opyrig Michael J. Wicht, Michael J. Noack Qu Welche Therapieform ist wann Erfolg versprechend? t es i „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung by ht C All eR ZAHNERHALTUNG ech te vo rbe ha lte n n se nz Online-Wissenstest zu diesem Beitrag siehe Seite 1132 Indizes Kariestherapie, schrittweise Kariesexkavation, direkte Überkappung, Pulpaeröffnung, Mikroorganismen Zusammenfassung Bei nahezu jeder Füllungstherapie muss der Zahnarzt eine Entscheidung treffen, inwieweit er kariös veränderte Zahnhartsubstanz entfernt oder nicht (Abb. 1). Er folgt dabei einem individuell festgelegten Muster, das jedoch eher auf eigenen Erfahrungswerten und tradierten Philosophien als auf klinisch belegten Fakten basiert. In pulpanahen Bereichen kann die vollständige mechanische Entfernung der Karies zu einer Traumatisierung des Zahnes führen, die weitere Behandlungsschritte wie die direkte Überkappung oder – im Fall eines Misserfolgs – eine endodontische Therapie nach sich zieht. Primär zur Vermeidung der Pulpaexposition, aber auch im Kontext eines zeitgenössischen Trends hin zu biologischen und schonenden Behandlungsverfahren wird die vollständige Exkavation momentan stark in Frage gestellt. Die schrittweise Kariesexkavation hingegen ist die sichere Variante, wenn es gilt, eine Pulpaeröffnung zu umgehen, und wird daher von vielen Autoren als das Mittel der Wahl bei der Versorgung tiefer Dentinläsionen angesehen. Das dauerhafte Belassen kariös veränderten Dentins unterhalb einer Restauration stellt insbesondere im deutschsprachigen Raum ein konfliktreiches Thema dar, weil es für viele nicht mit den ethisch-moralischen Grundsätzen des zahnärztlichen Handelns vereinbar ist. Erkenntnisse über das Progressionsverhalten kariöser Läsionen, die auf molekularbiologischen Untersuchungen zur Entwicklung der Mikroflora innerhalb einer Kavität beruhen, zwingen uns jedoch, unser alltägliches Handeln zu überdenken und möglicherweise auch den verfügbaren Aussagen klinischer Studien anzupassen, selbst wenn deren Anzahl zurzeit noch limitiert ist. Abb. 1 Zustand nach Entfernung einer Goldgussrestauration mit Sekundärkaries. Der Zahnarzt muss nun entscheiden, inwieweit und auf welche Art er die Karies exkaviert Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 1077 Michael J. Wicht Priv.-Doz. Dr. med. dent. Michael J. Noack Prof. Dr. med. dent. Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie (Direktor: Prof. Dr. M. J. Noack) Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität zu Köln Kerpener Straße 32 50931 Köln E-Mail: [email protected] ZAHNERHALTUNG „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung Qu i nt a b c d e 1078 by ht opyrig C All eR ech te vo rbe ha lte n e ss e n z Abb. 2a bis e Darstellung unterschiedlicher Exkavationsparadigmen am histologischen Schnitt einer Milchzahnkaries (a). Die komplette Kariesentfernung auch im pulpanahen Bereich (b) kann leicht zu einer ungewollten Eröffnung der Pulpa führen (c). Eine schonende Kariestherapie sieht die Entfernung infizierten Dentins bis zur inneren Zone vor (d). Verfechter ultrakonservativer Techniken decken auch größere Areale infizierter Zahnhartsubstanz mit einem adhäsiven Füllungsmaterial ab („The seal is the deal“) (e) Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 opyrig by ht Qu C All eR ZAHNERHALTUNG ech te „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung vo rbe ha lte n n i t es se nz Einleitung Obgleich die Behandlung, d. h. üblicherweise die Entfernung kariöser Läsionen zu den alltäglichsten aller zahnärztlichen Tätigkeiten zählt, unterliegt gerade sie einem enormen individuellen Handlungsspielraum, der auf einer eher schwachen