Professur für Allgemeine Psychologie Vorlesung im WS 2011/12 Motivation, Volition, Handeln Kognitive Ansätze: Erwartung-Wert-Theorien Prof. Dr. Thomas Goschke 1 Überblick und Lernziele 3 Kognitive Ansätze in der Motivationsforschung Erwartung-Wert-Theorien Motive Leistungsmotivation Risikowahl-Modell von Atkinson Empirische Befunde zum Risikowahl-Modell Kausalattributionen und Selbstbewertung Literaturempfehlungen Rudolph, U. (2003). Motivationspsychologie. Beltz PVU. (Kap. 5 + 6) Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (2010). Motivation und Handeln (4. Aufl.). Berlin: Springer. (Kapitel 5 + 6). 4 Ebenen der Verhaltenssteuerung Reflexe und Instinkte Angeborene Reaktionsprogramme, die in fixer Weise durch spezifische Reizbedingungen ausgelöst werden Bedürfnismodulation Modulation von Reaktionsdispositionen durch aktuell angeregte Bedürfnisse / Triebzustände Assoziatives Lernen Erfahrungsabhängige Bildung/Veränderung von Assoziationen zwischen Reizen, Reaktionen und deren Konsequenzen Intentionale Handlungen Motivation durch Erwartungen (antizipierte Konsequenzen) und Anreize (Bewertung der Konsequenzen) des Verhaltens; Zielgerichtetes Handeln Volitionale Selbstregulation Antizipation zukünftiger Bedürfnisse Metakognitive Strategien der Selbstkontrolle; Unterdrückung konkurrierender Motivationstendenzen oder Gewohnheiten zugunsten langfristiger Ziele 5 Willenspsych. Assoziationismus Kognitive u. Persönlichkeitspsychol. Ansätze James 1890 Freud 1900, 1915 Lewin 1926, 1935 Thorndike 1898, 1911 Pawlow 1909/1927 Tolman, 1932, 1952 Duffy 1932, 1962 Hull 1943, 1952 Murray 1938 McClelland 1953, 1961 8 Heider 1958 Heckhausen 1967, 1980 Weiner 1972 Lorenz 1937, 1943 Hebb 1949, 1953 Bindra 1959 Mowrer 1950, 1960 Atkinson 1957, 1970 McDougall 1908 Skinner 1938, 1953 Spence 1956, 1960 Kuhl, 1983, 1994 Instinkttheoret. Darwin 1859 Wundt 1874, 1896 Ach 1910 Aktivationstheoret. Miller 1948, 1959 Berlyne 1960, 1967 Sokolov 1958 Tinbergen 1951 Eysenck 1967 Gollwitzer 1990 Kognitive Ansätze Volitionstheorien Moderne Lerntheorien Psychophysiologie Biopsychologie Moderne Evolutionsps. Die „kognitive Wende“ in der Motivationspsychologie 40er- 50er Jahre • • Hull: Fokus auf Trieb und Gewohnheit Vorläufer kognitiver Ansätze: - 50er Jahre • • • • 12 Hull/Spence: Anreize Spence: fragmentarische antizipatorische Zielreaktion Tolman: Erwartung (exepectancy) Mowrer: Erwartungsemotionen Bolles: Erwartungen über Reaktions-Folge-Kontingenzen • wachsende Unzufriedenheit mit Beschränkungen (neo)behavioristischer Ansätze Entstehung der Kognitiven Psychologie (z.B. Neisser,1967) Fokus auf mentale Repräsentationen und nicht direkt beobachtbare Prozesse der Informationsverarbeitung Erwartungen, Bewertungen und Ziele als motivierende Faktoren Wichtigster theoretischer Ansatz: Erwartung-Wert-Theorien Merkmale zielgerichteter Handlungen Handlungs-Effekt-Antizipationen und Zielrepräsentationen • • Affekt-Antizipation und Bewertung von Zielen • • 14 Antizipation von Handlungseffekten und alternativen Zielen Subjektive Einschätzungen der Erreichbarkeit von Zielen Antizipation der affektiven Konsequenzen von Zielzuständen Bewertung der Attraktivität von Zielen Intentionale Handlungssteuerung