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Tiefenblick, 21.06.2015
Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
MUSIK 1: Robert Lippok – close – Open Close open
ATMO 1: Klinik: Babygeschrei
Clip 1
Ensel:
Wenn wir sagen: Gebären ist vor allem ein Prozess, dann
heißt das auch, dass wir uns auf dieses Gebären in seiner
eigenen Zeit einlassen müssen, d.h. Kairos – also die
schicksalhafte Zeit, gegenüber Chronos - der Zeit nach der
Uhr.
MUSIK 2: Robert Lippok – close – Open Close open
Clip 2
Lehmann:
Also, wir haben ja im Schnitt mehr als 10 Geburten am Tag.
Clip 3
Ensel:
Die Werte aber nach denen so eine Klinik arbeiten muss, da
geht es ja nach Wirtschaftlichkeit, nach Effizienz, nach Zeit
ist Geld. Also, eine Geburt, die 24 Stunden dauert, braucht
ja unendlich viel Investition an Zeit, an Begleitung und
Betreuung. Da schneidet das Gebären sozusagen völlig
schlecht ab, wenn man das nach Effizienz und Effektivität
misst.
MUSIK 3: Robert Lippok – close – Open Close open
Clip 2
Lehmann:
Das ist unser Geburtenbuch, da wird das alles dokumentiert.
Clip 4
Duden:
Zwischen den 60er und den 70er Jahren haben die
Gebärenden ein Drittel der Zeit verloren, die sie bisher für
die Geburtsarbeit gebraucht hatten. Also es ist eine enorme
Beschleunigung gewesen, eine Vertaktung.
MUSIK 4: Robert Lippok – close – Open Close open
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2015
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht ) werden.
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Tiefenblick, 21.06.2015
Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Clip 2
Lehmann:
Aber heute Nacht da war 3:19h, 3:20h, 3:27h - so kann das
eben auch gehen dann die Geburten - dann 0:47h, 23:10h
und dann 7:30h, also die Kollegen in der Nacht hatten gut
zu tun.
MUSIK 5: John Zorn – Prelude 7: Sign and Signal – The Gnostic Peludes
ATMO 2: Herztöne im Mutterleib
ANSAGE
Am Anfang des Lebens – Technisches Wissen und Hebammenkunst
Ein Feature von Eva Schindele
ATMO 3: Rundgang durchs Geburtshaus
Clip 5
Wallheinke:
So, das ist unser Gruppenraum, wo Geburtsvorbereitung
stattfindet, Rückbildung, die Wochenendkurse, Yoga für
Schwangere und gerade im Moment auch die Osteopathie.
Sprecherin:
Anne Wallheinke gründete 2002 gemeinsam mit anderen
Hebammen das Bremer Geburtshaus.
Clip 5
Wallheinke:
Der eigentliche Geburtsraum ist hier - unser Heiligtum - ich
find ihn sehr schön, weil er einfach warme Farben hat und
kuschelig ist. Die meisten Frauen die gehen hier rum in dem
Raum oder nutzen sozusagen hier das Tuch, um sich daran
festzuhalten während der Wehen, viele hocken vor dem Bett
auch, viele knien davor. Und das ist auch nach meiner
Erfahrung, die hauptsächliche Geburtsstellung in der die
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Tiefenblick, 21.06.2015
Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Babys dann wirklich auch geboren werden, die meisten
Frauen hocken vorm Bett.
Clip 6
Ina:
Natürlich möchte ich mich sicher fühlen und das Kind soll
gut aufgehoben sein und auch medizinisch gut versorgt,
möchte ich auch nicht das da was passiert.
Sprecherin:
Ina, 34, hat vor gut zwei Jahren ihr erstes Kind im
Geburtshaus geboren. Jetzt soll auch ihr zweites dort auf die
Welt kommen. Anfangs musste sie sich deshalb Vorwürfe
aus ihrer Umgebung anhören: Mittelalterlich sei dies,
verantwortungslos und gefährlich für Mutter und Kind.
Clip 7
Ina:
Aber für mich hat es sich da richtig angefühlt, also weil ich
einfach dann doch gemerkt habe, auch in den Vorsorgen
und auch in dem Geburtsvorbereitungskurs, dass mich das
einfach sehr beruhigt, wenn ich die Menschen kenne, was
manchmal abgetan wird, als so ein bisschen PsychoBepuschelung, sag ich mal so salopp, aber dass, das eben
auch wie ein starkes Schmerzmittel ist, wenn jemand
wirklich für einen da ist und einen da wirklich 1 zu 1
durchbegleitet und die Atmosphäre stimmt.
