre Bewegungen wirken mit freiem Fluss
und vielen Vorantrieben tolpatschig und unkontrolliert. Insgesamt zeigt Franziska kaum
Zeit- oder Kraftantriebe. Der indirekte Raumantrieb kommt kaum zur Anwendung. Bei
Franziska deutet dies darauf hin, dass sie bei der Entwicklung der Antriebe im ersten
Lebensjahr stecken geblieben ist, da ihr weder Kraftantriebe (2. Lebensjahr) noch Zeitantriebe (3. Lebensjahr) ausreichend zur Verfügung stehen. Im Beziehungstanz kann
Franziska Antriebe zeigen. Die Verwendung eines Hilfs-Ichs (HEIGL-EVERS und OTT,
2002) kann demnach bei ihr sinnvoll sein, um ihre eigenen Ressourcen in den
Spannungsflusseigenschaften zu entdecken und Antriebe in der Bewegung erfahrbar
zu
machen.
Franziska
beteiligt
unterdurchschnittlich. Auffällig
ist
bei
ihren
ihr,
Rumpfbereich
dass
sich
in
die
der
Bewegung
Einbeziehung
des
Rumpfbereiches in Beziehung anders als bei den anderen Frauen nicht verändert. Die
Ergebnisse deuten auf eine deutliche Störung des Selbstbildes hin.
3.2.2.2 Stefanie
Eigenes Musikstück: Disturbed: Down with the sickness
Gewähltes Medium: Tuch
Während der freien Improvisation zu ihrem eigenen Musikstück zeigt Stefanie
bipolaren und unipolaren Formfluss in der vertikalen und horizontalen Fläche, nämlich
verschmälern und verkürzen nach oben. Außerdem Richtungsbewegungen und
Ansätze von Formen in der sagittalen Fläche und Dimension. Sie ist beschäftigt mit
vorwärts und rückwärts. In der Sequenz für die vergleichende Auswertung ist dies nicht
zu beobachten. Obwohl ihr Musikstück zum Kraftantrieb stark einlädt, bleibt Stefanie
die ganze Zeit über leicht und in niedriger Intensität. Bei Stefanie fällt insgesamt auf,
dass sie die gesamte Solo-Improvisation und auch den Beziehungstanz hindurch kein
einziges Mal „stark“ zeigt (TabeIlle 10, S. 30). Stefanie scheint sich im leichten Antrieb
sehr zu Hause zu fühlen, stark steht ihr jedoch nicht zur Verfügung. Diese deutliche
Betonung des Antriebselementes leicht war ausschließlich bei ihr zu beobachten.
Bezüglich der Antriebe zum Faktor ZEIT zeigt sich bei Stefanie als Einzige keine
Diskrepanz, denn passend zur Spannungsflusseigenschaft graduell ist bei ihr das
Antriebselement getragen bei der vergleichenden Auswertung betont. Bei ihr scheint
44
die Integration von ZEIT in die Bewegung am wenigsten Probleme zu machen, da bei
ihr das Verhältnis der beiden Antriebselemente mit 1/3 schnell zu 2/3 getragen am
ausgewogensten von allen Probandinnen ist.
Da Stefanie den Rumpfbereich insgesamt wenig in ihre Bewegungen einbezieht,
können wir von einer mangelnden Kernselbstempfindung ausgehen. Interessant ist,
dass sich das Verhältnis von Bewegungen mit und ohne Rumpfbeteiligung bei ihr in
Beziehung deutlich verändert. Ihr Gegenüber zeigte ein Verhältnis von Bewegungen
mit und ohne Rumpfbeteiligung von nahezu 1:1, formte und machte somit deutliche
Beziehungsangebote, auf die Stefanie vermutlich mit einer stärkeren Einbeziehung des
Rumpfbereiches reagieren konnte. Stefanie war in der Lage, die angebotenen Formen
zu spiegeln. Hier kann das Gegenüber auch die Position eines „Hilfs-Ich“ einnehmen.
Bezüglich ihres Repertoires an Spannungsflusseigenschaften verfügt Stefanie über
wenig
Möglichkeiten
des
Wechselspiels
zwischen
freiem
und
gebundenem
Bewegungsfluss. Sie nutzt hauptsächlich die niedrige Intensität und damit die
deutliche Anlage für den Kraftantrieb leicht. In diesem Zusammenhang ist interessant,
dass Stefanie sich häufig von sehr intensiven Gefühlen überfallen fühlt. Sie werde
völlig unvermittelt und unvorbereitet von Zuständen höchster Emotionalität überrollt
und könne diese dann nur durch massive Selbstverletzungen ein Ende setzen.
3.2.2.3 Tina
Eigenes Musikstück: Cradle of Filth: Black Metal
Gewähltes Medium: Ball
Bei der Improvisation zu ihrem eigenen Musikstück zeigt Tina alle ankämpfenden
Antriebselemente (schnell, stark, direkt) im vollen Antrieb stoßen, außerdem peitschen
(schnell, stark, indirekt) und drücken (getragen, stark, direkt). Tina nimmt als Einzige
die Stimme dazu und erlaubt sich, laut zu schreien. In dieser Sequenz zeigt Tina ihr
Potential an hoher Intensität und starkem Kraftausdruck.
Bei der vergleichenden Auswertung fallen bei Tina beim Faktor KRAFT und RAUM
Diskrepanzen auf, denn sie zeigte in den Spannungsflusseigenschaften überwiegend
niedrige Intensität und adaptierend, wobei sie in den Antrieben stark und direkt häufiger
anbietet.
Die Rumpfbeteiligung liegt bei Tina über dem Durchschnitt (Tabelle 16, S. 35)
gemessen an den anderen Probandinnen. Zählt man Solo-Improvisation und
Beziehungstanz gesondert aus, fällt auf, dass die Beteiligung des Rumpfbereiches im
Solo-Tanz genau im Durchschnitt und im Beziehungstanz weit über dem Durchschnitt
45
liegt (Tabelle 17, S. 36). Tina scheint im Vergleich zu den anderen Probandinnen über
das größte Repertoire an Spannungsflusseigenschaften zu verfügen. Gradualität ist
zwar betont, die restlichen Spannungsflusseigenschaften stehen jedoch auch in
ausgewogenem Maße zur Verfügung. Sie scheint damit im Vergleich zu den anderen
Probandinnen die vielfältigsten Möglichkeiten im Umgang mit Emotionalität zu haben.
