Menschenrechte und Entwicklungspolitik Allgemeine Tendenzen

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Michael Krennerich
Menschenrechte und Entwicklungspolitik
Allgemeine Tendenzen und Sichtweisen
Die Verwirklichung der Menschenrechte ist eine Querschnittsaufgabe
der Politik. Dazu bekennt sich – zumindest deklaratorisch – auch die
deutsche Bundesregierung. Demnach sind in Bezug auf die Menschenrechte alle Politikbereiche gefordert: von der Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Auswärtigen Kulturpolitik bis hin zu
der Innen-, Sozial-, Wirtschafts-, Bildungs- und Umweltpolitik (Auswärtiges Amt 2002: 18). Der vorliegende Beitrag widmet sich der
Förderung der Menschenrechte nur in einem dieser Politikfelder, namentlich der Entwicklungspolitik. Ich habe diesen Bereich herausgegriffen, weil sich anhand der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) einige fortschrittliche, vielleicht auch ermutigende Tendenzen der Menschenrechtsentwicklung aufzeigen lassen, die in Zeiten von Krieg und
internationaler Terrorismusbekämpfung allzu leicht in den Hintergrund rücken.
Nun ist selbst das Thema „Menschenrechte und Entwicklungspolitik“
sehr komplex und überaus ergiebig. Es gibt eine Vielzahl an internati-
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Michael Krennerich
onalen und nationalen, staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren der
Entwicklungszusammenarbeit, die in der einen oder anderen Weise
die Menschenrechte fördern. Der vorliegende Beitrag kann dieser
Vielfalt nicht annähernd Rechnung tragen. Er möchte lediglich einige
allgemeine Entwicklungslinien aufzeigen – und zwar anhand von vier
Grundthesen:
Abb. 1: Grundthesen des Beitrags
1. Die Menschenrechte wurden im Rahmen der Entwicklungspolitik
lange Zeit wenig berücksichtigt. Erst seit den 90er Jahren werden sie auf
umfassende und systematische Weise in der Entwicklungszusammenarbeit gefördert.
2. Der ursprüngliche Fokus des Menschenrechtsschutzes in der Entwicklungszusammenarbeit liegt auf den bürgerlichen und politischen Rechten. Doch haben im Laufe der 90er Jahre die wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Menschenrechte erheblich an Bedeutung gewonnen. Zudem fließen in die entwicklungspolitische Förderung spezifischer Zielgruppen (Frauen, Kinder, indigene Gruppen, Behinderte etc.) verstärkt
menschenrechtliche Komponenten ein.
3. Neben „negativen“ Maßnahmen (politische Konditionierung, Sanktionen) und „positiven Maßnahmen“ der Menschenrechtsförderung (spezifische Menschenrechtsprojekte und –programme) gewinnen horizontale Ansätze an Bedeutung, die Menschenrechte als Querschnittsaufgabe
oder gar als vornehmliches Ziel und als übergeordneten Referenzrahmen
der Entwicklungszusammenarbeit ansehen.
4. Die menschenrechtsbezogene Entwicklungszusammenarbeit bezieht
sich nicht nur auf die „Länder des Südens“, sondern wirkt zunehmend
auch auf die „Länder des Nordens“ zurück.
Diese vier Thesen möchte ich im Folgenden kurz erläutern.
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
155
1. Das Thema der Menschenrechte in der Entwicklungspolitik
Die Entwicklungspolitik ist ein vergleichsweise junges Politikfeld. Sie
hat sich in der Bundesrepublik Deutschland erst in den 60er Jahren
entwickelt und wurde in den meisten Geberländern lange Zeit nicht
unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten betrieben. In den 70er
und 80er Jahren fanden Menschenrechte nur in einzelnen Geberländern Eingang in die staatliche Entwicklungspolitik. So wurde etwa in
den USA bereits 1976 gesetzlich verboten, bilaterale militärische und
wirtschaftliche Hilfe an Regierungen zu vergeben, die massiv und systematisch bestimmte bürgerliche und politische Menschenrechte verletzten. Allerdings widersprach die politische Praxis der USA in vielen Fällen den gesetzlichen Vorgaben und war stark von der ideologischen Auseinandersetzung des Ost-West-Konfliktes bestimmt. Weniger ideologisch eingefärbt, griffen auch einige andere Staaten – etwa
Kanada, Norwegen, Schweden, Dänemark und die Niederlande – in
den 70er und 80er Jahren menschenrechtliche Anliegen in der Entwicklungszusammenarbeit auf. Die Niederlande setzten aufgrund der
Menschenrechtslage sogar zeitweise die Entwicklungszusammenarbeit
mit Surinam aus. Doch in den meisten Staaten wurde das Thema der
Menschenrechte zunächst kaum entwicklungspolitisch berücksichtigt.
Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland. Am ehesten noch
im nicht-staatlichen Bereich fanden hierzulande Menschenrechte Eingang in die Entwicklungszusammenarbeit der 70er und 80er Jahre.
Vor dem Hintergrund schwerwiegender Menschenrechtsverbrechen
vor allem lateinamerikanischer Diktaturen unterstützte beispielsweise
das katholische Hilfswerk Misereor ab den frühen 70ern Menschen-
156
Michael Krennerich
rechtsprojekte. Und aus demselben Grund gründete das Diakonische
Werk der EKD 1977 ein Menschenrechtsreferat, seinerzeit als Referat
für politische Verfolgte und Flüchtlinge1.
In umfassender und systematischer Weise wurden die Menschenrechte
erst seit den 90er Jahren in die Entwicklungspolitik eingebunden. Voraussetzung hierfür war zum einen das Ende des Ost-West-Konfliktes.
Dadurch
konnten
sich
die
Menschenrechtspolitik
und
die
Entwicklungszusammenarbeit aus den ideologischen Wahrnehmungsmustern und Handlungslogiken des Kalten Krieges lösen, wurden weniger stark von geostrategischen und sicherheitspolitischen Interessen überlagert. Hinzu kommt, dass zu Beginn der 90er Jahre der
Höhepunkt einer weltweiten Demokratisierungswelle war, die zuvor
Lateinamerika erfasst hatte und nun auch Osteuropa, Afrika und Asien
ergriff. Intern wie extern wuchs dadurch der Druck auf viele Entwicklungsländer, die Menschenrechte zu schützen und umzusetzen.
Die Entwicklungspolitik hat auf diese politischen Umbrüche reagiert:
In den entwicklungspolitischen Strategien der Geberstaaten und –
organisationen gewannen Menschenrechte in den 90ern erheblich an
Bedeutung. Einzelne Geberländer wie Deutschland, aber auch die Europäische Gemeinschaft oder die OECD ergriffen zu Beginn der 90er
Jahre entwicklungspolitische Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte, einschließlich der Konditionierung der Entwicklungszusammenarbeit. Zudem wuchs innerhalb von UN-Gremien und UN1
Zur menschenrechtsbezogenen Entwicklungszusammenarbeit der Kirchen in
Deutschland siehe: Krennerich (2003) sowie die dort ausgewiesene Literatur.
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
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Sonderorganisationen das Bewusstsein, dass Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung eng zusammenhängen und sich gegenseitig
bedingen.
Einen Meilenstein innerhalb der internationalen Menschenrechtsdebatte stellte hierbei die Weltkonferenz über Menschenrechte von 1993
in Wien dar: „Eine Quintessenz der Abschlusserklärung von Wien
lautet(e): Inhalt und Ziel von Entwicklung werden durch die Menschenrechte bestimmt“ (van de Sand 1997). Entwicklung ist demnach
eng gekoppelt mit der Verwirklichung sowohl der bürgerlichen und
politischen Menschenrechte als auch der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Menschenrechte. Zudem bekannte sich die Abschlusserklärung von Wien zum Recht auf Entwicklung, das bereits 1986
erstmals in einer rechtlich unverbindlichen UN-Deklaration verankert
worden war. Schließlich wurde der Grundsatz der Unteilbarkeit der
Menschenrechte, das heißt die Zusammengehörigkeit unterschiedlicher „Generationen“ von Menschenrechten bekräftigt.