Sprecherin:
Schwangere mit besonderen Risiken wie Diabetes, einem
Kind in Beckenendlage oder Zwillingen, werden im
Geburtshaus nicht angenommen.
Clip 8
Wallheinke:
Wir wissen ja noch so wenig, über was passiert genau beim
Gebären. Also das ist ja weit davon entfernt nur so ein
mechanistisches Geschehen zu sein.
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Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Sprecherin:
Anne Wallheinke arbeitet seit 30 Jahren in der
außerklinischen Geburtshilfe und hat rund 1.200 Geburten
begleitet.
Clip 9
Wallheinke:
Je wohler sich Frauen fühlen beim Gebären, umso besser
sind die Voraussetzungen. Das kann genauso in der Klinik
sein, wenn eine Frau sich in der Klinik richtig richtig gut
aufgehoben fühlt und sich gestützt fühlt und gut begleitet
fühlt, kann´s in der Klinik genau der richtige Ort sein. Das
Ruhe da ist, eine 1 zu 1 Betreuung, es muss die Möglichkeit
sein, ein vertrauensvolles und respektvolles Verhältnis
miteinander zu haben.
Sprecher:
1950 wurden noch die meisten Kinder zu Hause geboren.
Heute kommen 98 Prozent im Krankenhaus auf die Welt.
MUSIK 6: Tosca – Suzuki – Suzuki
ATMO 4: Im Kreißsaal: Gespräche
Sprecherin:
Kreißsaal des St. Josef Krankenhaus in Berlin – Tempelhof.
Ein ruhiger Montagvormittag nach einer turbulenten Nacht.
Mit knapp 4.000 Geburten im Jahr ist es die größte
Geburtsklinik Deutschlands.
Clip 10
Jakubek:
Wir können ja vielleicht von vorne so eine Runde machen,
es ist alles im Kreis hier. Also, wenn die Frauen ankommen,
dann werden sie erstmal, das ist unsere magische Tür, so
wie ich sie immer nenne. Dann klingeln sie erstmal da vorne
und werden von einer unserer Hebammen hereingelassen.
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Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Dann wird gefragt was sie haben – Wehen, Blasensprung,
Blutung. Hier ist ein Untersuchungsraum hinter ihnen von
den Hebammen, da werden die Frauen untersucht um zu
gucken wie weit der Muttermund ist, ob er weit genug ist,
weil wir eben versuchen, die Frauen so spät wie möglich in
den Kreissaal zu legen, damit sie das Gefühl haben, dass die
Geburt eben viel schneller vorangeht, als wenn sie ganz früh
in den Kreißsaal gelegt werden, haben sie das Gefühl sie
haben 20 Stunden Wehen gehabt und deswegen die
magische Tür, weil ich sag immer wenn die Frauen hier
einmal durch die Tür kommen, dann haben sie es geschafft.
Clip 11
Abou-Dakn:
Wir Ärzte werden in unserer Ausbildung darauf trainiert
pathologisch zu denken, wir gucken immer auf das Kranke,
vermuten das was Böses passiert, überlegen vorher "wie
kann man das vermeiden", also die Pathologie steht im
Vordergrund.
Sprecherin:
Das St. Joseph-Krankenhaus wurde von der WHO als
besonders baby- und familienfreundlich ausgezeichnet.
Darauf ist Chefarzt Michael Abou-Dakn besonders stolz.
Clip 12
Abou-Dakn:
Hebammen haben in ihrer Ausbildung tradiert eher eine
salutogenetische Denkweise, sie gucken primär auf die
Ressourcen, die da sind und schauen was sie an positiven
Effekten der gesundheitsfördernd. Das macht natürlich
allein aufgrund der verschiedenen Ausbildung primär schon
mal einen Konflikt, weil der Eine sagt dann immer "das ist
aber doch schon", die andere sagt "nein, das ist noch nicht".
Sprecherin:
Der Konflikt zwischen Hebammen und Ärzten ist der
Konflikt zwischen verschiedenen Wissensformen und
Jahrhunderte alt: der Natur vertrauen und abwarten oder den
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Geburtsverlauf standardisieren und vorbeugend eingreifen,
um mögliche Komplikationen zu verhindern. Den
Geburtsprozess medizinisch „optimieren“ zu wollen, wurde
erst mit der Technisierung der Geburtshilfe in den 1960er
Jahren modern.
Clip 13
Ensel:
Wir sehen, dass diese Normierungen immer enger werden.