und zudem keine eindeutige Empfehlung aussprechenden Datenlage basiert. Zyklisch wiederkehrende Exkavationsparadigmen (Abb. 2a bis e) fordern die komplette Entfernung des infizierten, nekrotischen oder nicht remineralisierbaren Dentins bis zu einem spürbaren Härte- und Farbumschlag14 (sondenhart, „crie dentaire“, Abb. 3). Andernorts wird aber auch eine sehr zurückhaltende Exkavationsstrategie proklamiert, die sogar das zumindest temporäre Belassen infizierter Zahnhartsubstanz ermöglicht. In jüngster Zeit werden insbesondere von skandinavischen und britischen Autorengruppen alternative, weniger invasive Exkavationsmethoden mit dem Anspruch einer modernen biologisch-wissenschaftlichen Basis zur Diskussion gestellt3,26. Der Unterschied zwischen dem eher radikalen und stark mechanistischen Therapieansatz einerseits und der defensiven, eher biologisch orientierten Exkavationsmethode andererseits besteht in einem über Jahrzehnte erworbenen Wissen über die Pathomechanismen der Kariesätiologie und wird durch molekularbiologische Methoden befördert, welche dieses detaillierte Verständnis und somit die Verfechtung letzterer These ermöglichten. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die höchste Evidenz, nämlich randomisierte, kontrollierte klinische Studien weder für das eine noch das andere Verfahren in aussagekräftiger Anzahl vorliegen, was die Autoren beider Richtungen auch stets betonen. In der klassischen Therapievariante wird die kariöse Läsion stark vereinfacht wie ein maligner Tumor betrachtet. Ziel der Behandlung sollte es demnach sein, die Läsion komplett und im Zweifel unter Opferung gesunder Zahnhartsubstanz zu eliminieren, um ein Wiederaufflammen des Prozesses zu verhindern. Belassen wir jedoch bewusst kariös veränderte Zahnhartsubstanz unter einer Restauration, so setzen wir den Pulpa-Dentin-Komplex aus klassischer Sicht einem potenziell destruktiven Milieu aus und riskieren ungewollt eine rasche Kariesprogression. Jedoch konnten klinische Studien eindrucksvoll beweisen, dass alleine das Vorhandensein kariösen Dentins nicht zwangsläufig die Progression befördert13,21. Ziel aller invasiven Kariestherapiestrategien sollte die Vitalerhaltung des Zahnes durch die Inaktivierung und Ar- Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 Abb. 3 Insbesondere im deutschsprachigen Raum wird die komplette Entfernung kariös veränderten Dentins wie hier an Zahn 27 gefordert, was man in einigen angelsächsischen und skandinavischen Ländern als Überextension bewertet retierung des kariösen Prozesses sein – und das gilt auch bei vollständiger Entfernung der kariösen Läsion. Die Vitalerhaltung ist aber bei kompletter Exkavation tiefer Läsionen deutlich gefährdet, da sich häufiger eine Freilegung der Pulpa beobachten lässt18,20. Prinzipiell können drei verschiedene Methoden der Kariesentfernung diskutiert werden: 1. die klassische, vollständige Exkavation mit und ohne Pulpaeröffnung, 2. eine einzeitige Exkavation, möglicherweise unter Belassung kariösen Dentins vor einer definitiven (adhäsiven) Restauration, und 3. die schrittweise Kariestherapie, welche im ersten Schritt das Belassen pulpanahen infizierten Dentins sowie dessen Abdeckung mit einem kalziumhydroxidhaltigen Präparat und schließlich, nach 6 bis 8 Monaten5, die vollständige Kariesentfernung inklusive einer definitiven Versorgung vorsieht. Der vorliegende Beitrag soll die verfügbare Datenlage zu diesen Therapieoptionen im bleibenden, aber auch im Milchgebiss beleuchten und dem praktisch tätigen Zahnarzt einen Leitfaden an die Hand geben, mit dem er die Kariestherapie in der Praxis etwas differenzierter gestalten kann. 1079 ZAHNERHALTUNG „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung Qu i nt Die vollständige Kariesentfernung in einer Sitzung Die einzeitige komplette Kariesentfernung kann grundsätzlich dann erfolgen, wenn sich eine Pulpaeröffnung sicher vermeiden lässt, d. h. eine ausreichende Dentinschicht über der Pulpa bestehen bleibt. Dieses Vorgehen bietet sowohl in der bleibenden Dentition wie auch im Milchgebiss folgende Vorteile: Zeitersparnis verglichen mit einer schrittweisen Exkavation, größtmögliche Reduzierung pathogener Mikroorganismen und die Möglichkeit, einen soliden Zahnhartsubstanzverbund bei Anwendung der Adhäsivtechnik zu gewährleisten24. Bei der Behandlung tieferer Dentinläsionen und geringerer Schichtstärken der verbleibenden Dentinbrücke erhöht sich die Gefahr der Pulpaschädigung mit einhergehendem Vitalitätsverlust durch vorwiegend mechanische, thermische und chemische Reize erheblich32. Darüber hinaus besteht bei einzeitiger Exkavation fortgeschrittener Läsionen eine nicht unbeträchtliche Gefahr der Pulpaeröffnung (Abb. 4). Das Risiko wird bei bleibenden Zähnen mit 40 %18 und in der ersten Dentition sogar mit 53 %20 beziffert. Im Fall der (klinisch sichtbaren) Pulpaexposition sind in der Regel Behandlungsmaßnahmen zu treffen, die eine langfristige Vitalerhaltung des Zahnes ermöglichen. Abb. 4 Die einzeitige Exkavation tiefer Dentinläsionen ist mit einem relativ hohen Risiko der Pulpaeröffnung und weiteren Behandlungsschritten verbunden 1080 by ht opyrig C All eR ech te vo rbe ha lte n e ss e n z Die Behandlung der offenen Pulpa – Direkte Überkappung und partielle Pulpotomie Abgesehen von dem zeitlichen Behandlungsaufwand, den die Versorgung einer offenen Pulpawunde mit sich bringt, wird auch der klinische Erfolg dieser Maßnahmen recht kontrovers diskutiert. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Überkappung sind Beschwerdefreiheit vor der Behandlung, fehlende Zeichen pathologischer Veränderungen im Röntgenbild, eine positive Sensibilitätsprobe und eine vollständige Blutstillung während der Behandlung. Einund Ausschlusskriterien, Vor- und Nachteile sowie Details des operativen Ablaufs wurden kürzlich von Dammaschke10 beschrieben. Frontzähne weisen eine höhere Erfolgsrate als Prämolaren und Molaren auf9, und bei jungen Patienten mit regenerationsfreudiger Pulpa ist der Behandlungserfolg signifikant besser als bei älteren11. Nachteile vieler Überkappungsstudien sind eine fehlende Standardisierung des Designs und die Einbeziehung gesunder Zähne, deren Pulpaeröffnung während der Präparation akzidentell geschah oder traumatisch bedingt war. Klinisch Erfolg versprechende Daten aus diesen Untersuchungen könnten im Hinblick auf kariös vorbelastete Zähne nicht übertragbar sein26. Die Nachuntersuchung von 123 Zähnen, deren Pulpa bei der Kariesexkavation eröffnet wurde, ergab eine Misserfolgsrate von 44,5 % nach 5 Jahren und von 79,7 % nach 10 Jahren Beobachtungszeitraum2. Auch im Milchgebiss werden offene Behandlungen der Pulpa kontrovers diskutiert. Die Option der Vitalerhaltung der amputierten Restpulpa kann hier durch verschiedene Vorgehensweisen und Materialien erreicht werden, deren Vergleich in Studien häufig die zentrale Fragestellung darstellt. Die Anwendung formokresolhaltiger Materialien wird wegen der dokumentierten Kanzero- und Teratogenität von einigen Autoren vehement abgelehnt19. In jüngerer Zeit befinden sich Eisensulfat, MTA28 und Elektrokoagulation1 als Alternativen mit vergleichbarem Erfolg in der Diskussion. Aufgrund des fraglichen klinischen Ergebnisses offener Pulpatherapien, des erhöhten Aufwands und insbesondere der notwendigen Behandlungsfähigkeit von Kindern (Abb. 5) werden immer häufiger weniger invasive Therapieoptionen zur Behandlung von profunden Läsionen bei Milchzähnen, aber auch in der bleibenden Dentition evaluiert. Hier steht die indirekte Pulpaüberkappung, unter Umständen mit Belassen kariös veränderter Zahnhartsubstanz, im Mittelpunkt. Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 opyrig by ht Qu C All eR ZAHNERHALTUNG ech te „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung vo rbe ha lte n n i t es se nz Abb. 5 Endodontische Behandlungen von Milchzähnen sind häufig sowohl zeitaufwändig als auch schmerzhaft und setzen daher eine hohe Kooperationsbereitschaft der jungen Patienten voraus Die indirekte Überkappung oder: Wie weit ist die Exkavation sinnvoll? Die Frage, inwieweit kariöses Dentin vor der definitiven Restauration belassen werden kann, ist derzeit nicht vollständig zu beantworten. Es existieren jedoch zahlreiche Hinweise, dass es durchaus möglich ist, kariös verändertes Dentin zu belassen, ohne die Vitalität des betroffenen Zahnes zu gefährden. Wie bereits erwähnt kann durch schonende Exkavation eine Pulpaeröffnung vermieden werden, und eine Progression des kariösen Prozesses ist nicht zwingend, auch wenn eine unbestimmte Anzahl an Bakterien in der Kavität verbleibt. Diese These wurde kürzlich in einer prospektiv randomisierten klinischen multizentrischen Studie mit einer Differenz von 11,4 % mehr Pulpaexpositionen bei einzeitiger Kariesentfernung untermauert7. Die Autoren schlussfolgerten, dass die schrittweise Kariesentfernung, die später hier beleuchtet wird, der einzeitigen Methode vorzuziehen sei. Anhand radiographischer Dichtemessungen konnte gezeigt werden, dass in einem Zeitraum von 14 bis 18 Monaten keine Progression tiefer, temporär mit Kalziumhydroxid und einer adhäsiven Deckfüllung versorgten Dentinläsionen stattfand22. Ökologische Veränderungen innerhalb der verbleibenden kariösen Zahnhartsubstanz scheinen eine Arretierung des Prozesses zu bedingen, wofür mehrere Faktoren ver- Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 antwortlich sind. Durch die Entfernung des weichen, denaturierten Dentins kommt es zur Eliminierung eines Großteils der für die Progression verantwortlichen Bakterien wie S. mutans, S. sobrinus und Laktobazillenarten, die allesamt starke Säurebildner sind und auch bei niedrigem pH überleben können. Die Zusammensetzung der in der Kavität verbleibenden Mikroflora verändert sich nach der (provisorischen) restaurativen Therapie wie folgt: Laktobazillen und Mutansstreptokokken sind nach 3 Monaten nicht mehr nachweisbar, wohingegen orale Streptokokken und A. naeslundii die Flora dominieren. Diese Mikroorganismen haben die Fähigkeit zur multiplen enzymatischen Glykoproteinspaltung und können dadurch neben externen Nahrungsquellen z. B. auch vorhandenen Dentinliquor metabolisieren, ohne gleichzeitig starke Säurebildner zu sein und somit die Kariesprogression zu befördern23. Ein möglichst dichter Verschluss der Kavität, der nach heutigem Kenntnisstand am besten mit einer adhäsiven Füllung erfolgt, verhindert den Nachschub externer Kohlenhydrate und bringt somit die Hauptnahrungsquelle für verbleibende Keime zum Versiegen17. Klassischerweise wird bei einer indirekten Überkappung vor der definitiven Restauration ein Kalziumhydroxidpräparat auf die pulpale Dentinbrücke aufgetragen. Es handelt sich folglich um ein einzeitiges Verfahren, bei dem in der Regel kariös verändertes Dentin belassen wird. Mittlerweile konnte gezeigt 1081 ZAHNERHALTUNG „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung Qu i nt a by ht opyrig C All eR ech te vo rbe ha lte n e ss e n z b Abb. 6a und b Nach Entfernung des infizierten und irreversibel