Tina hat als Einzige den indirekten Raumantrieb deutlich zur Verfügung. Sie bewegte
sich von allen jedoch auch am häufigsten ohne Raumbezug. Auch der Antrieb stark
konnte bei ihr am häufigsten ohne Raumbezug festgestellt werden.
3.2.2.4 Juliane
Eigenes Musikstück: Adoro: Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann
Gewähltes Medium: Tuch und Ball
Juliane zeigt in der freien Improvisation mit dem eigenen Musikstück und auch in der
Sequenz für die vergleichende Auswertung viele Richtungsbewegungen in der
vertikalen Fläche (aufwärts, abwärts). Sie bewegt sich von allen Probandinnen am
meisten gebunden und ihre Bewegungen bekommen dadurch einen hölzernen
Ausdruck. Juliane erlaubt sich als Einzige, das für die freie Improvisation zum eigenen
Musikstück gewählte Medium zu wechseln. Außerdem benutzt sie die Trommeln im
Raum, nimmt sich einen Stuhl und macht es sich bequem.
Juliane verfügt über ein geringes Repertoire an Spannungsflusseigenschaften mit der
Betonung von graduell und gleichbleibend. Damit verfügt sie über die Anlagen für die
Antriebe getragen und direkt.
3.2.2.5 Cindy
Eigenes Musikstück: Joe: If I was your man
Gewähltes Medium: Ball
Cindy bringt zu der Videoanalyse ihren Schäferhund mit, der ihr ständiger Begleiter im
Alltag ist. In der Improvisation zu ihrem eigenen Musikstück fällt besonders auf, dass
Cindys gesamter Körper abwärts strebt: Ihre Schultern hängen, ihre Arme hängen am
Körper, Ihr Rumpfbereich wirkt als sinke er zu Boden. Ihr Körper drückt betonte
Lässigkeit, jedoch auch deutliche Schwere aus. Zudem hat sie eine deutlich männliche
Ausstrahlung. Sie spielt das ganze Musikstück hindurch Fußball, ihre Arme bleiben
dabei eher unbeteiligt im freien Fluss. Insgesamt bietet sie während dieser Sequenz
ausschließlich die Spannungsflusseigenschaft niedrige Intensität an.
46
Bei Cindy fällt insgesamt auf, dass sie sowohl zu ihrem eigenen Musikstück als auch in
der Sequenz für die vergleichende Auswertung sehr direkt ist. Sowohl in der
Improvisation alleine als auch in Beziehung nutzt sie fast ausschließlich den direkten
Raumantrieb. Sie zeigt keine Vorantriebe zum Raum, also weder kanalisieren noch
flexibel. Auffällig ist, dass sie auch den indirekten Raumantrieb kaum nutzt. Dafür steht
ihr der direkte Antrieb deutlich zur Verfügung und kann als klare Ressource, als Anker
gewertet werden. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Cindy allgemein mit der
Wahrnehmung ihres eigenen Körpers große Schwierigkeiten hat und dies auch meist
vermeidet. Sie sagt häufig, dass sie sich nicht spüren könne und es für sie sehr
bedrohlich sei, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Der direkte Raumantrieb hilft
Cindy, mit ihrer Aufmerksamkeit im Außen zu bleiben und sich auf das Medium und die
Bezugsperson zu beziehen und damit die Selbstwahrnehmung zu vermeiden.
3.2.2.6 Maria
Eigenes Musikstück: Die toten Hosen: Nur zu Besuch
Gewähltes Medium: Ball
Maria setzt sich bei ihrem eigenen Musikstück hin, kanalisiert fast durchgehend und
rollt den Ball über ihre Arme, den Kopf und die Beine. Ihre Bewegungen waren
hauptsächlich
gebunden.
In
den
Spannungsflusseigenschaften
zeigte
sie
gleichbleibend, hohe und niedrige Intensität. Kanalisieren gepaart mit hoher Intensität
vermittelt den Eindruck, dass Maria mit für sie bedrohlichen Gefühlen konfrontiert sein
könnte, diese allerdings nicht nach Außen bringt.
Maria kanalisiert viel sowohl alleine als auch in Beziehung. In Beziehung fällt auf, dass
sie den direkten Kontakt zu ihrer Partnerin vermeidet. Sie bezieht sich nur direkt auf
das Medium, nicht auf die Tanzpartnerin.
Ihre Rumpfbeteiligung liegt gemessen an den anderen Probandinnen insgesamt über
dem Durchschnitt (Tabelle 16, S. 35). Im Beziehungstanz hingegen beteiligt sie ihren
Rumpf nur noch halb so viel (Tabelle 17, S. 35) wie in der Solo-Improvisation. Bei
Maria war als Einzige zu beobachten, dass sie ihren Rumpfbereich in Beziehung
deutlich weniger einsetzte als in der Improvisation alleine. Alleine zeigte sie bei 122
Aktionen der Körperperipherie 68 Aktionen mit Rumpfbeteiligung (Verhältnis 2:1). In
Beziehung waren es bei 124 Aktionen nur noch 31 Bewegungen, bei denen der
Rumpfbereich beteiligt war (Verhältnis 4:1). Dieses Ergebnis bedeutet, dass Maria in
Beziehung ihren Rumpfbereich wenig bewegt, somit deutlich weniger Formfluss zeigen
47
kann und die Grundlage zur Beziehungsgestaltung nicht einsetzt, obwohl sie
grundsätzlich dazu in der Lage wäre. Vermutlich ist Beziehung an sich für Maria stark
angstbesetzt und sie reagiert darauf, dass sie mehr Aktionen der Körperperipherie
zeigt, sich damit abschneidet von Empfindungen im Rumpfbereich. Damit entsteht
keine Beziehung, da sie ohne eine Beteiligung des Rumpfbereiches nicht ins Formen
kommen kann. Maria beschreibt zwar eine große Sehnsucht nach Kontakt und
Beziehung, jedoch sei sie noch nicht bereit dafür. Die Kontaktstörung wird auf der
Bewegungsebene sowohl durch das Vermeiden des direkten Raumantriebes als auch
durch die mangelnde Einbeziehung des Rumpfbereiches in Beziehung deutlich. Dass
sie in Beziehung ihren Rumpfbereich und damit den Sitz ihres Kernselbst so stark
zurücknimmt, deutet auf eine tief greifende Traumatisierung oder Frustration in früher
Kindheit hin.