Wie lange darf eine Frau Wehen haben? Wie lang darf sie
eine Pause haben. Während es früher vielleicht eine Geburt
durchaus über 24 Stunden sich abspielen durfte, gibt es
heute sehr oft die Situation, dass man denkt, man muss
eingreifen, auch wenn es keinen Grund dafür gibt.
ATMO 5: Im Kreißsaal: Flur
Sprecherin:
Angelica Ensel ist Hebamme und Ethnologin.
Wer definiert, wann eine Geburt nicht mehr normal verläuft.
Wann Wehen fördernde Mittel gegeben, ein Dammschnitt
gesetzt oder das Kind mit der Zange oder Saugglocke geholt
wird und wann ein Kaiserschnitt gemacht werden muss?
Clip 14
Abou-Dakn:
Die andere Situation ist natürlich die Machtstruktur im
Kreißsaal, weil wir ja klar definiert haben, dass unsere
Hebammen die physiologische Geburt primär leiten und wir
die pathologische als Ärztinnen und Ärzte. Und das
sozusagen sich abzulösen und zu sagen "entschuldige bitte
das ist jetzt aber nicht mehr normal“ kann durchaus zu
Konflikten führen.
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Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Clip 15
Hellmers:
In der Klinikgeburtshilfe ist es sehr häufig so, dass die Ärzte
dann in regelmäßigen Abständen dazu kommen, aber nur
einen Ausschnitt der Geburt sehen. Also die sind dann für
bestimmte Zeiten dabei, für ein paar Minuten vielleicht auch
im Kreißsaal aber die Hebamme betreut diese Frau in
größerer Kontinuität und sie ist viel näher dran, weil das ihr
Aufgabenbereich ist.
Sprecherin:
Claudia Hellmers lehrt Hebammenwissenschaften an der
Hochschule Osnabrück.
Clip 16
Hellmers:
Und ich glaube, dass sie damit eben besonders gut gerüstet
ist auch kleine Abweichungen mit zu kriegen und das
gelingt einem weniger gut, wenn man immer mal nur
reinkommt, vielleicht ist das auch einer der Gründe warum
so viele Interventionen durch die Medizin stattfinden, weil
dieser Verlauf im Ganzen kaum noch betrachtet wird.
Sprecher:
2013 wurden in Deutschland 680.000 Kinder geboren. Bei
den meisten wurde medikamentös oder technisch
eingegriffen. 22 von 100 Geburten werden eingeleitet, etwa
2 von 3 Frauen bekommen eine Narkose, häufig eine
Regionalanästhesie, auch PDA genannt, jede vierte Frau hat
einen Dammschnitt. Bei 7 von 100 Frauen wird das Kind
mit Zange oder Saugglocke geholt. Fast jede dritte Geburt
endet mit Kaiserschnitt.
Clip 17
Ensel:
Die Gefahr ist eben, wenn wir eingreifen, dass ein Eingriff
den nächsten befördert. Das heißt, wenn wir die Wehen
fördern, weil wir sagen: Die Wehen reichen nicht und das
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Tiefenblick, 21.06.2015
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Kind soll jetzt mal endlich kommen, dann ist es sehr
wahrscheinlich, dass diese Wehen dann vielleicht so stark
sind, dass die Frau dann das nicht mehr aus eigener Kraft
ertragen kann und eine Rückenmarksanästhesie- eine PDA bekommen muss. Und das wiederum aber die Wehen jetzt
hemmt. Weshalb wir noch mehr die Wehen befördern
müssen und das insgesamt die Chance auf eine
Spontangeburt reduziert.
Sprecherin:
In den 1950er Jahren kam die Klinikgeburt in Mode. Sie
galt als hygienischer, sicherer, rationeller. Damit änderte
sich auch der Umgang mit den Gebärenden und mit den
Neugeborenen.
Clip 20
Schwarz:
Dazu gehört zum Beispiel eine generelle Rasur, Einlauf,
Dammschnitt.
Sprecherin:
Christiane Schwarz ist Gesundheitswissenschaftlerin und
Hebamme.
Clip 20
Schwarz:
Dazu gehört auch das Wegnehmen von Kindern, das
schnelle Durchtrennen von Nabelschnüren, das Füttern von
Kindern mit Kunstmilch und damit die Unterdrückung der
Muttermilch und verschiedene andere Interventionen.
Sprecherin:
Die Geburt wurde standardisiert. Der amerikanische
Gynäkologe Friedman erfand 1955 die nach ihm benannte
Friedman-Kurve, die festlegt, in welchem Tempo die Geburt
voranschreiten muss.