2. Thematische Ausweitung der menschenrechtsbezogenen EZ
Die Grundlage des universellen Menschenrechtsschutzes bilden neben
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 vor allem
der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der
Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte,
die beide aus dem Jahre 1966 stammen und 1976 in Kraft traten2. Die
2
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist zwar der Form nach eine
rechtlich unverbindliche UN-Deklaration, gehört aber inzwischen zumindest in
158
Michael Krennerich
beiden Pakte lassen sich kurz als Zivilpakt und als Sozialpakt bezeichnen und verankern unterschiedliche „Generationen“ – korrekter
ist eigentlich: Dimensionen – der Menschenrechte. So umfasst der Zivilpakt grundlegende bürgerliche und politische Rechte wie u.a. das
Recht auf Leben, das Verbot der Folter und der Sklaverei, das Recht
auf persönliche Freiheit, elementare Justizgrundrechte, die Rechte auf
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie auf freie und faire Wahlen. Der Sozialpakt schreibt die so genannten WSK-Rechte fest, darunter die Rechte auf Arbeit und auf gerechtes Arbeitsentgeld, das
Verbot der wirtschaftlichen und sozialen Ausbeutung von Kindern,
das Recht auf angemessene Ernährung und Wohnen sowie die Rechte
auf soziale Sicherheit, auf Bildung und auf ein größtmögliches Maß
an Gesundheit.
Teilen zum Völkergewohnheitsrecht. Die beiden Pakte sind für die Unterzeichnerstaaten rechtsverbindlich. Dies gilt im Übrigen auch für eine Reihe weiterer,
wichtiger Menschenrechtsabkommen auf universeller und regionaler Ebene (vgl.
Bundeszentrale für politische Bildung 1999).
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
Abb. 2:
159
Verschiedene Dimensionen der Menschenrechte gemäß
Zivilpakt und Sozialpakt
Zivilpakt:
Sozialpakt:
Bürgerliche und politische
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte
Rechte
u. a.:
u. a.:
• Recht auf Leben
• Verbot der Diskriminierung
• Verbot der Folter oder grausamer, • Recht auf Arbeit
unmenschlicher oder erniedrigender
• Recht auf gerechte und günstige ArBehandlung oder Strafe
beitsbedingungen
(angemessener
• Verbot der Sklaverei und der
Lohn, gleiches Entgeld für gleiche
Leibeigenschaft
Arbeit, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Arbeitspausen, ange• Recht auf persönliche Freiheit und
messene Begrenzung der Arbeitszeit,
Sicherheit
bezahlter Urlaub, Vergütung gesetz• Recht auf Freizügigkeit
licher Feiertage etc.)
• elementare
Justizgrundrechte • Recht auf Bildung und Betätigung
(Gleichheit vor dem Gesetz, Unvon Gewerkschaften
schuldsvermutung, verfahrensrechtli• Recht auf soziale Sicherheit (Sozialche Mindestgarantien etc.)
versicherung)
• Schutz vor Eingriffen in die Pri• Schutz der Familie (Gründung, Ervatssphäre
ziehung), Mütter (Mutterschaftsur• Recht auf Gedanken-, Gewissenslaub) und Kinder (vor wirtschaftliund Religionsfreiheit
cher und sozialer Ausbeutung)
• Recht auf unbehinderte Meinungs- • Recht auf angemessenen Lebensstanfreiheit und freie Meinungsäußerung
dard (ausreichende Ernährung, Bekleidung, Unterbringung) und Recht
• Recht auf Versammlungsfreiheit
auf Schutz vor Hunger
• Recht auf Vereinigungsfreiheit
• Recht auf körperliche und geistige
• Recht auf freie und faire Wahlen und
Gesundheit
auf Zugang zu öffentlichen Ämtern
• Recht auf Bildung (Grundschulpflicht, offener Zugang zu höheren
Bildungseinrichtungen etc.)
• Recht auf Teilnahme am kulturellen
Leben, an den Errungenschaften des
wissenschaftlichen Fortschritts etc.