Effekt-Antizipation und Zielrepräsentationen Repräsentation erwarteter Handlungseffekte Aktionx Effektx Aktiony Effekty Aktionz Effektz Bildung von Zielen / Auswahl von Handlungen aufgrund von Bewertungen antizipierter Effekte Effektx Aktionx Reaktionen Reize Sensoren 16 Erlernte Assoziationen Effektoren (Lotze, 1852; James, 1890; Prinz, 1998; Goschke, 2004; Haggard, 2005; Hommel, 2001) Arten von Erwartungen S S Situation E H H Handlung TätigkeitsspezifischeVollzugsanreize E E Ergebnis F Folgen Anreize künftiger Zustände 17 Nach Heckhausen, 1989; Rheinberg, 1997 Verschiedene Erwartungen: Beispiele Situations-Ergebnis-Erwartung • Welches Ergebnis ist zu erwarten, wenn ich nicht handle? - Wie wahrscheinlich ist es, eine Prüfung zu schaffen, ohne sich darauf vorzubereiten? Situations-Handlungs-Erwartung • Kann eine Handlung in einer Situation ausgeführt werden? - Habe ich bis zur Prüfung noch genügend Zeit, um mir die Literatur zu beschaffen und sie durchzuarbeiten? Handlungs-Ergebnis-Erwartung • Kann ich das Ergebnis durch eigenes Handeln beeinflussen? - Wie wahrscheinlich ist es, durch Lernen eine gute Note zu erlangen? 18 Ergebnis-Folge-Erwartung • Wird ein Handlungsergebnis auch die erwünschten Folgen nach sich ziehen? - Steigern gute Noten wirklich die Chance auf einen guten Job? Erwartungen im erweiterten kognitiven Motivationsmodell (nach Heckhausen & Rheinberg, 1980) Erscheint das Ergebnis durch die Situation bereits festgelegt? ja Tue nichts! nein Tue nichts! nein Tue nichts! nein Tue nichts! nein Kann ich das Ergebnis durch eigenes Handeln beeinflussen? ja Sind mir die möglichen Folgen des Ergebnisses wichtig genug? ja Zieht das Ergebnis auch die gewünschten Folgen nach sich? ja 19 Handeln! Anreize 20 Ziel des Verhaltens ist die Maximierung positiver und Minimierung negativer Affekte (These des Hedonismus) Motivation durch antizipierte Affekte • reale oder vorgestellte Situationen, die mit der Antizipation positiver bzw. negativer Affekten einhergehen Annäherungs- bzw. Meidungstendenzen Anreize = Aspekte einer Situation, die mit positiven oder negativen Affekten assoziiert sind und einen Motivationszustand anregen können • Angeborene Anreize: Schmerzreize, Nahrung • Erlernte Anreize: durch Assoziation mit angeborenen Anreizen • Tätigkeitszentrierte Anreize: intrinsische Motivation • Ergebniszentrierte Anreize: extrinsische Motivation Motivation = ergibt sich aus Interaktion von situativen Anreizen und personenseitigen Bedürfnissen, Motiven und Erwartungen Das Grundmodell kognitiver Motivationstheorien Person (Motive, Ziele, Erwartungen) Motivation Verhalten Situation (Anreize; Gelegenheiten) 21 Nach: Rheinberg, 1995 Überblick und Lernziele 22 Kognitive Ansätze in der Motivationsforschung Erwartung-Wert-Theorien Motive Leistungsmotivation Risikowahl-Modell von Atkinson Empirische Befunde zum Risikowahl-Modell Kausalattributionen und Selbstbewertung Historische Wurzeln von Erwartung-Wert-Theorien Blaise Pascal (1623-1662) • Ökonomische Entscheidungstheorie (von Neumann & Morgenstern, 1944); Edwards, 1962) • Rationale Entscheidungsregel: Wähle das Ziel, bei dem das Produkt von möglichem Gewinn und Gewinnwahrscheinlichkeit maximal ist Erwartung X Wert Psychologische Ansätze: Kurt Lewin (1935); Lewin, Dembo, Festinger & Sears (1944) • • • 23 Bei der Auswahl eines Ziels sollte der erwartete Wert des Handlungsziels und die Wahrscheinlichkeit, das Ziel zu erreichen, berücksichtigt werden Verhalten = Funktion von Person und Situation Motivation beruht auf Einschätzung der Valenz (Anreiz, Wert) und Erreichbarkeit (Potenz, Erfolgswahrscheinlichkeit) von Zielen Weiterentwicklungen: Feather (1959); Vroom, (1964); Atkinson (1957); Heckhausen (1963) u.a. Erwartung und Wert Erwartung (Erfolgswahrscheinlichkeit) • • Wert (Valenz) • • 24 Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, ein Ziel erreichen zu können Beruht auf Wissen über Zusammenhänge zwischen Ereignissen, Handlungen und deren Konsequenzen Subjektiver Anreiz eines Ziels Beruht auf emotionaler Bewertung eines vorgestellten Zielzustands Affekt-Antizipation Erwartung x Wert Wette 1: 12 €, wenn Sie aus 4 Karten eine bestimmte Karte ziehen Wette 2: 200 €, wenn Sie aus 36 Karten eine bestimmte Karte ziehen Für welche Alternative entscheiden Sie sich? Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit x Wert Erwarteter durchschnittlicher Gewinn Wette 1 1/4 = .25 .25 x 12 3,00 € Wette 2 1/36 = 0.0278 .0278 x 200 5,56 € 25 Erwartung x Wert Erfolgserwartung Wert/ Anreiz ExW 0,1 0,1 0,01 0,9 0,9 0,1 0,09 0,09 Motivation (ExW) 0,1 0,5 0,5 0,25 0,9 27 0,9 0,81 Wert Erwartungs-Wert-Theorien: Vier Anmerkungen Subjektive Erfolgserwartung ≠ objektive Erfolgswahrscheinlichkeit! • Subjektiver Anreiz ≠ objektiver Nutzen! • Verhalten, das einer Erwartung x Wert-Regel genügt, ist auch bei Tieren (Fische, Vögel) beobachtet worden, die vermutlich nicht über bewusste Repräsentationen von Erfolgswahrscheinlichkeiten und Anreizen verfügen Menschen weichen in ihrem Verhalten mehr oder weniger stark von einer optimalen Erwartung-Wert-Regel ab • 37 Menschen können sich im Irrtum darüber befinden, welche emotionalen Konsequenzen das Eintreten eines Ereignisses für sie haben wird Erwartungen und Werte müssen nicht immer bewusst sein! • Wahrscheinlichkeit eines Handlungsergebnisses kann falsch eingeschätzt werden Z.B. impulsives oder habituelles Verhalten Subjektive Voraussage von Ereignissen und objektive Auftretenswahrscheinlichkeit 38 Irwin, 1953 Überblick und Lernziele 43 Kognitive Ansätze in der Motivationsforschung Erwartung-Wert-Theorien Motive Risikowahl-Modell von Atkinson Empirische Befunde zum Risikowahl-Modell Kausalattributionen und Selbstbewertung Motive Wovon hängt es ab, ob eine Person ein Ziel als erstrebenswert ansieht? Warum sind bestimmte Zielzustände für manche Personen erstrebenswert, während andere diesen Zielen gleichgültig gegenüber stehen oder sie sogar zu vermeiden versuchen? Zwei Ursachen: • • 44 Intraindividuelle Schwankungen von Bedürfnissen oder Trieben Interindividuell unterschiedlich stark ausgeprägte Motive Motive 46 Murray (1938): • Bereitschaft, unter bestimmten Umständen in spezifischer Weise zu reagieren Rheinberg (2000): • Intraindividuell konstante, interindividuell variierende Personenmerkmale, die für die Bevorzugung von Anreizklassen (z.B. Macht, Leistung) verantwortlich sind und durch Anreize in einer Situation angeregt werden Heckhausen (1989): • Situationsübergreifende