Sie scheint sich eine Art Pseudo-Ich aufgebaut zu haben, das dem vermeintlichen Blick
des Gegenübers im Beziehungstanz nicht standhalten würde und dann in sich
zusammenzufallen scheint.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei den Kraftantrieben feststellen, die sie im
Beziehungstanz
auch
deutlich
Spannungsflusseigenschaften.
zurücknimmt.
Insgesamt
zeigt
Sie
Maria
bleibt
kein
dann
einziges
in
den
Mal
den
Kraftantrieb leicht. Die Vorantriebe nehmen im Beziehungstanz im Verhältnis zu. Maria
traut sich alleine eher stark zu werden als in Beziehung zu einer Person.
48
3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse und Konsequenzen für die
tanztherapeutische Begleitung
Bei allen sechs Probandinnen wurde deutlich, dass sie Probleme mit der Integration
des Zeitfaktors in die Bewegung haben. Die mangelnde Antizipationsfähigkeit, wie sie
in den Diagnosemerkmalen enthalten ist, kann bei allen Probandinnen auf der
Bewegungsebene bewiesen werden. Bezüglich der Abruptheit von Bewegungen
konnte keine Häufung bei allen Probandinnen festgestellt werden. Lediglich eine
Person zeigte vermehrt Abruptheit in der ausgewerteten Videosequenz. Interessant ist,
dass vier der Probandinnen, die eher Gradualität im Spannungsfluss aufweisen,
beschreiben, dass ihre Stimmung im Alltag sehr abrupt kippen kann und sie in ihrem
Erleben völlig unvorbereitet und unvermittelt von Zuständen höchster innerer
Anspannung „überfallen“ werden. Möglicherweise sind diese schnellen Wechsel in der
Stimmung deshalb so bedrohlich für die Patientinnen, weil der abrupte Spannungsfluss
so wenig in die Bewegung integriert ist.
Alle Probandinnen bleiben beim Faktor ZEIT eher in der Auseinandersetzung im
Innern, denn sie zeigen wesentlich mehr Spannungsflusseigenschaften als Antriebe.
Ähnlich verhält es sich beim Faktor KRAFT. Auch hier wurden bei allen Probandinnen
wenig Kraftantriebe im Vergleich zu den Spannungsflusseigenschaften beobachtet.
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass bei allen Probandinnen
Unsicherheit bezüglich ihres Krafteinsatzes besteht, denn sie zeigen entweder gar
keine, nur wenige oder nur ein einziges Antriebselement zum Faktor KRAFT. Die
Antriebe leicht und stark sind bei allen Probandinnen nicht in die Bewegung integriert.
Alle sechs Probandinnen zeigen außerdem ein deutlich unausgewogenes Verhältnis
der Raumantriebe, wobei bei allen der direkte Antrieb überwiegt. Bei der Hälfte der
Probandinnen ist das Verhältnis von direkten zu indirekten Raumantrieben deutlich
unausgewogen. Bei ihnen kann auch von einer mangelnden Integration des
Raumfaktors ausgegangen werden. Drei Probandinnen haben zwar den indirekten
Raumantrieb eindeutiger zur Verfügung, jedoch nutzen auch sie hauptsächlich den
direkten. Der indirekte Raumantrieb ist in der Regel erst nach der Grundschulzeit voll
entwickelt (BENDER 2007). KLEINS Aussage, dass bei Borderline Persönlichkeiten nur
wenig kraftvolle und direkte Bewegungen zu finden seien (KLEIN 1998, S. 274), bestätigt
sich somit nur zum Teil. KLEIN beschreibt außerdem, dass der Borderline
Persönlichkeitsstörung massive Beeinträchtigungen insbesondere in den von MAHLER
beschriebenen Subphasen der Loslösung, der Übungs- und Wiederannäherungsphase
49
(5.-24. Lebensmonat) zugrunde liegen (KLEIN 1998). Die mangelnde Integration der
Antriebe in den drei Bereichen Raum, Kraft und Zeit bestätigt eine frühe Störung der
kindlichen Entwicklung.
Bei allen Probandinnen sehen wir deutlich mehr Bewegungen der Körperperipherie als
des Rumpfbereiches. Der Rumpfbereich ist der Sitz des Kernselbst und ein „NichtBewegen“ dieses Bereiches bedeutet auch, dass er nicht wahrgenommen wird (BENDER
2007).
Dies
deutet
bei
allen
Probandinnen
auf
eine
Beeinträchtigung
der
Kernselbstempfindung hin, wobei bei einer Person dies vor allem in Beziehung zutage
tritt. STERN siedelt die Entwicklung der Kernselbstempfindung im 3.-7. Lebensmonat des
Säuglings an (RUSSEL 2008). Das Diagnosemerkmal „Störungen und Unsicherheit
bezüglich Selbstbild, Zielen und inneren Präferenzen; Ich-Störung“ trifft auf alle
Probandinnen zu, da das Selbstbild aus der Empfindung des Kernselbst entsteht. Bei
zwei Frauen liegt die Beteiligung des Rumpfbereiches über dem Durchschnitt jedoch
unter der der Vergleichsperson. Bei fünf von sechs Probandinnen sind Veränderungen
in der Beteiligung des Rumpfbereiches in Beziehung festzustellen. Bei vier von sechs
Probandinnen zeigte sich eine vermehrte Einbeziehung des Rumpfbereiches in
Beziehung, bei einer Probandin eine deutliche Verringerung. Neben Aussagen über die
Kernselbst-Empfindung der Probandinnen und damit über ihr Gefühl sich selbst
gegenüber lässt dieses Ergebnis auch Rückschlüsse auf die Beziehungsgestaltung zu,
da die Probandinnen durch die mangelnde Bewegung des Rumpfbereiches auch kaum
Formen zeigen, da dies ohne Rumpfbeteiligung kaum möglich ist.