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Michael Krennerich
Das vorherrschende Menschenrechtsverständnis im Westen räumte
den bürgerlichen und politischen Rechten von Beginn an größere Bedeutung zu als den WSK-Rechten. Dies hatte nicht zuletzt politische
Gründe, die vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes zu verstehen sind: Während westliche Staaten, allen voran die USA, ganz im
Sinne ihrer innerstaatlichen Traditionen den Schwerpunkt auf liberale
Freiheitsrechte legten, hoben sozialistische Staaten wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte hervor, die zunächst vornehmlich als
kollektive Rechte interpretiert wurden. Hinzu kam, dass die bürgerlichen und politischen Rechte als klar umschriebene, individuell einforderbare Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe angesehen wurden,
während die sozialen Rechte lange Zeit als nicht einklagbare Anspruchsrechte galten, welche die Staaten lediglich nach Maßgabe ihrer
– nicht zuletzt wirtschaftlichen – Möglichkeiten umzusetzen hätten.
Die starke Orientierung an den bürgerlichen und politischen Rechten
im westlichen Menschenrechtsverständnis fand auch in der Entwicklungspolitik ihren Niederschlag, soweit diese sich mit Menschenrechten befasste. Der ursprüngliche Fokus der Menschenrechtsförderung
in der Entwicklungszusammenarbeit westlicher Geberstaaten lag daher nicht etwa auf den WSK-Rechten, die eigentlich thematisch aufs
Engste mit der Entwicklungsproblematik verknüpft sind, sondern auf
den bürgerlichen und politischen Rechten. Demgemäß nahm beispielsweise die politische Konditionierung der Entwicklungszusammenarbeit, wie sie etwa in Deutschland in den 90er Jahren verwandt
wurde, ausschließlich auf bürgerliche und politische Menschenrechte
Bezug. Und demgemäß beziehen sich auf diese Rechte auch die meis-
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
161
ten ausgewiesenen Menschenrechtsprojekte der Entwicklungszusammenarbeit. Infolge der (Re-)Demokratisierungsprozesse der 80er und
90er Jahre wurden die bürgerlichen und politischen Menschenrechte
dabei immerhin in den Zusammenhang mit der übergreifenden Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen gestellt.
Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte hingegen waren, vereinfacht gesagt, bis Mitte der 90er Jahre kein fester Bestandteil der Entwicklungspolitik. „Es ist nicht übertrieben“, schrieb
der Volkswirtschaftler Hermann Sautter (1996: 185) noch Mitte der
90er Jahre, „wenn man davon spricht, dass die Existenz und der Inhalt
des Sozialpaktes den Geberorganisationen der bilateralen und multilateralen EZ lange Zeit unbekannt war; erst im Zusammenhang mit dem
„Weltsozialgipfel“ im Jahre 1995 hat sich in dieser Hinsicht einiges
geändert“.
Noch heute werden von etlichen Menschen, gerade auch Politikern,
die WSK-Rechte wie etwa das Recht auf Nahrung oder das Recht auf
Gesundheit noch nicht zu den international verbrieften Menschenrechten gezählt. Vielfach wird angenommen, dass es sich hier eher um politische Zielvorgaben als um einforderbare Rechte handelt. Zugegeben: Es ist umstritten oder zumindest unklar, wie die WSK-Rechte inhaltlich zu konkretisieren sind und welche individuellen und kollektiven Ansprüche sich daraus ableiten lassen. Beliebig ist die Interpretation jedoch nicht. Immerhin hat inzwischen der UN-Ausschuss für
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte entsprechende Interpretationsvorgaben gemacht. Er hat etliche WSK-Rechte in sog. general
162
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comments näher bestimmt und die verschiedenen Verpflichtungsebenen dieser Rechte aufgezeigt. Demnach sind die Vertragsstaaten des
Sozialpaktes verpflichtet, die WSK-Rechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Hier ein kurzes Schaubild zum besseren
Verständnis der Verpflichtungstrias anhand des Rechts auf Wohnen.
Abb. 3: Staatliche Verpflichtungsebene des Menschenrechtsschutzes
Verpflichtungsebene
Erläuterung
Beispiele aus dem
Bereich des Rechts
auf Wohnen
Respektierungspflicht
(respect)
Staaten dürfen die Men- Regierung unterlässt
schenrechte nicht ver- u. a. Zwangsvertreiletzen.
bungen.
Schutzpflicht (protect)
Staaten müssen Menschenrechte vor Verletzungen Dritter schützen.
Regierung
schützt
Menschen u. a. vor
Vertreibungen durch
Dritte (z.B. Großgrundbesitzer, Spekulanten etc.).