Disposition, Zielzustände einer bestimmten Thematik (z.B. Leistung, Macht, Anschluss) positiv oder negativ zu bewerten („Wertungsdisposition“) und bestimmte Klassen von Zielen anzustreben bzw. zu vermeiden Murray, H. A. (1938). Explorations in personality. New York: Oxford University Press. Rheinberg, F. (2002). Motivation. Stuttgart: Kohlhammer. Heckhausen, H. (1989). Motivation und Handeln (2. Aufl.). Heidelberg: Springer. Motive Motive sind Konstrukte zur Erklärung von • intraindividueller Stabilität im Verhalten: - Warum verhält sich eine Person in verschiedenen Situationen ähnlich? • interindividueller Variabilität im Verhalten - Warum verhalten sich verschiedene Personen in ähnlichen Situationen unterschiedlich (z.B. leistungs- vs. machtorientiert)? 47 Motive, Motivation und Affektantizipation Motivationszustände sind eng mit Emotionen verknüpft Emotionen signalisieren, ob Zielerreichung gefährdet ist oder man ihr näher kommt (Dörner: „Lageberichte“ über den aktuellen Motivationszustand) Motivation beruht auf antizipierten Affektveränderungen • • 48 Z.B. antizipierte Freude/Stolz beim Gedanken an einen Erfolg Z.B. antizipierte Trauer/Scham beim Gedanken an einen Misserfolg Motive beeinflussen, welche Affekte durch Ziele einer bestimmten Thematik ausgelöst werden, d.h. wie erstrebenswert ein Ziel erscheint Motive und Anreize 50 Anreize = Aspekte einer Situation, die Möglichkeiten zur Erreichung motivthematischer Ziele signalisieren anreizhaltige Situationsaspekte haben einen „Aufforderungscharakter“ (Lewin, 1926) und ziehen Aufmerksamkeit auf sich Motive werden durch (tatsächliche oder vorgestellte) Anreize angeregt Motiv als Dispositionskonstrukt Ob sich Motive im Verhalten ausdrücken, hängt davon ab • • • Wie sich Motive im Verhalten ausdrücken, hängt davon ab • • 52 ob ein Motiv durch situative Anreize angeregt wird ob die Situation Gelegenheiten zur Verfolgung motivspezifischer Ziele enthält ob das Motiv kurz zuvor bereits befriedigt wurde („Sättigung“) welche Handlungen im Verhaltensrepertoire der Person sind welche Handlungen sie als zieldienlich betrachtet Motiv vs. Motivation Motiv („trait“) • persönliche Disposition, Zielzustände einer bestimmten Thematik (z.B. Leistung, Macht, Anschluss) positiv oder negativ zu bewerten Motivation („state“) Zustand, in dem personenseitige Motive durch situative Anreize angeregt werden • Aktuelle Tendenz, ein Ziel durch eigenes Verhalten anzustreben oder zu vermeiden Ausrichtung des Denkens u. der Aufmerksamkeit auf das Ziel • 53 Das Grundmodell kognitiver Motivationstheorien Person (Motive, Erwartungen) Motivation Verhalten Situation (Anreize; Gelegenheiten) 54 Nach: Rheinberg, 1995 Klassifikation von Motiven • Ein bzw. zwei grundlegende Motive (Freud: Libido vs. Destrudo) • Viele verschiedene Motive (Cattell, McDougall, Murray) • Hierarchie von Motiven (Maslow) 56 Murrays Liste von psychogenen Bedürfnissen 57 n Abasement Erniedrigung n Achievement Leistung n Affiliation sozialer Anschluß n Aggression Aggression n Autonomy Unabhängigkeit n Counteraction Widerständigkeit n Defendance Selbstgerechtigkeit n Deference Unterwürfigkeit n Dominance Machtausübung n Exhibition Selbstdarstellung n Harmavoidance Leidvermeidung