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Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Sprecher:
Muttermundöffnung im Stundentakt. Jede Stunde ein
Zentimeter, sonst gilt die Geburt als pathologisch.
Sprecherin:
Bis heute gilt das Modell weltweit als Richtschnur.
Clip 21
Duden:
Das Entwickeln eines Modells, in dem die Geburt geplant
werden kann wie die Produktion von Automobilen.
Sprecherin:
Barbara Duden ist Medizinhistorikerin und Pionierin der
Geschichte des Körpers.
Clip 21
Duden:
Durchgetaktet, Beschleunigung, Eingriffe, Interventionen
und dann wissen wir ja, dass diese weitere Interventionen
nach sich zieht, weil die arme Natur ganz
durcheinanderkommt und die Frauen ihre Kinder nicht mehr
in Ruhe auf die Welt bringen können.
MUSIK 7: John Zorn - The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes
ATMO 6: Geburtshaus – Rundgang: Wallheinke: Jetzt sind wir im Badezimmer
[…]
Clip 22
Wallheinke:
Das ist so ein Kriterium was so die Frauen ein Stück weit an
uns herangetragen haben. So, ich möchte gerne ins
Geburtshaus, weil das hier ist der Ort, hier kann ich gelassen
mein Baby kriegen. Das kann ja eine enorm innere
Sicherheit geben, weil wir wissen ja selber: es läuft so viel
über die Psyche.
Sprecherin:
Als Anne Wallheinke Anfang der 1980er Jahre von der
Klinik in die Freiberuflichkeit wechselte, wussten in
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Wissen und Hebammenkunst
Deutschland nur noch wenige Hebammen, wie man
Geburten zu Hause begleitet. Anders in den Niederlanden,
dort wurde zur gleichen Zeit noch die Hälfte aller Kinder zu
Hause geboren.
Clip 23
Wallheinke:
Ja, ich war auch noch für sieben Monate in Holland, um
einfach so ein Gefühl auch für die außerklinische
Geburtshilfe zu kriegen, weil in Holland damals die
Hausgeburtshilfe einfach an der Tagesordnung stand.
Sprecherin:
Die Schwangerenvorsorge liegt dort bis heute in
Hebammenhänden. In Deutschland dagegen attackierten vor
allem Gynäkologen die Hausgeburtshilfe als zu gefährlich.
Ein Streit, der bis heute anhält.
Sprecher:
Studien zeigen, dass Gebären zu Hause oder im Geburtshaus
bei risikolosen Schwangerschaften eine gute Alternative
sein kann. Das wurde 2014 auch vom renommierten
britischen „National Institute for Health and Care
Excellence“ kurz NICE, bestätigt.
Clip 24
Schwarz:
Hier wird weltweit erstmals ganz klar ausgesprochen, die
Evidenzlage weist darauf hin, dass Hausgeburten sicher sind
und sie haben so viele Vorteile gegenüber der Klinikgeburt,
dass man mindestens den Frauen, die schon mal geboren
haben, wirklich empfehlen kann zu Hause zu bleiben.
MUSIK 8: John Zorn - The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes
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Clip 25
Ina:
Ich habe alle Vorsorgen auch bei den Hebammen machen
lassen und das waren auch einfach tolle Erfahrungen mit
Hörrohr und mit Tasten und dem Kind Hallo sagen.
Sprecherin:
Nur zum Ultraschall ging Ina in die gynäkologische Praxis.
Jetzt ist sie in der 37. Woche schwanger und hatte die
letzten zwei Wochen immer wieder Wehen.
Clip 27
Wallheinke:
Liegst du okay? So dann taste ich erstmal, wo fühle ich
denn hier den Popo, der Bauch ist aber schön weich Ina,
schön entspannt.
Clip 28
Hellmers:
Wir haben Hebammen-Handgriffe zum Beispiel, die
Leopoldschen Handgriffe, wo man genau schaut wie liegt
eigentlich das Kind, wo liegt der Rücken des Babys, hat das
Kind schon Beziehung zum Becken aufgenommen.
Clip 29
Wallheinke:
Taste mal gerade, wobei Ina jetzt ist es so, Köpfchen liegt,
hat Beziehung zum Becken, so wie es sich gehört, aber jetzt
nicht wo man sagt, oh ist das schon tief.
Clip 31
Wallheinke:
Ich denke mal, du hast einfach eine frühzeitige Senkattacke
gehabt, aber das Köpfchen ist jetzt wieder ein kleines
bisschen höher gerutscht.