Beim Diagnosemerkmal „unbeständige und unberechenbare Stimmungen“ zeigt die
Untersuchung, dass das Verhältnis von freien zu gebundenen Bewegungen nur bei
einer Person, die sich vermehrt gebunden bewegte, unausgewogen ist. Alle sechs
Probandinnen haben beide Elemente des Bewegungsflusses zur Verfügung und sind
somit grundsätzlich in der Lage, ihren Spannungsfluss und somit auch ihre Emotionen
zu modellieren. KESTENBERG beschrieb, dass die Fähigkeit zur Regulation vielfältiger
Stimmungen auch damit zusammenhängt, ob eine Person auf verschiedene
Spannungsflusseigenschaften zurückgreifen kann, oder ob sie hauptsächlich nur eine
oder zwei Spannungsflusseigenschaften nutzt, um Emotionalität zu regulieren.
Grundsätzlich
sind
alle
Spannungsflusseigenschaften
bei
den
Probandinnen
vorhanden, sie nutzen diese allerdings jeweils in sehr unterschiedlicher Gewichtung.
Diese
unterschiedliche
Gewichtung
der
Spannungsflusseigenschaften
ist
ein
Anhaltspunkt für die einzelnen Grundtemperamente der Probandinnen. Sie weisen auf
das individuelle Muster hin, wie die Probandinnen ihre Emotionen regulieren und wie
sie auf innere Stimuli reagieren. Da bei Borderline Patientinnen vielfältige
50
Traumatisierungen in der Biographie typisch sind (RUPPERT 2004), können wir nicht
davon ausgehen, dass die gezeigten Spannungsflusseigenschaften durchgängig das
Grundtemperament der Personen darstellen, da aufgrund der Traumatisierungen die
normale Entwicklung unterbrochen wurde und die Spannungsflusseigenschaften zu
Überlebenstechniken geworden sind.
Stefanie, die sich hauptsächlich in niedriger Intensität bewegte, aber auch Juliane, die
hauptsächlich graduell und gleichbleibend zeigte, haben ein geringes Repertoire an
Spannungsflusseigenschaften
zur
Verfügung,
da
sie
in
ihren
Bewegungen
hauptsächlich auf diese eine oder diese beiden Spannungsflusseigenschaften
zurückgreifen. Bei Tina sehen wir zwar eine Überbetonung von graduell, jedoch sind
die anderen fünf Spannungsflusseigenschaften relativ ausgewogen vorhanden. Ihr
scheint das größte und ausgewogenste Repertoire an Spannungsflusseigenschaften
zur Verfügung zu stehen.
Das Diagnosemerkmal „deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen,
vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden“
konnte nicht durch eine deutliche Betonung von Abruptheit oder hoher Intensität
bewiesen
werden.
KESTENBERG-AMIGHI
beschreibt,
wenn
Gradualität
als
Überlebenstechnik eingesetzt wird, „kann dies daher rühren, dass die Person die
Erfahrung gemacht hat, dass jeder schnelle Wechsel die Gefahr birgt, dass (...)
missbräuchliches Verhalten von Neuem beginnt“ (BENDER 2007, S. 24). Gradualität wird
häufig von Kindern gewalttätiger Eltern bevorzugt, vermutlich um nicht von der eigenen
oder der Spontaneität der anderen überrascht zu werden.
Auch beim Diagnosemerkmal „Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit
Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens“ wurde überwiegend hohe Intensität im
Spannungsfluss vermutet. Vier von sechs Probandinnen bewegen sich häufiger in
niedriger Intensität. Wenn die niedrige Intensität zur Überlebenstechnik aufgrund
traumatischer Erlebnisse geworden ist, versuchen sie, ihre Gefühle in niedriger
Intensität weniger spürbar zu machen (BENDER 2007). Die niedrige Intensität gepaart mit
gebundenem Fluss kann für die Probandinnen eine Möglichkeit darstellen, Ausbrüche
von Wut und Gewalt zu vermeiden. Möglicherweise fürchten die Klientinnen auch,
außer Kontrolle zu geraten und kontrollieren ihre Emotionalität über Bewegungen in
gebundener niedriger Intensität. Fünf von sechs Klientinnen bewegen sich häufiger
gebunden als frei, jedoch ist dieses Verhältnis nur bei einer Person außergewöhnlich
deutlich. Wenn der Antrieb stark gezeigt wird, dann läuft dieser bei der Hälfte der
Probandinnen vermehrt im freien Bewegungsfluss ab. Bei den Vorantrieben von stark
lässt sich bei allen eine Betonung von vehement (gepaart mit freiem Bewegungsfluss)
51
feststellen. Der freie Bewegungsfluss beim starken Antrieb oder Vorantrieb lässt beim
Gegenüber ein Gefühl von mangelnder Kontrolle der Bewegung entstehen.
Bezüglich
des
Diagnosemerkmals
„Schwierigkeiten
in
der
Beibehaltung
von
Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden“ zeigt sich, dass fünf von sechs
Probandinnen durch die Spannungsflusseigenschaft gleichbleibend die grundsätzliche
Fähigkeit haben, Aufmerksamkeit zu halten. Außerdem haben alle sechs Probandinnen
den Antrieb direkt zur Verfügung. Da jedoch bei allen Probandinnen Schwierigkeiten
bei der Integration des Faktors ZEIT in die Bewegung bewiesen wurden und somit die
Antizipationsfähigkeit eingeschränkt ist, haben alle sechs Probandinnen Probleme
damit, vorauszuplanen und so wird eine eventuell anstrengende oder herausfordernde
Handlung nicht beibehalten, weil sie nicht in die Zukunft planen und somit die Vorteile
nicht antizipieren können, was begründet, warum nur bei unmittelbarer Belohnung eine
Handlung beibehalten wird.
Bei keiner der Probandinnen konnte in der untersuchten Videosequenz Formfluss in
der sagittalen Dimension beobachtet werden. Das Diagnosemerkmal „anhaltendes
Gefühl von Leere“ wird bei allen Probandinnen im mangelnden Formfluss deutlich.