n Infavoidance Mißerfolgsmeidung n Nurturance Fürsorglichkeit n Order Ordnung n Play Spiel n Rejection Zurückweisung n Sentience Sinnhaftigkeit n Sex Sexualität n Succorance Abhängigkeit n Understanding Verstehen (Einsicht) Primäre („biologische“) vs. sekundäre („soziale“) Motive Primäre Motive • • 58 Hunger Durst Ausscheidung Konstante Körpertemperatur Sauerstoff (Atmung) Schlaf Vermeidung von Schmerz Sexualität Neugier und Exploration Sekundäre Motive Leistung Kompetenz Anschluss/ Intimität Macht Selbstachtung u.a. Auch biologische Motive sind in ihren Ausdrucksformen durch kulturelle Einflüsse und Lernerfahrungen beeinflusst Auch soziale Motive können als evolutionäre Anpassungen an grundlegende Erfordernisse des Überlebens und der Fortpflanzung betrachtet werden Die Bedürfnispyramide nach Maslow Abraham H. Maslow (1908-1970): Vertreter der humanistischen Psychologie Selbstverwirklichung Selbstachtung Soziale Bindungen Sicherheit Physiologische Bedürfnisse 59 Die Bedürfnispyramide nach Maslow Physiologische Bedürfnisse (physiological needs) : Hunger Durst Sexualität Diese Bedürfnisse dienen der Homöostase (Aufrechterhaltung des physiologischen Gleichgewichts) 60 Die Bedürfnispyramide nach Maslow Sicherheits-Bedürfnisse (safety needs): Sicherheit und Schutz vor Schmerz, Furcht, Angst und Ungeordnetheit, Bedürfnis nach schützender Abhängigkeit, nach Ordnung, Gesetzlichkeit und Verhaltensregelung 61 Die Bedürfnispyramide nach Maslow Soziale Bindungs-Bedürfnisse ( needs for belongingness and love): Bedürfnisse nach Liebe, nach Geborgenheit, nach sozialem Anschluss, nach Identifikation 62 Die Bedürfnispyramide nach Maslow Selbstachtungs-Bedürfnisse (esteem needs): Bedürfnisse nach Leistung, nach Geltung, nach Zustimmung 63 Die Bedürfnispyramide nach Maslow Selbstverwirklichungs-Bedürfnisse (self-actualization needs): Selbsterfüllung in der Realisierung der eigenen angelegten Möglichkeiten und Fähigkeiten, Bedürfnis nach Verstehen und Einsicht 64 Die Bedürfnispyramide nach Maslow Selbstverwirklichung Selbstachtung Soziale Bindungen Sicherheit Physiologische Bedürfnisse 65 1. Höhere Bedürfnisse stellen jüngere evolutionäre Entwicklungen dar. 2. Je höher Bedürfnisse sind, umso weniger wichtiger sind sie für das Überleben 3. Höhere Bedürfnisse sind für die Person weniger dringlich. 4. Auf einem höheren Bedürfnisniveau zu leben, bedeutet längeres Leben, weniger Krankheit, besseren Schlaf, usw. 5. Befriedigung höherer Bedürfnisse führt zu mehr Glück und innerem Reichtum Motive als evolutionäre Anpassungen Motive sind stammesgeschichtliche Anpassungen an grundlegende Erfordernisse des Überlebens und der Fortpflanzung • 66 Streben nach Kompetenz, positiven Beziehungen und Macht betrifft grundlegende adaptive Anforderungen an sozial organisierte Lebewesen Die psychobiologischen Systeme, die Motiven zugrunde liegen, haben vermutlich teilweise eine genetische Basis: • Grundmotive sind in vielen Kulturen vorhanden • Homologe Motivsysteme bei nichtmenschlichen Primaten Die individuelle Ausprägung und der Ausdruck von Motiven hängt von kulturellen Einflüssen und Lernerfahrungen ab • z.B. Hunger: Nahrungsvorlieben, Tischsitten etc. • z.B. individuelles Leistungsstreben in verschiedenen