Clip 30
Hellmers:
Äußere Handgriffe, die ich auch benutzen kann, um die
Bindung zwischen Mutter und Kind zu fördern.
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Clip 31
Wallheinke:
Und von daher macht es jetzt überhaupt nicht den Eindruck
als wenn es sich zu früh auf die Socken machen würde. […]
Sprecherin:
Handgriffe, die Hebammen über Jahrhunderte angewandt
haben, übernahmen akademisch gebildete Ärzte und
entwickelten sie weiter.
Die Leopold‘schen Handgriffe gehörten früher zur
Ausbildung der ärztlichen Geburtshelfer und
Geburtshelferinnen. Heute können viele nur noch den
Ultraschall bedienen und Kaiserschnitte durchführen. Wie
man ein Kind aus Beckenendlage entbindet – ein Kind, das
also statt mit dem Köpfchen mit dem Po nach unten liegt wissen die meisten Gynäkologen und Gynäkologinnen nicht
mehr.
Clip 33
Abou-Dakn:
Klassisch haben wir es ebenso gelernt, dass man, wenn das
Kind geboren wird, ein paar Handgriffe anwenden musste
um eben den Kopf schon zu entwickeln, das Kind schonend
aus dem Geburtskanal zu bekommen. Das Handwerkszeug
ist heute weg, weil durch unsinnige weltweite Studien die
normale Geburt bei Beckenendlage in Verruf geraten ist, es
sei viel zu gefährlich.
Sprecher:
Aktuelle Studien belegen, dass es nicht riskanter ist, wenn
ein Kind aus Beckenendlage natürlich entbunden wird.
Vorausgesetzt die Geburtshelfer können die Handgriffe.
Doch dieses praktische geburtshilfliche Wissen ist bereits
innerhalb weniger Jahre verloren gegangen.
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Clip 34
Abou-Dakn:
Das muss jetzt erst wieder aufgebaut werden. Wir tun das
hier in der Klinik, also meine Oberärztinnen haben alle die
Fähigkeit, Beckenendlagengeburten zu begleiten, wieder
trainiert. Wir bieten das an, wir freuen uns über jede
Beckenendlage die normal geboren wird.
MUSIK 9: Gustavo Santaolalla – Alma – Camino
Sprecherin:
Gebärräume waren bis Mitte des 18. Jahrhunderts
Frauenräume. Neben den Hebammen wurden bei Geburten
auch die Nachbarinnen und Mägde eingespannt. Ihre
Kenntnisse erwarben Hebammen in der Praxis und gaben
sie weiter - auf dem Land von Mutter zur Tochter, in den
Städten, wo Hebammen in einer Zunft organisiert waren,
von Hebamme zur Lehrtochter. Aus den wenigen von
Hebammen verfassten Schriften ist bekannt, dass es kaum
Möglichkeiten gab, bei schwierig verlaufenden Geburten
einzugreifen.
Clip 35
Duden:
Wenn die Natur der Frau, das Kind nicht auf die Welt
bringen konnte, war es eine äußerste Katastrophe, weil sie
gar nichts machen konnten und die Frau und das Kind
sterben - selten - aber es kam vor.
Sprecherin:
Im äußersten Notfall holten Hebammen die Wundärzte,
ebenso damals ein Handwerksberuf. Im 18. Jahrhundert
begann ein Machtkampf zwischen den Berufsgruppen, den
die Wundärzte und später die akademisch gebildeten Ärzte
für sich entschieden. Sie übernahmen nach und nach die
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Aufsicht über das Hebammenwesen, gründeten
Hebammenschulen und bestimmten deren
Ausbildungsinhalte. Sie eröffneten Entbindungsanstalten, in
denen verzweifelte ledige Schwangere kostenlos Kost und
Logie bekamen, wenn sie den Medizinern und Studenten als
Versuchsobjekte zur Verfügung standen.
Clip 36
Loytfed:
Mit der Entbindungslehranstalt war ein Testfeld eröffnet, an
dem medizinisch geburtshilfliches Wissen weiterentwickelt
werden konnte. Sei es die Gebärhaltung, sei es der
Geburtsmechanismus. So wurden die Frauen, die da in der
Anstalt waren, die sogenannten Hausschwangeren, zu
Testzwecken verwendet.
Sprecherin:
Christine Loytfed ist Hebamme und Medizinhistorikerin
und lehrt in Winterthur.