Gewährleistungspflict
(fulfil)
Staaten müssen angemessene Maßnahmen
ergreifen, um die Menschenrechte zu gewährleisten.
Regierung stellt u. a.
mittels einer gezielten Wohnungspolitik
angemessenen
Wohnraum und Infrastrukturen zur Verfügung.
Gemäß dem Sozialpakt sind die Staaten verpflichtet, u. a. das Recht
auf Wohnen gesetzlich zu verankern. Sie sollen es respektieren (indem
die Regierung beispielsweise nicht selbst willkürliche Zwangsvertreibungen vornimmt), es schützen (indem etwa Vertreibungen von Menschen durch Dritte unterbunden werden) und es gewährleisten (indem
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
163
etwa mittels einer gezielten Wohnungspolitik angemessener Wohnraum und Infrastrukturen zur Verfügung gestellt werden, damit das
Recht auf Wohnen auch materiell greifen kann).
Es liegt auf der Hand, dass die wirtschaftlichen Bedingungen von Entwicklungsländern der Verwirklichung der WSK-Rechte materielle
Grenzen setzen. Doch wichtig ist, dass die Staaten, einzeln und durch
internationale Zusammenarbeit, unter Ausschöpfung aller ihrer Möglichkeiten Maßnahmen ergreifen, um nach und nach mit geeigneten
Mittel die WSK-Rechte zu verwirklichen. Dabei sei am Rande erwähnt, dass auch die Verwirklichung der bürgerlichen und politischen
Rechte eines erheblichen öffentlichen Aufwandes bedarf und nicht
umsonst ist.
Die bürgerlichen und politischen Rechte sind nicht – wie oft in Abgrenzung zu WSK-Rechten behauptet wird – einfach unmittelbar
wirksam. Die Gewährleistung elementarer Justizgrundrechte erfordert
beispielsweise erhebliche legislative, administrative und auch materielle Anstrengungen des Staates, um ein unabhängiges und effizientes
Justizwesen zu schaffen. Entwicklungspolitiker, die sich um den Aufbau eines funktionierendes Rechtsstaates in den jungen Demokratien
bemühen, wissen nur zu gut, wie schwierig dies ist. Selbst das Recht
auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit ist nicht allein dadurch
gewährleistet, dass der Staat nicht selbst mordet und foltert (vgl. auch
Boekle 2000). Der Staat steht auch in der Pflicht, seine Bürger vor
Gewalt zu schützen. Gerade aber der Aufbau eines effektiven, rechtsstaatlich eingefassten und demokratisch kontrollierten Gewaltmono-
164
Michael Krennerich
pols stellt sich in vielen Entwicklungsländern als äußerst schwierig
und aufwändig dar.
Kurzum: Das Argument, dass WSK-Rechte nicht klassische Abwehrrechte, sondern Anspruchsrechte sind und damit schwierig umzusetzen seien, greift zu kurz. Denn zum einen haben auch WSK-Rechte
eine Abwehrfunktion gegenüber staatlichen Übergriffen. Zum anderen
sind auch bürgerliche und politische Rechte nicht umsonst zu haben.
Prinzipiell besteht wenig Unterschied darin, ob ein funktionierendes
Gerichtswesen aufgebaut wird, damit die Menschen ihre Justizgrundrechte nutzen können, oder ob ein effektives Schulsystem aufgebaut
wird, damit sie ihr Recht auf Bildung verwirklichen können.
In der Entwicklungszusammenarbeit haben die WSK-Rechte in den
vergangenen Jahren beachtlich an Bedeutung gewonnen und spielen
gerade auch im nicht-staatlichen Bereich mittlerweile eine große Rolle. Gefördert wurde dies u a. dadurch, dass die Menschenrechte, bildhaft gesprochen, als eine Art Anker in der ausufernden Globalisierungsdebatte fungieren: Sie umschreiben Mindeststandards für soziale
Gerechtigkeit, die als politisch einforderbare Ordnungsprinzipien dienen können und feste Orientierungspunkte bieten in der Diskussion
um die Folgen wirtschaftlicher Globalisierung. Zudem gehen von zivilgesellschaftlichen Gruppen im Norden wie im Süden starke Impulse aus, in der Entwicklungszusammenarbeit die Menschenrechte auch
im WSK-Bereich zu fördern.