Kulturen Soziale Basismotive Anschlussmotiv • Machtmotiv • Bestreben, auf andere Einfluss zu nehmen und sich dadurch stark und bedeutsam zu fühlen Leistungsmotiv • 69 Bestreben, positive Beziehungen zu anderen aufzunehmen, aufrecht zu erhalten oder gestörte Beziehungen wieder herzustellen Leistungsmotiv: Bestreben, eine Sache besonders gut zu machen, etwas Anspruchsvolles zu schaffen und stolz auf das Geschaffte und die eigene Kompetenz sein zu können Definition des Leistungsmotivs 70 Leistungshandeln: Verhalten, an das ein Gütestandard angelegt wird (McClelland et al., 1953) • sachimmanent (Gelingen oder Misslingen) • autonom (Vergleich mit eigener früherer Leistung) • sozial (Vergleich mit den Leistungen anderer) Leistungsmotiv: Disposition „die eigene Tüchtigkeit in jenen Tätigkeiten zu steigern oder hoch zu halten, in denen man einen Gütemaßstab für verbindlich hält und deren Ausführung deshalb gelingen oder misslingen kann“ (Heckhausen, 1965) McClelland: LM spiegelt generalisierte Belohnungserwartung für Leistung/Erfolg bzw. generalisierte Bestrafungserwartung für Misserfolg Leistungmotiv wird durch die Antizipation von leistungsbezogenen Affekten (Stolz vs. Scham) angeregt Evolutionäre Funktion des Leistungsmotivs Lebewesen, deren körperlichen und geistigen Fähigkeiten weitgehend auf Lernprozessen beruhen, müssen Verhaltensmöglichkeit aktiv erproben, üben und verbessern • 71 Funktion des Spiels; kleinkindliche Freude am „Selber machen“, Lernen und Aufgaben meistern (Karl Bühler: „Funktionslust“) Leistungsmotiv als „hedonistisch verankerter Selbstoptimierungsmechanismus“ (Rheinberg & Fries, 2001) Natur und Kultur des Leistungsmotivs 72 Genetische Prädisposition ist plausibel • Das Bestreben, Kompetenzen zu erwerben und Dinge gut zu können brachte vermutlich einen Selektionsvorteil mit sich Aber: Individuelle Ausprägung des Leistungsmotivs hängt von Sozialisationsbedingungen ab • Z.B. Förderung der Selbständigkeit des Kindes Ausprägung und Ausdrucksformen des Leistungsmotivs variieren je nach Normen, Werte, Erziehungspraktiken einer Kultur Individuelles Leistungsmotiv = Ergebnis der Interaktion von Natur und Kultur! Wie kann man Motive messen? Gefahr zirkulärer Definitionen: • • Motive müssen unabhängig vom zu erklärenden Verhalten gemessen werden • • Motiv-Fragebögen projektive Verfahren (z.B. Thematischer Apperzeptionstest (TAT); Murray (1938) Idee projektiver Tests: • • 74 Leistungshandeln als Indikator für Leistungsmotiv Leistungsmotiv als Erklärung für Leistungshandeln Motive drücken sich im Verhalten aus, ohne dass Person befragt werden muss Motive manifestieren sich in Fantasievorstellungen („Projektionen“), die Probanden in mehrdeutigen Situationen produzieren Thematischer Apperzeptionstest (TAT) 75 Ein Bild aus dem TAT von Heckhausen (1963) zur Erfassung des Leistungsmotivs Probanden sollen zu mehrdeutigen Bild eine Geschichte aufschreiben und folgende Punkte berücksichtigen: • • • • Was geschieht hier? Wer sind die Personen? Was denken, fühlen und wollen die beteiligten Personen? Wie es zu der Situation gekommen? Wie wird die Situation weitergehen? Cover-Story: Es gehe um Untersuchung von Fantasie und Vorstellungsfähigkeit Inhaltsanalytische Auswertung (Häufigkeit von motivspezifischen Inhalten) Murray (1938): „Eine Person sagt bei der Interpretation einer mehrdeutigen Situation 76 gewöhnlich ebenso viel über ihre eigene Persönlichkeit aus wie über das Ereignis“ TAT und Leistungsmotiv McClelland, Atkinson, Clark & Lowell (1953) • • Zwei Komponenten des Leistungsmotiv • • 77 Entwicklung eines standardisierten Auswertungsverfahrens für TAT-Geschichten Inhaltsanalyse: Auszählung von leistungsthematischen Inhalten Hoffnung auf Erfolg: Neigung, Stolz über erbrachte Leistungen zu empfinden (Annäherungskomponente) Furcht vor Misserfolg: Neigung, Scham bei Mißerfolg zu empfinden (Meidenkomponente) Inhaltskategorien: „Hoffnung auf Erfolg“ Bedürfnis nach Leistung und Erfolg (B) • Instrumentelle Tätigkeit zur Zielerreichung (I) • z.B. „Die Hausaufgabe macht ihm Spaß.“ Erfolgsthema (Th) • 78 z.B. „Der Meister klopft ihm anerkennend auf die Schulter.“ Positiver Gefühlszustand (G+) • z.B. „Er ist sicher, dass seine Arbeit ein Erfolg wird.“ Lob infolge guter Leistung (L) • z.B. „Der Schüler denkt konzentriert über die Aufgabe nach.“ Erfolgserwartung (E) • z.B. „Er will einen neuen Apparat konstruieren.“ überwiegend erfolgsgerichteter Inhalt der Geschichte Inhaltskategorien: „Furcht vor Misserfolg“ Bedürfnis nach Misserfolgsmeidung (Bm) • Instrumentelle Tätigkeit zur Vermeidung eines Misserfolgs (Im) • 79 z.B. „ Dass mir auch dieser Fehler passieren musste.“ Misserfolg (M) • z.B. „ Um die Prüfung zu bestehen, musst Du Dich mehr anstrengen.“ Negative Gefühle (G-) • z.B. „Wenn es diesmal nicht gelingt, bin ich blamiert“ Kritik und Tadel (T) • z.B. „Der Schüler versteckt sich, um nicht aufgerufen zu werden.“ Misserfolgsungewissheit oder Erfolgsgewissheit (Em) • z.B. „Er hofft, dass der Meister von dem Fehler nichts merkt.“ z.B. „Der Lehrling hat das Werkstück verdorben.“ Misserfolgsthema (Thm) • überwiegend misserfolgsgetönter Inhalt der Geschichte Beispiele für TAT-Geschichten Anschluss-Intimität Die beiden Frauen sind nicht nur Kommilitonen, sie sind auch schon seit Jahren die besten Freundinnen. Sie kennen sich schon seit der Grundschule, wo sie immer alles zusammen gemacht haben. Eine der beiden ist mit ihren Eltern weggezogen, und so verloren sie sich für lange Jahre aus den Augen, worüber beide traurig waren. Der Zufall wollte es, dass sie in derselben Stadt ein Chemiestudium aufnahmen. Als sie sich in der ersten Vorlesung wiedersahen, waren sie überrascht und glücklich. 80 Macht Anna verspürte ein Grollen im Bauch. Nun ist sie doch dieser alten Schachtel ausgeliefert und muss sich von ihr prüfen lassen. Sie weiß, dass Dr. Müller sie hasst und genüsslich durchfallen lassen wird. Es ist ja auch kein Wunder. Anna hat seit Monaten eine Affäre mit dem Ehemann von Dr. Müller – ein berühmter Fernsehstar – aber nicht aus Liebe, sondern um der miesen Kröte eins auszuwischen. Anna ahnt nicht, dass Dr. Müller längst dahinter gekommen ist und schon an dem Gift arbeitet, dass Anna umbringen wird. Leistung Dr. Maertens und ihre Assistentin überprüfen noch einmal ihre Ergebnisse, dann sind sie sich sicher: Das jahrelange Arbeiten hat sich gelohnt. Als erste haben sie einen Impfstoff gegen AIDS synthetisieren können. Die vielen Entbehrungen und