Eine der ersten Entbindungsanstalten wurde 1751 in
Göttingen eröffnet und ab etwa 1800 an die Universität
angegliedert. Langjähriger Direktor war Friedrich Benjamin
Osiander:
Clip 37
Loytfed:
Wenn wir uns jetzt mal die Entbindungssituation in
Göttingen anschauen. Dann war es so, dass die Hebamme
die Frau zum Gebärstuhl führen sollte. Die Hebamme war
am Kopfende der Frau positioniert. Die Medizinstudenten
am anderen Ende. Und zwischen Hebamme und Frau hing
ein grüner Vorhang und Osiander dozierte vor dem
Vorhang, was mit der Frau passieren sollte.
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Sprecherin:
Die männlichen Geburtshelfer erfanden Instrumente, wie die
Geburtszange oder entwickelten den Kaiserschnitt. Diese
Techniken helfen bei schwierigen Geburten bis heute.
Damals allerdings starben prozentual mehr Frauen in den
Entbindungsanstalten als zu Hause – oft am Kindbettfieber.
Ein Grund: die häufigen vaginalen Untersuchungen ohne
sterile Handschuhe.
Clip 38
Loytfed:
Eine Zangengeburt - Osiander hat 40 Prozent seiner
Patientinnen mit der Zange entbunden - konnte natürlich
viel besser demonstriert werden, wenn die Frau waagerecht
war als wenn sie senkrecht saß. Sie können sich das
vorstellen, dass wenn Sie auf dem Stuhl sitzen und ich hier
unter ihnen knien muss, um unter ihren Röcken Sie zu
untersuchen, dass das für die Medizinstudenten nicht so
anschaulich war als wenn Sie sich auf den Rücken legen,
der Rock hochgeschlagen war und man das Arbeitsfeld
sehen konnte.
Sprecherin:
Eine Geburtsposition die bis heute noch in vielen Kliniken
erwünscht ist. Dabei befördert eine aufrechte Haltung die
Wehentätigkeit und hilft, die Schmerzen besser zu
bewältigen.
Clip 39
Schwarz:
Die in Kliniken vorherrschende ist die Rückenlage, weil‘s
bequemer ist. Auf Küchenarbeitsflächen-Höhe sich quasi
breitbeinig vor Geburtshelfer zu legen und sich das Kind
extrahieren zu lassen. Eine sehr demütigende und
entwürdigende und auch schwächende Erfahrung für
Frauen, die eigentlich aus eigener Kraft aufrecht in ihrer
Stärke problemlos gebären könnten.
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MUSIK 10: Tosca – Suzuki – Suzuki
Clip 40
Jakubek:
Das sind unsere Kreißsäle, die sind fast alle gleich
aufgebaut, das ist ein Kreißbett, dann sind hier unser
medizinisches Equipment [...].
Sprecher:
Um 1900 starben in Deutschland 3 von 1.000 Frauen bei
oder nach der Geburt. Die Zahl stieg im und nach dem 1.
Weltkrieg auf 5 von 1.000 Frauen und sank rapide ab den
1930er Jahren. Heute sterben kaum mehr Frauen bei der
Geburt.
Clip 41
Schwarz:
Der Trend, dass weniger Frauen und weniger Kinder bei der
Geburt sterben, der ist nicht ursächlich der
Klinikgeburtshilfe zuzuordnen, sondern die deutlich
sinkende Sterblichkeit bei Müttern und Kindern hat schon
lange, lange vor der Klinikgeburtshilfe angefangen.
Sprecherin:
Gründe waren vor allem die besseren Lebensbedingungen.
Frauen bekamen nicht mehr zehn Kinder oder mehr, die
Ernährung wurde besser, ebenso die Hygiene. Es gab eine
Krankenversicherung und das Penicillin wurde erfunden.
Sprecher:
1900 hat jedes fünfte Kind nicht das erste Lebensjahr
erreicht. 1938 starben noch sechs, 1955 vier von 100
Kindern. Heute liegt die Zahl im Promillebereich, das heißt
es sterben 3 von 1000 Kindern im ersten Lebensjahr.
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MUSIK 11: Tosca – Suzuki – Suzuki
ATMO 7: Kreißsaal
Clip 42
Jakubek:
Wie Sie sehen haben wir immer die CTGs im Blick von den
ganzen Räumen, hier ist die Tafel mit den ganzen Räumen
die wir haben, wo drauf steht, welche Frau wir haben, wie
alt sie ist, das wievielte Kind sie kriegt und alles was
wichtig ist.