Die „Neigung, sich in intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen“, kann nicht
mit einer allgemein hohen Intensität im Spannungsfluss in Zusammenhang gebracht
werden. Bei vier von sechs Probandinnen kann man feststellen, dass sie im Vergleich
zur Solo-Improvisation in der Sequenz in Beziehung mehr direkt zeigen. Der direkte
Raumantrieb in Beziehungen ist nicht bei allen stärker vorhanden als bei der
Bewegung alleine.
Bei allen Probandinnen ist eine deutliche Überbetonung ankämpfender Antriebe zu
nachgebenden Antrieben erkennbar. Diese Überbetonung der ankämpfenden Antriebe
bei den Probandinnen bedeutet, dass alle sechs Frauen versuchen, die Welt durch
widerstehende und ankämpfende Bewegungsqualitäten zu beeinflussen.
Für die letzte Sequenz der Videoaufnahme hatten die Probandinnen eigene
Musikstücke dabei, zu denen sie sich gerne bewegen. Die Stilrichtungen der
mitgebrachten Musikstücke reichen von Schlager bis Death Metal und gewähren
Einblick in die vielfältigen musikalischen Vorlieben der Probandinnen.
Die unterschiedliche Gewichtung der Spannungsflusseigenschaften zeigt die individuelle Ausstattung der Probandinnen im Umgang mit Emotionen. Es zeigt, welche Möglichkeiten der Spannungsflussregulierung sie überwiegend zur Verfügung haben und
gibt somit einen wichtigen Hinweis auf ihre Ressourcen im Bewegungsmuster und
auch auf die Bereiche, die noch wenig in die Bewegung integriert sind und über die
52
Tanztherapie entdeckt und entwickelt werden können. Die gezeigten Antriebe geben
einen Hinweis darauf, welche Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten die
Probandinnen sich erlauben, und können daher richtungsweisend sein, wenn es um
die Entwicklung von Skills (Fertigkeiten), wie in der Dialektisch Behavioralen Therapie
üblich, im Umgang mit Zuständen hoher emotionaler Anspannung geht.
Bei Cindy ist beispielsweise der direkte Raumantrieb besonders ausgeprägt und so
kann die Beschäftigung mit ihrem Schäferhund oder ihren zahlreichen Freunden eine
gute Möglichkeit bieten, sich von Zuständen höchster innerer Anspannung abzulenken
und den Fokus von innen nach außen zu lenken. Auch Beschäftigungen wie puzzeln,
stricken und Filme ansehen sind Tätigkeiten, die den direkten Raumantrieb nutzen und
für Personen wie Cindy oder auch Franziska hilfreich sind.
Bei Maria wird in der bewegungsanalytischen Auswertung deutlich, dass die Nähe im
Zweier-Kontakt sehr angstbesetzt ist und dass ihr Selbstbild noch nicht stabil genug ist,
um in Beziehung aufrechterhalten zu werden. Dies wurde deutlich, weil sie in
Beziehung sehr stark kanalisierte und ihren Rumpfbereich kaum noch mit in die
Bewegungen mit einbezog. Die Stärkung ihres eigenen Selbstbildes verbunden mit der
Wahrnehmung der eigenen Körpergrenzen und der Fähigkeit zur Regulierung von
Nähe und Distanz ist für Maria notwendig, um genug Sicherheit zu haben,
Beziehungen einzugehen.
Die individuelle Betrachtung der Probandinnen zeigt, dass was für die eine angenehm
und förderlich ist, für die andere eine große Hürde sein kann. Franziska und Cindy
brauchen und suchen Kontakt, während für Maria Nähe stark angstbesetzt ist.
Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus den dargestellten Ergebnissen für die
tanztherapeutische Begleitung von Patientinnen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung? Auf eine ausführliche therapeutische Empfehlung für die Borderline
Persönlichkeitsstörung soll an dieser Stelle verzichtet werden. Es geht nicht darum, ein
tanztherapeutisches Behandlungsmanual für die Borderline Persönlichkeitsstörung zu
liefern, sondern vielmehr darum zu überprüfen, ob es allgemein sinnvoll ist, einheitliche
Therapieansätze für dieses Krankheitsbild anzuwenden oder ob es aufgrund so
gravierender Unterschiede bei Borderline-Persönlichkeiten nur Sinn macht, individuelle
Behandlungspläne zu entwickeln.
Die Studie belegt grundsätzliche Gemeinsamkeiten in den Bewegungsmustern der
Probandinnen und somit auch die Sinnhaftigkeit von Behandlungsplänen in der
Tanztherapie, die diese Gemeinsamkeiten aufgreifen. Die Studie zeigt allerdings auch,
dass es wert ist, auf die individuellen Besonderheiten im Bewegungsmuster zu achten,
53
um den Patientinnen in der Einzeltherapie gerecht werden zu können und sie dort
abzuholen, wo sie gerade in ihrer individuellen Entwicklung stehen. Die individuelle
Bewegungsanalyse bietet die Möglichkeit, die Ressourcen der Betroffenen zu
entdecken und ihre eigene Art des „In-der-Welt-Seins“ kennenzulernen. Außerdem
bedeutet die Hervorhebung von Individualität und Einzigartigkeit auch eine besondere
Wertschätzung der Persönlichkeit unabhängig von ihrer Diagnose und kann der
Entwicklung und Förderung eines positiven Selbstbildes bei Borderline Patientinnen
nur dienlich sein. Zusammen mit dem Wissen über die Gemeinsamkeiten in den
Bewegungsmustern können den Patientinnen dann gezielte tanztherapeutische
Interventionen angeboten werden, die entsprechend ihrer Lebenssituation, ihren
Vorlieben und vor allem ihren individuellen Ressourcen dazu beitragen, die
Behandlungsziele zu erreichen.
Es bietet sich außerdem an, die in der Studie festgestellten Gemeinsamkeiten in den
Bewegungsmustern
der
Probandinnen
in
einer
tanztherapeutischen
Gruppe
aufzugreifen.