die Rückschläge, die sie in Kauf nehmen mussten, verlieren jetzt ihre Bedeutung. Wichtig ist nur, dass sie es geschafft haben. Sie sind Stolz auf ihre Leistung Messung des Leistungsmotivs 81 Validierung des TAT • Probanden bearbeiteten den TAT in entspannter Atmosphäre oder nach Anregung des Leistungsmotivs (z.B. durch oder Misserfolgs-Rückmeldung in einer Aufgabe) Nach Anregung des Leistungsmotivs produzierten Probanden mehr leistungsbezogene Inhalte: • Bedürfnis, ein Leistungsziel zu erreichen • Erfolgs-/Misserfolgserwartungen • Positive oder negative Gefühlszustände • Instrumentelle Aktivitäten zur Zielerreichung • Hindernisse auf dem Weg zum Ziel • Hilfreiche Unterstützung Messung des Leistungsmotivs 82 Gütekriterien und Probleme des TAT Aufwand: hoch Objektivität: Übereinstimmung ist bei trainierten Auswertern zufriedenstellend (Inter-Rater-Korrelationen > .80) Split-Half-Reliabilität: Gering, da verschiedene Bilder sehr verschiedenen motivthematischen Bezug haben Re-Test-Reliabilität: Gering bis mässig (Retestintervall von 3-5 Wochen: zwischen .40 und .60) Situative Einflüsse: Instruktionsseffekte (Winter & Stewart (1977) • • • 83 Sich in ehemalige Testsituation hineinversetzen und möglichst ähnliche Geschichten schreiben: .61 Sich nicht darum kümmern, ob Geschichten ähnlich sind: .58 Möglichst neuartige Geschichten schreiben: .27 State oder trait? Validität des TAT 84 Kann von den produzierten Inhalten tatsächlich auf Motive geschlossen werden? Geringe Korrelationen mit Motiv-Fragebögen: mangelnde Validität oder Unabhängigkeit von impliziten Motiven und expliziten Zielen? Meta-Analyse zum Zusammenhang von projektiven Tests und Motiv-Fragebögen Analyse von 105 Studien zum Leistungsverhalten (Spangler, 1992) Ergebnis: Kennwerte für das Leistungsmotiv, die mittels projektiver Tests (TAT) und über Selbstbeurteilung (Fragebögen) gemessen wurden, korrelierten über Studien hinweg nur schwach (r = .09) Eine gängige Interpretation: TAT erfüllt nur unzureichende Gütekriterien für einen Motivtest • Mäßige innere Konsistenz: geringe Korrelationen der Motivwerte für verschiedene Bilder • Mäßige zeitliche Stabilität und Retest-Reliabilität • Ungeklärte Validität: Spiegeln Inhalte der Geschichten wirklich die Motive der Person? Spangler (1992). Validity of questionnaire and TAT measures of need of achievement: Two meta-analyses. Psychological Bulletin, 112, 140-154. Alternative Interpretation Alternative Interpretation der geringen Korrelation von TAT und Fragebögen (McClelland et al., 1989) • Beide Instrumente erfassen unterschiedliche Arten von Motiven • Fragebögen: "explizite" (bewusste, verbalisierbare) Ziele (motivationales Selbstbild; self-attributed motives) • TAT: "implizite" (unbewusste) Motive Semi-projektive Verfahren: Das Multi-Motiv-Gitter JA NEIN Man ist froh, den anderen getroffen zu haben Hier Einfluß haben wollen Sich hier den Erfolg zutrauen An mangelnde spezielle Fähigkeiten denken Die Macht anderer befürchten Man fürchtet, den anderen zu langweilen 88 Sokolowski, K., Schmalt, H.-D., Langens, Th. & Puca, R. M. (2000). Assessing achievement, affiliation, and power motives all at once - the Multi-Motive Grid (MMG). Journal of Personality Assessment, 74, 126-145.