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
165
Inzwischen sind diese derart populär, dass einige ausgeschlafene Entwicklungspolitiker die These vertreten, die gesamte Entwicklungszusammenarbeit diene doch der Verwirklichung der WSK-Rechte. Doch
greift eine solche „Gleichsetzungsthese“ zu kurz, denn beileibe nicht
jedes Entwicklungsprojekt ist ein Menschenrechtsprojekt. Im Extremfall können Entwicklungsprojekte sogar gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen. (Etwa wenn ein Staudamm gebaut wird und
dabei Menschen ohne Mitspracherecht und Entschädigung gewaltsam
von ihrem Grund und Boden vertrieben werden). Jüngere Diskussionen gehen dahin, nur solche Entwicklungsprojekte als direkte Menschenrechtsförderung zu verstehen, die explizit einen menschenrechtlichen Bezug haben und auf den Verpflichtungscharakter der Menschenrechte abzielen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um
bürgerliche und politische Rechte oder um wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte handelt. Damit geht ein Perspektivenwechsel einher,
der sich nicht mehr nur an den Grundbedürfnissen (basic needs), sondern auch und vor allem an den Grundrechten (basic rights) orientiert.
Dies führt zur dritten These über, die ich anhand des folgenden Schaubildes kurz ausführen möchte.
166
Michael Krennerich
3. Vertikale und horizontale Ansätze einer menschenrechtsbezogenen EZ
Abb. 4:
Vertikale und horizontale Ansätze menschenrechtsbezogener Entwicklungspolitik
Vertikale Ansätze
„Negative Maßnahmen“
politische Konditionierung der
Entwicklungszusammenarbeit;
Sanktionen
„Positive Maßnahmen“
Unterstützung spezifischer Menschenrechtsprojekte und –
programme
Horizontale Ansätze
Menschenrechtsverträglichkeitsprü- Berücksichtigung der Menschenfung, „mainstreaming“ etc.
rechte bei Planung, Umsetzung
und Evaluierung von Projekten
und Programmen, die nicht vorrangig einen menschenrechtlichen
Fokus haben
„Human Rights Approach“
Ausrichtung der gesamten
Entwicklungszusammenarbeit auf
die Menschenrechte
Zu den „klassischen“ Menschenrechtsmaßnahmen in der Entwicklungspolitik gehören zum einen negative Maßnahmen in Form etwa
von politischer Konditionierung der Entwicklungszusammenarbeit
und Sanktionen, zum anderen positive Maßnahmen in Form der Unterstützung spezifischer Menschenrechtsprojekte und -programme.
Zwar wurde in einigen Fällen bereits in den 70er und 80er Jahren die
Menschenrechtslage bei der Vergabe internationaler Unterstützung
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
167
berücksichtigt. Die politische Konditionierung von Entwicklungszusammenarbeit unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten gewann
jedoch vor allem zu Beginn der 90er Jahre an Bedeutung, sowohl in
Deutschland als auch anderswo. Rasch entbrannte eine heftige Debatte
über das Thema. Die Konditionierung bot zwar einerseits die Chance,
die Menschenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit stärker zur
Geltung zu bringen, doch wurden bei ihrer Anwendung rasch „doppelte Standards“ offensichtlich, etwa in Bezug auf Länder wie China, Indonesien, dem Iran oder der Türkei, deren Menschenrechtsprofil alles
andere als gut war (und ist). Der Glaubwürdigkeit dieses Instruments
waren solche „Doppelstandards“ in hohem Maße abträglich. Zudem
wurde die Effektivität der politischen Konditionierung in Frage gestellt. Die Erfahrungen etwa in Afrika waren durchaus ambivalent.
Ohnehin hatte sich schon früh die Erkenntnis durchgesetzt, dass positive Maßnahmen und Anreize der Förderung der Menschenrechte Vorrang haben vor Sanktionen, die nur als letztes Mittel gelten können.