denaturierten Dentins sowie Abdeckung mit einem Kalziumhydroxidpräparat und einer provisorischen Deckfüllung zeigt das kariöse Restdentin im Anschluss an die Wiedereröffnung deutliche Zeichen der Kariesinaktivierung werden, dass indirekte Überkappungen bei Milchzähnen durch ausschließliche Anwendung der Adhäsivtechnik einer konventionell mit Kalziumhydroxyd behandelten Kontrollgruppe nicht unterlegen sind8. Dieses Verfahren bietet neben der Zeitersparnis bei der Behandlung den Vorteil, dass eine Degradation des Liners mit nachfolgender Hohlraumbildung unterhalb der Restauration unterbleibt. Die Exkavation der infizierten, zentralen Biomasse einerseits und die Abschirmung der Läsion gegen das orale Milieu andererseits reduzieren also die progressionsbestimmenden Faktoren deutlich und ermöglichen es dem PulpaDentin-Komplex, bei intaktem Odontoblastensaum mit der Bildung von peritubulärem Dentin, der so genannten Sklerose, zu reagieren. Auch klinisch lassen sich deutliche Zeichen der Kariesarretierung beobachten. Bei Wiedereröffnung von teilweise exkavierten Läsionen ist das Dentin vergleichsweise dunkler, härter und trockener (Abb. 6a und b) als nach Beendigung der Primärexkavation5. Diese Beobachtungen wurden in Studien zur schrittweisen Kariestherapie gemacht, die eine vollständige Kariesexkavation nach durchschnittlich 6 bis 8 Monaten vorsieht4. Die schrittweise Kariesentfernung – ist der zweite Schritt noch notwendig? Betrachten wir lediglich den Aspekt der Pulpaeröffnung während der Exkavation tiefer Dentinläsionen, so spricht die aktuelle Datenlage für eine partielle Kariesentfernung 1082 bei symptomlosen Milch- und auch bleibenden Zähnen27. Die Frage, ob ein zweiter Schritt mit dem Ziel der kompletten Kariesentfernung noch notwendig ist, konnte in der auf vier Studien basierenden systematischen Übersicht von Ricketts et al.27 nicht beantwortet werden. Es besteht jedoch die berechtigte Annahme, dass operative Maßnahmen wie die Entfernung des irreversibel degradierten und bakteriell infizierten Dentins (Abb. 7) sowie ein möglichst dichter Verschluss die Kariesprogression verhindern oder zumindest deutlich verlangsamen können6. In der allgemeinen Kariesätiologie ist die Tatsache, dass eine Minimierung der Kariesrisikofaktoren die Balance zwischen Angriff und Abwehr wiederherstellt, schon seit langem akzeptiert29. Anscheinend fällt die Übertragung der pathogenetischen Erkenntnisse auf die restaurative Therapie den meisten Autoren vielleicht deshalb so schwer, weil invasive Behandlungen häufig nicht als integraler Bestandteil kariesprophylaktischer Maßnahmen, sondern völlig isoliert betrachtet werden. Jedoch hat aus biologischer Sicht auch die Füllungstherapie das primäre Ziel, die Kariesprogression zu verhindern. Mit der schrittweisen Kariesentfernung wird eine Kombination der Vorteile zweier Theorien angestrebt: Im ersten Schritt, der Teilexkavation, werden die biologischen Mechanismen der Regenerationsfähigkeit eines intakten PulpaDentin-Komplexes bei gleichzeitiger Vermeidung einer mechanischen Pulpaexposition angesprochen, und im zweiten Schritt, der kompletten Entfernung, soll die größtmögliche Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 opyrig by ht Qu C All eR ZAHNERHALTUNG ech te „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung vo rbe ha lte n n i t es se nz Abb. 7 Die Exkavation des zentralen, erweichten Dentins sollte möglichst atraumatisch erfolgen. In pulpanahen Bereichen kann die Anwendung von Handinstrumenten im Sinne des Pulpaschutzes sinnvoll sein a b Abb. 8a und b Die Hall-Technik verzichtet bei der Versorgung zerstörter Milchzähne mit konfektionierten Stahlkronen vollständig