Bei allen Probandinnen ist der Faktor Zeit nicht in die Bewegung integriert. Somit
haben alle Probandinnen Schwierigkeiten damit, Ereignisse zu antizipieren und den
richtigen Zeitpunkt für eine Aktion zu finden. Dieses mangelnde Gefühl für Zeit kann zu
Schwierigkeiten in der Strukturierung des Tagesablaufes führen. Möglicherweise
überfordern sie sich, weil sie ihren Tag mit zu vielen Aktivitäten füllen oder der Tag fühlt
sich unendlich lang an. Vielleicht finden sie auch nicht die richtige Balance zwischen
Aktivitäts-
und
Ruhephasen
über
den
Tagesablauf.
Möglicherweise
besteht
Schwierigkeit darin, Termine einzuhalten. Sie kommen entweder zu spät oder zu früh
zur Therapiestunde und sind damit überfordert, in einer Therapiestunde ein Thema
zum richtigen Zeitpunkt einzubringen. In diesem Punkt sollten sich die Patientinnen
gemäß der Ergebnisse aus der Studie alle begegnen und sich gegenseitig stützen
können. Die Folgen, die dieses mangelnde Gefühl für ZEIT für das Leben der
Probandinnen hat, sind vielfältig. Gemeinsam haben sie, dass die frühe Störung ihrer
kindlichen Entwicklung dazu geführt hat, dass sie die Bewegungsthemen, die mit der
Entwicklung eines Gefühls für ZEIT zusammenhängen, nicht ausreichend integriert
haben und somit können alle Probandinnen von tanztherapeutischen Angeboten zur
Integration von ZEIT profitieren.
Auf der Bewegungsebene übt ein Kind den Umgang mit Zeit im dritten Lebensjahr. Es
ist die Phase des Einübens der Harnkontrolle, des Einübens der Spannungsflussrhythmen Fließen und Stoppen (KESTENBERG und KESTENBERG-AMIGHI, 1993). Bewegungen in
dieser Phase finden vermehrt in der sagittalen Dimension statt – d.h., es geht um vor54
wärts und rückwärts und somit auch um die Auseinandersetzung mit Zukunft und Vergangenheit.
In einer tanztherapeutischen Gruppe für Borderline-Persönlichkeiten können diese
Bewegungsthemen zum Beispiel durch folgende Angebote aufgegriffen werden:
•
einfache Kreistänze mit überwiegend Bewegungen in der sagittalen Fläche,
•
die Verwendung von Medien, die zu fließenden Bewegungen einladen, wie zum
Beispiel
Tücher
oder
die
Einbeziehung
von
Musikinstrumenten
wie
„Regenmacher“,
•
einfache Spiele, die den Stopprhythmus trainieren,
•
Bewusstmachung der Spannungsflusseigenschaften abrupt und graduell,
•
Förderung der Auseinandersetzung mit den Antrieben schnell und getragen.
Die Ergebnisse der Studie deuten auch beim Faktor KRAFT auf eine mangelnde Integration der Antriebe und ein Verharren in den Spannungsflusseigenschaften hin. Entwicklungspsychologisch liegt die Integration von KRAFT, die mit der Autonomieentwicklung einhergeht, noch vor der Entwicklung eines Gefühls für ZEIT, nämlich im
zweiten Lebensjahr. In dieser Phase ist bei Kindern der Pressrhythmus besonders
deutlich sichtbar. Es ist die Phase der Aufrichtung und der Auseinandersetzung mit der
eigenen Kraft. Gemeinsam mit dem anal-libidinösen Rhythmus „verdrehen“ lernt das
Kind, sich durchzusetzen und entwickelt ein Gefühl von Autonomie (BENDER, 2007).
Bewegungen finden in dieser Entwicklungsphase überwiegend in der vertikalen
Dimension statt. Bei allen Probandinnen besteht Unsicherheit bezüglich ihres
Krafteinsatzes. Die Antriebselemente leicht und stark sind bei keiner der Probandinnen
integriert. Somit begegnen sich die Probandinnen in Schwierigkeiten damit, sich selbst
als autonome Gestalter ihres Lebens anzunehmen und befinden sich vielleicht im
Konflikt mit Verantwortung und Selbständigkeit. Möglicherweise mussten sie in ihrer
Biographie bereits zu früh Verantwortung übernehmen oder ihnen wurde nie etwas
zugetraut. Bewegungen, die die Spannungsflussrhythmen der analen Phase, die
Entwicklung eines Bewusstseins über den eigenen Krafteinsatz, das eigene Gewicht
und die Wirksamkeit von Handlungen aufgreifen, sind Themen, in denen sich alle
Patientinnen wiederfinden, und können in einer tanztherapeutischen Gruppe durch
folgende Angebote aufgegriffen werden:
•
Kreistänze mit Bewegungen in der vertikalen Fläche,
•
Rollenspiele, die die Spannungsflussrhythmen „pressen“ und „verdrehen“
aufgreifen
•
Partner- und Gruppenübungen mit drücken, stemmen, schieben, lehnen
55
•
Bewusstmachung
der
Spannungsflusseigenschaften
hohe
und
niedrige
Intensität
•
Förderung der Auseinandersetzung mit den Antrieben stark und leicht
Bei der Entwicklung eines sicheren Gefühls für RAUM scheinen alle Probandinnen keine vollständige Integration der Antriebselemente direkt und indirekt entwickelt zu haben. Bei der Hälfte der Probandinnen ist dies besonders deutlich, da sie den indirekten
Raumantrieb so gut wie gar nicht nutzen.
•
Einfache Spiele in der Gruppe, die den Wechsel zwischen direkter und
indirekter Aufmerksamkeit trainieren, wie zum Beispiel Ballspiele,
•
Bewusstmachung
der
Spannungsflusseigenschaften
gleichbleibend
und
adaptierend,
•
Kreistänze mit Bewegungen in der horizontalen Fläche
Grundsätzlich sind der Fantasie der Therapeutinnen und Therapeuten im Angebot der
tanztherapeutischen Interventionen keine Grenzen gesetzt.
Tanztherapie
in
Einzel-
und
Gruppenarbeit
für
Patientinnen
mit
Borderline
Persönlichkeitsstörung soll gemäß den Ergebnissen die Gemeinsamkeiten, die
Menschen mit dieser Diagnose auf der Bewegungsebene haben, aufgreifen und die
individuellen Besonderheiten in der Symptomausprägung und vor allem in den
Ressourcen berücksichtigen und wertschätzen, denn im Mittelpunkt der Betrachtung
bleibt das Individuum und nicht die Diagnose.