So liegt der eindeutige Schwerpunkt der staatlichen und der nichtstaatlichen menschenrechtsbezogenen Entwicklungszusammenarbeit
auf der Unterstützung konkreter Menschenrechtsprojekte und –
programme, die auf eine langfristige Stärkung der Menschenrechte in
den jeweiligen Empfängerländern abzielen. Dabei hat die Bereitschaft
zugenommen, die Menschenrechte auch in allgemeinen Entwicklungsprojekten und -programmen zu berücksichtigen. Dies gilt gerade
auch für die Förderung von Frauen, Kindern, indigenen Gruppen und
Behinderten. Einige Länder und Organisationen haben hier ein mehr
oder minder explizites mainstreaming entwickelt, demgemäß men-
168
Michael Krennerich
schenrechtliche Aspekte auch bei allgemeinen Entwicklungsprojekten
zu prüfen sind.
„Radikalisiert“ wird ein solches mainstreaming in Form des so genannten human rights approach – auf Deutsch: Menschenrechtsansatz
– in der Entwicklungszusammenarbeit, der seit Ende der 90er Jahre
heftig diskutiert wird. Der Ansatz erhebt die Menschenrechte, je nach
Sichtweise, zu einem vornehmlichen oder gar zum zentralen Referenzrahmen der Entwicklungszusammenarbeit und legt großes Gewicht
auf empowerment und Partizipation gerade der benachteiligten und in
ihren Rechten verletzten Menschen. Die Entwicklungspolitik soll
demnach konsequent auf die Umsetzung von Menschenrechten abzielen und die Menschen befähigen, ihre Rechte selbständig einzufordern
und Entscheidungsprozesse aktiv mitzugestalten. Aus Bittstellern sollen Träger einforderbarer Rechte werden. Gleichzeitig werden die
Pflichtenträger (Staaten, internationale Gemeinschaft etc.) angehalten
und in ihrem Bemühen unterstützt, ihren Verpflichtungen, die sich aus
den international verbrieften Menschenrechten ergeben, nachzukommen. Allerdings wird das Konzept des human rights approach nicht
einheitlich verwandt; es gibt Unterschiede hinsichtlich der Reichweite
und der konkreten Ausgestaltung des Ansatzes. Zudem sind die praktischen Erfahrungen noch vergleichsweise dünn gesät.
Immerhin aber haben etliche UN-Organisationen diesen Ansatz aufgegriffen und die Menschenrechte in die Arbeit ihrer Entwicklungsorganisationen gewissermaßen horizontal eingezogen. Zu nennen sind
hier etwa das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF), dessen Arbeit sich
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
169
mittlerweile konsequent an den Menschenrechten ausrichtet, und das
UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), das seit 1999 gemeinsam mit
dem Hochkommisar für Menschenrechte (Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR) ein gemeinsames Projekt mit dem
Namen HURIST (Human Rights Strengthening) durchführt, um den
Menschenrechtsansatz in der Arbeit des UNDP konkret umzusetzen
(vgl. Hamm 2003). Um die Anwendung eines Menschenrechtsansatzes auf UN-Ebene zu vereinheitlichen, wurde inzwischen ein gemeinsames Mindestverständnis über einen solchen Ansatz erarbeitet, das in
dem UN-Papier „The Human Rights Based Approach to Development
Cooperation – Towards a Common Understanding Among UN Agencies“ zum Ausdruck kommt.
Zudem haben auch einige Geberländer – wie Schweden, Großbritannien und jüngst auch Neuseeland – Schritte hin zur Einführung eines
expliziten Menschenrechtsansatzes in die Entwicklungspolitik unternommen. Andere Staaten prüfen zumindest, inwieweit die Menschenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit gestärkt werden können.
Insgesamt ist das Bewusstsein und die Bereitschaft dafür gestiegen,
die Menschenrechte umfassender und systematischer in der Entwicklungszusammenarbeit zur Geltung zu bringen.