Sprecherin:
Die Ärztin Farnaz Jakubek deutet auf große Monitore, die
zentral die Ergebnisse der Herztonwehenschreiber – auch
CTG genannt – in den Kreißsälen aufzeichnen: Eine Kurve
für die Frequenz der kindlichen Herztöne, die andere zeigt
Wehenstärke und Puls der Gebärenden.
Clip 43
Jakubek:
Und so einen Monitor haben wir in jedem Raum, das heißt,
wenn ich im Kreißsaal 5 beschäftigt bin, dann sehe ich
trotzdem den Monitor und habe alle Frauen im Blick.
Sprecherin:
Um ein CTG schreiben zu können, bekommen Frauen einen
Gurt um den Bauch geschnallt. In vielen Kliniken ab
Geburtsbeginn. Dieses Dauer- CTG hindert Frauen am
Herumlaufen. Studien zeigen, dass es bei normal
verlaufenden Geburten mehr schadet als nutzt.
Clip 44
Schwarz:
Es erhöht die Raten an operativen Geburten, an
Kaiserschnitten und verhindert aber keine Hirnschäden.
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Am Anfang des Lebens (3/4) – Technisches
Wissen und Hebammenkunst
Also das, was wir eigentlich machen wollen mit dem CTG,
Babys retten, das funktioniert nicht, das wissen wir auch.
Clip 45
Schwarz:
In Deutschland wird bei jeder Geburt ein CTG geschrieben,
die Begründung, wir haben zu wenig Personal. Denn wenn
wir kein CTG schreiben würden, dann müssten wir für jede
Frau eine Hebamme haben und das haben wir nicht, eine
sogenannte Eins zu Eins Betreuung, also das heißt, es ist
preisgünstiger sich eine CTG Maschine hinzustellen, als
drei Hebammen anzustellen.
Clip 46
Abou-Dakn:
Also die Eins - zu - Eins Betreuung in der Geburtshilfe ist
der Schlüssel, bin ich ganz überzeugt. Es lässt sich
momentan nicht finanzieren. Also, auch in unserer Klinik
nicht.
Sprecher:
Fundierte internationale Studien mit 12.000 Frauen zeigen:
Wenn Frauen während der Geburt kontinuierlich begleitet
werden, ist die Geburt kürzer, die Frauen brauchen weniger
Schmerzmittel und die Geburt wird seltener operativ
beendet. Außerdem sind die Frauen zufriedener mit dem
Geburtsverlauf und fühlen sich wohler im Wochenbett und
mit ihrem Baby.
Clip 47
Abou-Dakn:
Mit vielen Geburten kann man eher noch mehr Personal zur
Verfügung stellen, als mit wenig Geburten, weil das
kalkuliert sich ja immer nur nach den Fällen, die man
letztendlich abrechnen kann.
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Sprecherin:
Viele kleinere geburtshilfliche Abteilungen, vor allem auf
dem Land, mussten in den letzten Jahren schließen, weil sie
pleite gingen.
Sprecher:
Jede zehnte freiberufliche Hebamme hat in den letzten fünf
Jahren die Geburtshilfe an den Nagel gehängt: Der Grund:
sie konnten die teuren Haftpflichtprämien von dem geringen
Verdienst nicht mehr bezahlen.
Clip 47
Abou-Dakn:
Eine eins –zu eins Betreuung ist heutzutage eigentlich nur
zu finanzieren, wenn eine Frau dazu zahlt und sich eine
Beleghebamme mit ins Krankenhaus nimmt.
Sprecherin:
Beleghebammen, die Frauen in die Klinik begleiten, haben
lange Wartelisten und in vielen Großstädten finden Frauen
keine Hebammen mehr, die sie und ihr Baby im Wochenbett
betreuen. Und in den Kliniken kündigen viele Hebammen,
weil sie den Arbeitsstress nicht mehr aushalten.
Clip 48
Schwarz:
Die Konsequenzen für die Geburtshilfe, wenn ich es mal
überspitzt ausdrücken soll ist, dass wir Maschinen benutzen
um Menschen zu ersetzen. Und das ist in jedem Bereich der
Medizin schlecht, aber ganz besonders schlecht ist es beim
Sterben und beim Geboren werden.
MUSIK 12: Tosca – Suzuki – Suzuki
ATMO 8: Kreißsaal: Flur
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Clip 49
Massek:
Heute zum Beispiel haben Sie gerade erwischt einen sehr
netten Tag, wo man Zeit hat für persönliche Betreuung.
Aber ist leider nicht immer so. Bei 3.600 Geburten oft viel
Action, viel Trallala, viel Hektik und oft auch Pathologie
deswegen.