56
Nachwort und Danksagung
Während der Bearbeitung dieses umfangreichen Themas hatte ich mehrmals das
Gefühl, im Detail verloren zu gehen. Die größte Herausforderung bei der Erstellung
dieser empirischen Abschlussarbeit war, eine immense Fülle an Datenmaterial zu
sichten, auszuzählen und sich bei der Auswertung immer wieder auf die Fragestellung
zu konzentrieren und zu begrenzen. In der Regel werden derartige Studien von
mehreren Personen ausgewertet. In diesem Fall war ich auf mich gestellt und
verbrachte viele Stunden vor dem Bildschirm, um die einzelnen Bewegungsqualitäten
im Sinne der Fragestellung auszuzählen und war mir oft nicht sicher, ob ich überhaupt
noch auf dem richtigen Weg bin. Dreißig Minuten Videomaterial pro Probandin bieten
eine Datenfülle, die für die Erstellung von mehreren Diplomarbeiten ausreichen würde.
So war der Rahmen dieser Abschlussarbeit leider nicht groß genug, um der
Komplexität des Themas in vollem Umfang gerecht zu werden. Je mehr ich mich mit
dem Thema und der Auswertung des Datenmaterials beschäftigte, desto unmöglicher
schien es mir, eine umfassende und vollständige Auswertung und Interpretation der
einzelnen Bewegungsqualitäten zu erreichen.
Das Videomaterial bietet die Möglichkeit, jede einzelne von mir bereits überprüfte Bewegungsqualität noch wesentlich tief gehender zu untersuchen. Aufgrund des begrenzten Rahmens musste ich leider auf die Auszählung der Spannungsflussrhythmen verzichten. Mir ist bewusst, dass die Ergebnisse der vorliegenden Abschlussarbeit aufgrund der geringen Stichprobe und der Tatsache, dass ich die Studie alleine vorbereitet, durchgeführt und die Ergebnisse ausgewertet und dargelegt habe, nicht repräsentativ sein kann. Ich hoffe deshalb, dass sich ein Forschungsteam findet, das der Fragestellung mithilfe einer repräsentativen Stichprobe auf den Grund gehen wird und auch
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Spannungsflussrhythmen mit einbezieht.
An dieser Stelle möchte ich mich in besonderem Maße bei den Probandinnen bedanken, die sich bereit erklärt hatten, mich bei meiner Abschlussarbeit zu unterstützen und
bei meiner Pilotstudie mitzuwirken. Außerdem danke ich meinem früheren Vorgesetzten, Herrn Paul Wieland, und unserem Geschäftsführer, Herrn Jürgen Handschuch, die
mir erlaubten, die Videoaufzeichnungen während meiner Arbeitszeit durchzuführen und
mir Sonderurlaub für die Fertigstellung der Arbeit genehmigten. Besonders hervorheben möchte ich auch Susanne Bender, die mir in meiner Ausbildung zur Tanztherapeutin die Faszination der Bewegungsanalyse näher gebracht und mir bei der Auswertung
des Datenmaterials den Rücken gestärkt hat.
57
Anhang
Einverständniserklärung
Im Rahmen der Ausbildung zur systemischen Tanztherapeutin wird Frau Tanja
Burkhardt, Dipl. Sozialpädagogin am Landshuter Netzwerk e.V. eine wissenschaftliche
Abschlussarbeit zum Thema Borderline Persönlichkeitsstörung verfassen.
Hiermit erkläre ich, …................................, mich bereit, an dem Forschungsprojekt im
Rahmen der Abschlussarbeit von Frau Tanja Burkhardt zum Thema Borderline
Persönlichkeitsstörung als Analysandin teilzunehmen.
Ich bin damit einverstanden, dass Frau Burkhardt eine 30 minütige Videoaufnahme von
mir in Bewegung anfertigt und bewegungsanalytisch auswertet.
Frau Burkhardt verpflichtet sich, dass diese Videoaufnahme ausschließlich für die
Erstellung einer detaillierten Bewegungsanalyse verwendet und archiviert wird.
Ausschließlich sie selbst und supervidierende Personen des Ausbildungsinstitutes
werden die Aufnahme einsehen.
In der Forschungsarbeit wird ein Pseudonym für meinen Namen verwendet, den ich mir
selber aussuchen kann. Mit folgendem Vornamen möchte ich in der Abschlussarbeit
Platz finden:
…...............................................................................................
…..........................................................................................
Ort, Datum, Unterschrift Analysandin
…...........................................................................................
Ort, Datum, Unterschrift Tanja Burhkardt
58
Einladung zur Videoaufzeichnung:
Liebe <Name>,
es ist soweit. Nachdem Du Dich bereit erklärt hast, an meinem Forschungsprojekt
teilzunehmen, bekommst Du nun wichtige Informationen vorab.
Das Wichtigste vorneweg:
Du kannst nichts falsch machen! Du darfst einfach so da sein, wie Du bist und Dich
bewegen, wieviel oder wie wenig Du magst oder Dich körperlich in der Lage fühlst.
Alles ist erlaubt und erwünscht, solange ich Dich dabei filmen kann.
Solltest Du aufgeregt sein, ist das absolut in Ordnung. Ich weiß, es ist eine ungewohnte
und nicht alltägliche Situation.
Ich werde Musik zu den Bewegungsaufgaben spielen und Dich durch die
Videoaufzeichnung führen und begleiten. Das heißt, ich lade Dich zu einfachen
Bewegungsaufgaben ein und begleite Dich dabei mit meiner Stimme. Gegen Ende der
Sitzung darfst Du zu Deinem mitgebrachten Lieblingslied improvisieren, d.h. Dich
bewegen, so wie Du magst.
Termin für die Videoaufzeichnung:
Bitte komm am Dienstag, den …................... um ….................... Uhr
in die Herzog-Wilhelm-Str. 20,
um Deine persönliche ca. 30min Bewegungssequenz aufzuzeichnen.
Bei diesem Termin werden nur Du und ich anwesend sein.
Mitzubringen:
Trage bequeme Kleidung, in der Du Dich gut bewegen kannst und bring bitte eine CD
oder Kassette mit einem persönlichen Lieblingslied mit.