auf Exkavation und Präparation Sicherheit der Progressionsprävention durch Eliminierung der verbliebenen Mikroorganismen erfolgen. Die Notwendigkeit eines zweiten, für den Patienten häufig mit Unannehmlichkeiten verbundenen Behandlungstermins und die Möglichkeit einer iatrogenen Pulpaeröffnung in dieser Sitzung sind als deutliche Nachteile der schrittweisen Exkavation zu nennen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wird die Forderung nach einer vollständigen Kariesexkavation immer häufiger in Frage gestellt17,25,27. Methoden wie die von Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 Innes et al.16 beschriebene Hall-Technik verzichten bei Milchmolaren vor der Versorgung mit einer konfektionierten Stahlkrone fast vollständig auf die Entfernung kariöser Zahnhartsubstanz (Abb. 8a und b). Ein weiterer Ansatz zur Reduktion kariespathogener Mikroorganismen in der Kavität ist der Zusatz antibakteriell wirksamer Substanzen in Adhäsivsystemen oder Füllungswerkstoffen: Entsprechende Studien15,30,31 zeigten zumindest initial Erfolg versprechende Ergebnisse, jedoch fehlt auch hier die Bestätigung der Wirksamkeit durch klinisch kontrollierte Langzeitstudien. 1083 ZAHNERHALTUNG „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung Qu i nt a by ht opyrig C All eR ech te vo rbe ha lte n e ss e n z b Abb. 9a und b Die Anwendung alternativer Exkavationsmethoden, wie hier die chemomechanische Exkavation mit Carisolv (Fa. MediTeam Dental, Göteborg, Schweden), bietet insbesondere im Milchgebiss und bei ängstlichen Patienten große Vorteile. Der Einsatz dieser selektiven, schmerzarmen Technik ist allerdings mit einem hohen Zeitaufwand verbunden Alternative Exkavationsmethoden mit dem Anspruch einer schonenden Vorgehensweise wie z. B. die chemomechanische Exkavation (Abb. 9a und b), die Sonoabrasion sowie die Anwendung von Polymerbohrern (SmartPrep, Fa. SS White, Lakewood, USA) oder Lasern konnten sich bislang aufgrund unterschiedlicher Nachteile nicht flächendeckend durchsetzen. Fazit Die Entfernung insbesondere tiefer kariöser Dentinläsionen stellt nach wie vor einen eher arbiträren Behandlungsschritt dar, der je nach Standort von gegensätzlichen Philosophien geprägt ist. In den deutschsprachigen Ländern wird gegenwärtig überwiegend eine vollständige Exkavation unter Einbeziehung direkter und indirekter Pulpaüberkappungstechniken favorisiert, wohingegen im angelsächsischen und skandinavischen Raum die schrittweise Kariesentfernung oder sogar die indirekte Überkappung unter Belassen pulpanahen kariös veränderten Dentins Anwendung findet. Aufgrund der vorhandenen Beweislage können zum heutigen Zeitpunkt folgende Empfehlungen für die Praxis ausgesprochen werden: • Flache Läsionen, bei denen eine Traumatisierung der Pulpa ausgeschlossen werden kann, lassen sich problemlos vollständig in einer Sitzung exkavieren. Hierdurch werden die bestmöglichen Voraussetzungen 1084 für eine Arretierung des kariösen Prozesses und eine solide Anheftung an die verbleibende Zahnhartsubstanz gewährleistet. Dennoch sollte eine Übertherapie im Sinne einer Extension über die äußere, bakteriell kontaminierte Zone hinaus unterbleiben26. Verfärbtes und mineralisiertes Dentin, wie es z. B. nach langjährigem Amalgamkontakt zu beobachten ist (Abb. 10a und b), braucht nicht entfernt zu werden. Ästhetische Beeinträchtigungen, die dadurch entstehen können, bilden hier (jedoch nicht aus kariologischer Sicht) eine Ausnahme. • Die direkte Pulpaüberkappung bietet den Vorteil, dass sie in nur einer Sitzung und bei gleichzeitig vollständiger Exkavation erfolgen kann. Voraussetzung für den Erfolg sind neben präoperativer Beschwerdefreiheit in erster Linie eine regenerationsfähige Pulpa und die Garantie der Blutstillung. Entgegen Berichten über gute Langzeitprognosen12 wurden gerade nach Eröffnung der Pulpa während der Exkavation hohe Misserfolgsraten publiziert. Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, dass eine direkte Überkappung auf iatrogene Eröffnungen und traumatisch bedingte Fälle unter Einhaltung der Einschlusskriterien beschränkt bleiben sollte. • Die Pulpaeröffnung kann sicher vermieden werden, wenn die Exkavation nur partiell erfolgt, d. h. eine Dentinbrücke über der Pulpa verbleibt, auch wenn sie kariös verändert ist. Diese Tatsache ist sowohl für die permanente Dentition als auch für Milchzähne belegt. Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 opyrig by ht Qu C All eR ZAHNERHALTUNG ech te „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung vo rbe ha lte n n i t es se nz a Abb. 10a und b Nach langjährigem Kontakt mit Amalgam zeigen sich häufig Verfärbungen des vollständig mineralisierten und intakten Dentins, die aus kariologischer Sicht nicht entfernt werden müssen a b b c Abb. 11a bis c Gegenwärtig gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass das Belassen kariösen Dentins im pulpanahen Bereich (a) dem Patienten Schaden zufügt oder seine Lebensqualität beeinträchtigt, wenn ein dichter möglichst adhäsiver Verschluss der Kavität gewährleistet werden kann (b und c) • Es existieren zahlreiche Hinweise, dass das permanente Belassen einer kariös veränderten Dentinschicht unterhalb einer definitiven Restauration im Sinne einer indirekten Überkappung für den Patienten keinen nennenswerten Schaden mit sich bringt27. Jedoch besteht nach wie vor Unsicherheit darüber, in welchem Quintessenz 2010;61(9):1077–1086 Ausmaß die Karies belassen werden kann und wie die Langzeitprognosen im Vergleich zu einer direkten Überkappung oder einer schrittweisen Exkavation ausfallen. Grundsätzlich empfiehlt sich die Anwendung dieses Verfahrens daher eher im Milchgebiss, da hier die Lebensdauer der Zähne naturgemäß endlich ist. 1085 ZAHNERHALTUNG „Endoprophylaxe“ durch schonende Kariesentfernung Qu i nt • Die schrittweise Exkavation kombiniert die Vorteile der „Pulpaprophylaxe“ im ersten sowie die Möglichkeit der Erfolgskontrolle und der vollständigen Exkavation im zweiten Behandlungsschritt und ist zum jetzigen Zeitpunkt das Mittel der Wahl, wenn eine endodontische Behandlung vermieden werden soll. Die Notwendigkeit einer zweiten Behandlung ist als großer Nachteil dieses Verfahrens zu sehen. Literatur 1. Bahrololoomi Z, Moeintaghavi A, Emtiazi M, Hosseini G. 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Die Erfolgsaussichten der einzelnen Alternativen unterscheiden sich häufig nicht wesentlich voneinander, so dass patientenbezogene, höchst individuelle Parameter den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben können (Abb. 11a bis c). 11. Dammaschke T, Leidinger J, Schäfer E. Long-term evaluation of direct pulp cappingtreatment outcomes over an average period of 6.1 years. Clin Oral Investig 2009;13: DOI 10.1007/s00784-009-0326-9. 12. Duda S, Dammaschke T. Die direkte Überkappung – Voraussetzungen für klinische Behandlungserfolge. Endodontie 2009;18:21-31. 13. Handelman SL. Effect of sealant placement on occlusal caries progression. Clin Prev Dent 1982;4:11-16. 14. Heinrich R, Kneist S, Künzel W. Klinisch kontrollierte Untersuchung zur Caries-profunda-Therapie am Milchmolaren. Dtsch Zahnärztl Z 1991;46:581-584. 15. Imazato S. Antibacterial properties of resin composites and dentin bonding systems. Dent Mater 2003;19:449-457. 16. Innes N, Evans D, Hall N. 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