Dies gilt auch für Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat das
Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in den Jahren
2002/2003 sogar ein Beratungsvorhaben unter dem Titel „Menschenrechtsansatz für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit“ durchge-
170
Michael Krennerich
führt, in dem geprüft wurde, wie die Menschenrechte entwicklungspolitisch besser berücksichtigt werden können. Die vorläufigen Ergebnisse des DIE-Gutachtens wurden bei einer internationalen Tagung
„Human Rights in Developing Countries“3 vor kurzem vorgestellt. Der
deutschen EZ wurde hierbei allerdings nicht empfohlen, einen strikten
Menschenrechtsansatz einzuführen, der die Verwirklichung der Menschenrechte als zentrales Ziel und Mittel der Entwicklungszusammenarbeit vorsehe. Die Projektverantwortliche des DIE, Hildegard
Lingnau, plädierte stattdessen dafür, die Menschenrechte als entwicklungspolitische Querschnittsaufgabe zu verankern und einen undogmatischen und inkrementell umzusetzenden Menschenrechtsansatz
anzunehmen, der die Verwirklichung der Menschenrechte als komplementäre entwicklungspolitische Aufgabe erachte. Auch von einem
strikten mainstreaming wurde abgeraten, da entsprechende Erfahrungen in anderen Bereichen eher schlecht seien (hoher bürokratischer
Aufwand, wenig Effizienz, teilweise kontraproduktiv). Die Empfehlungen des DIE umfassten u.a. ein unbürokratisches human rights impact assessment, die menschenrechtliche Fokussierung von Länderkonzepten, Sektorkonzepten und Sektorstrategiepapieren im BMZ,
spezifische Fördermaßnahmen gerade im WSK-Bereich und ein stärkeres Agieren vor Ort. Im Sinne einer größeren Kohärenz wurde auch
die Entwicklung eines Nationalen Menschenrechtsaktionsplanes angeraten. Ob und inwiefern das BMZ allerdings entsprechende Empfehlungen aufgreift, bleibt abzuwarten.
3
Die internationale Tagung wurde von dem Entwicklungspolitischen Forum von
InWEnt (Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH) und dem BMZ
in Zusammenarbeit mit dem DIE am 29.-30. September 2003 in Köln veranstaltet
(siehe www.inwent.org). Siehe auch den Veranstaltungsband: InWEnt 2003.
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
171
4. Menschenrechtspolitik ist universell
Abschließend sei hervorgehoben, dass der politische Charakter der
Entwicklungszusammenarbeit durch die Menschenrechtsförderung
zugenommen hat. Die rechtliche Stellung benachteiligter Menschen
wird betont und die Staaten (oder auch internationale Organisationen
und Konzerne) im Norden wie im Süden werden in die Pflicht genommen, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Menschenrechtsförderung in der Entwicklungszusammenarbeit ist daher zwangsläufig politisch.
Der politische Impuls wirkt auch auf die Geberländer zurück. In
Deutschland beispielsweise begleiten etliche nicht-staatliche Organisationen mit einer aktiven Kampagnen- und Lobbyarbeit kritisch die
deutsche Menschenrechtspolitik. Dabei hat sich längst die Auffassung
durchgesetzt, dass Menschenrechtsförderung in der Entwicklungszusammenarbeit nicht losgelöst werden kann von anderen politischen
Problemfeldern, die sich auf die Menschenrechtslage in Entwicklungsländern auswirken. Für die deutsche Politik heißt das, dass die entwicklungspolitische Menschenrechtsförderung im Zusammenhang u.
a. mit deutscher Außenpolitik, Finanzpolitik, Handelspolitik und Agrarpolitik sowie mit Aspekten der Kreditvergabe und Schuldenpolitik
zu sehen ist (Stichwort: Kohärenz-Problem). Zudem wird die Rolle
Deutschlands in internationalen Organisationen unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten kritisch „unter die Lupe genommen“. Ein
wichtiger Schritt in diese Richtung war der „Parallelbericht Menschenrechte“ von Brot für die Welt, dem Evangelischen Entwick-
172
Michael Krennerich
lungsdienst und FIAN International. Der Bericht empfiehlt dem UNAusschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die deutsche Regierung zu bitten, künftig ihren Staatenbericht an den UNAusschuss thematisch auszuweiten. Berichtet werden soll auch darüber, welche Folgen die deutsche Finanz-, Entwicklungs-, Handelsund Agrarpolitik gegenüber schutzlosen Menschen in anderen Ländern hat und wie sich die Rolle Deutschlands in internationalen Organisationen in Bezug auf seine Menschenrechtsverpflichtungen darstellt.
Kurzum: Die Menschenrechte sind universell, die Menschenrechtspolitik ist oder sollte es zumindest auch sein.
Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
173
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