Ich freue mich sehr auf Deine Mitarbeit!
Tanja Burkhardt
Dipl. Sozialpädagogin (FH), Tanztherapeutin
59
Ablauf der Video-Session
Datum und Uhrzeit:.........................................................................................................
Name der Analysandin:...................................................................................................
Pseudonym:….................................................................................................................
eigenes Musikstück:.......................................................................................................
1. Ankommen: 2-3 Minuten
Raum wahrnehmen lassen
2. Steady Shot: 2 Minuten
Stehen am Platz: Filmen von Vorne, von Hinten, von den beiden Seiten
3. Gehen: 2-3 Minuten
schnell gehen, langsam gehen, in eigenem Tempo gehen, Wege gehen, vorwärts,
rückwärts, seitwärts gehen
4. Bewegung mit Medium alleine: 5-10 Minuten
Es liegen Medien bereit: Ball, Tuch, Stab
Zu Musikstück (Peter Gabriel: Red Rain) nacheinander mit den drei Medien
improvisieren; Musikstopp leitet Wechsel ein.
5. Aufgabe: 5-10 Minuten
Gleiche Medien – Ball, Stab und Tuch und mit diesen Medien nacheinander in
Beziehung; Musikstück: Cirque du Soleil: Ka, Forest
6. Aufgabe: 3-5 Minuten
Eigenes Musikstück – freies Improvisieren mit dem mitgebrachten Musikstück und
einem selbstgewählten Medium.
Ingesamt
20-30 Minuten
60
Quellenverzeichnis
Literatur
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Birger Dulz et al. (2009): Borderlinestörungen und Sexualität: Ätiologie- StörungsbildTherapie. Stuttgart: Schattauer Verlag
Geißler, Peter; Heisterkamp, Günter (Hrsg.) (2009): Psychoanalyse der Lebensbewegungen – zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Wien:
Springer Verlag
Heigl-Evers, Anneliese; Ott, Jürgen (2002): Die psychoanalytisch-interaktionelle
Methode; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Joraschky, Peter et al. (Hrsg.) (2009): Körpererleben und Körperbild – ein Handbuch
zur Diagnostik. Stuttgart: Schattauer Verlag
Kernberg, Otto F. (1989): Schwere Persönlichkeitsstörungen – Theorie, Diagnose, Behandlungsstrategien. Stuttgart: Klett-Cotta
Kestenberg-Amighi, Janet; Loman, Susan et al. (1999): The Meaning of Movement –
Developmental and Clinical Perspectives of the Kestenberg Movement Profile.
New York: Brunner-Routledge
Kestenberg J.S.; Kestenberg-Amighi, Janet (1993): Kinder zeigen was sie brauchen –
wie Eltern kindliche Signale richtig deuten. Freiburg im Breisgau: Herder
Klein, Petra (1998): Tanztherapie – Ein Weg zum ganzheitlichen Sein; Kiel: Dieter Balsies Verlag
Linehan, Marsha (1996): Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien
61
Mahler, Margaret S. et al.(2003): Die psychische Geburt des Menschen – Symbiose
und Individuation. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
Mentzos, Stavros und Münch, Alois (Hrsg.) (2003): Borderline Störung und Psychose.
Göttingen: Vandenhoek und Rupprecht
Pelzer, Bernd (2010): Borderline – Heilung ist möglich. Ratgeber für BorderlineBetroffene. Norderstedt: Books on Demand GmbH
Remmel, Kernberg et al. (2006): Handbuch Körper und Persönlichkeit – Entwicklungspsychologie, Neurobiologie und Therapie von Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart:
Schattauer
Rössler Prof. Dr., Wulf (2004): Psychiatrische Rehabilitation. Heidelberg: Springer
Sendera, Alice; Sendera Martina (2007): Skillstraining bei Borderline- und Posttraumatischer Belastungsstörung. Wien: Springer
Stern, Daniel (2003): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta
Tress, Wöller, Hartkamp et al. (2002): Persönlichkeitsstörungen – Leitlinien und Quellltext. Stuttgart: Schattauer
Online Quellen:
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Quelle: http://www.btd-tanztherapie.de; am 10.10.2009
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information
Quelle:
http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2009/block-f60-
f69.htm; am 10.05.2010
Prof. Ruppert, Franz; Borderline Persönlichkeitsstörung, die vielfältigen Folgen
von Bindungstraumatas; 2004
Quelle: www.franz-ruppert.de/Borderlinestorung__W6-7_.doc; am 19.05.2010
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Russel, Roger; Die Feldenkrais Methode – Wie kommt der Körper ins Gehirn?; Heidelberg; 2008
Quelle: http://www.feldenkraiszentrum-hd.de/pdf/Gehirn.pdf; am 18.09.2009
Musikstücke:
Peter Gabriel: Red Rain; erschienen auf dem Album: Solo; 1986
http://www.youtube.com/watch?v=u6BesY5Doec
am 16.05.2010
Cirque du Soleil: Forest; erschienen auf dem Album: Ka; 2005
GG Anderson: Wir sind auf der Erde um glücklich zu sein; 1993
http://www.youtube.com/watch?v=MWSeM9IbKXw
am 16.05.2010
Disturbed: Down with the sickness; erschienen auf dem Album: Sickness; 2000
http://www.youtube.com/watch?v=Tsobsr8nF7w
am 16.05.2010
Cradle of Filth: Black Metal; erschienen auf dem Album: Cruelty and the beast; 1998
http://www.youtube.com/watch?v=2DR9v6slESE
am 16.05.2010
Adoro: Irgendwie, irgendwo, irgendwann; erschienen auf dem Album: Adoro; 2009
http://www.youtube.com/watch?v=B46O0s7vOZY
am 16.05.2010
Joe: If I was your man; erschienen auf dem Album: Ain´t nothing like me; 2007
http://www.myvideo.de/watch/967307/Joe_If_I_Was_Your_Man
am 16.05.2010
Die Toten Hosen: nur zu Besuch; erschienen auf dem Album: Auswärtsspiel; 2002
http://www.youtube.com/watch?v=sOzMWu0awMY
am 16.05.2010
63
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