Sprecherin:
Die Hebamme Irene Massek arbeitet seit 20 Jahren auf der
Geburtsstation im Berliner St. Josef-Krankenhaus.
Clip 50
Massek:
Man unterstützt ständig jemanden und das geht nicht so an
uns vorbei.
Clip 51
Ensel:
Da gibt es also eine Art von Wissen, die entsteht in diesem
Erfahrungsraum. In dieser dichten Begleitung. Es ist die
Kombination aus Wissen, aus langer Erfahrung und aus
diesem spezifischen Setting, die sich nicht ergeben kann,
wenn ich fünf Frauen gleichzeitig begleite und von einer zur
anderen springen muss.
Clip 50
Massek:
Diese Herzarbeiten und immer jemanden dabeistehen der
Schmerzen hat. Position ändern, dass die sich ein bisschen
wohler fühlen und dass die sich vor allem sicher fühlen.
Dass die keine Angst haben vor der nächsten Wehe, vor der
nächsten Zukunft die nächste Zukunft ist auch wieder die
Wehe.
Clip 52
Ensel:
Woher weiß denn die Hebamme lange bevor medizinische
Parameter das sichtbar machen, woher weiß sie, dass jetzt
doch irgendwie was nicht in Ordnung ist. Und woher weiß
sie denn in der außerklinischen Geburtshilfe, dass es jetzt
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doch gut ist in die Klinik zu gehen. Auch wenn immer noch
alles in Ordnung ist.
Clip 50
Massek:
Und in diesem Moment einfach immer wieder das Gefühl
geben, du bist gut aufgehoben, dir passiert nichts, du hast
zwar Schmerzen aber du schaffst das und du machst das gut
und noch ein Stückchen weiter.
Clip 53
Ensel:
Und ich glaube, dass Ärzte, Geburtshelfer und
Geburtshelferinnen dieses in ihrer Ausbildung auch lernen
müssen, gemeinsam mit den Hebammen.
Sprecherin:
Es gibt inzwischen Initiativen des gemeinsamen Lernens.
Dazu trägt auch die Hebammenwissenschaft bei, die sich an
einigen Hochschulen etabliert hat. In manchen Städten
schließen sich Professionelle zu „Bündnissen für natürliche
Geburt“ zusammen. Auch in der Wissenschaft gibt es ein
vorsichtiges Umdenken: Der amerikanische
Gynäkologenverband empfiehlt den Frauen wieder mehr
Zeit beim Gebären zuzugestehen und eine neue ärztliche
Leitlinie will zukünftig mehr Wert auf Information und
Begleitung der Schwangeren legen.
Clip 54
Abou- Dakn:
Wir müssen die Frauen stark machen auch ihre Wünsche zu
nennen, weil nur dann in der Natürlichkeit der Abläufe auch
die Hormone annähernd so funktionieren können, wie die
Natur sich das gedacht hat.
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Sprecherin:
Michael Abou-Dakn ist im Vorstand der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologie.
Clip 55
Abou-Dakn:
Wir brauchen Geduld, wir brauchen eine Stärkung der
Autonomie der Frauen, das ist extrem wichtig geworden,
finde ich, das haben wir völlig übersehen im Lauf der
letzten Jahrzehnte, dass wir die Frauen entmündigen, wenn
sie in den Kreißsaal hineinkommen, das sage ich bewusst
als Mann und Arzt.
MUSIK 13: John Zorn - The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes
ATMO 9: Ina zu Hause: Baby Mathilda
Sprecherin:
Vor zwei Wochen hat Ina ihr zweites Kind im Geburtshaus
geboren.
Clip 57
Ina:
Auf jeden Fall ist es sehr existenziell oder auch sehr
archaisch vielleicht könnte man auch sagen, die Kräfte die
da so walten. Das fällt aus der Realität, aus dem was wir
sonst so erleben. Bei uns war es jetzt bei beiden Geburten
so, dass das Kind erstmal auf den Bauch kam sofort und das
war sehr schön, also sehr viel Ruhe und sehr viel Zeit.
MUSIK 14: John Zorn – Prelude 7: Sign and Signature – The Gnostic Preludes
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ABSAGE
Am Anfang des Lebens – Technisches Wissen und Hebammenkunst
Ein Feature von Eva Schindele
Es sprachen: Constanze Becker und Torben Kessler.
Technische Realisation: Ilse Sieweke und Jens Peter Hamacher,
Regieassistenz: Luise Weigert,
Regie: Claudia Kattanek.
Redaktion: Dorothea Runge.
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2015.
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