A. Das Gesetzgebungsverfahren im Gutachten

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Universität Würzburg (erst. von PD Dr. Wittreck)
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WS 2007/2008
Konversatorium zum Grundkurs Öffentliches Recht I
– Staatsorganisationsrecht –
Arbeitshilfe Gesetzgebungsverfahren
A.
Das Gesetzgebungsverfahren im Gutachten
I.
Standort
Die Ordnungsmäßigkeit des Gesetzgebungsverfahrens wird im Rahmen der formellen
Verfassungsmäßigkeit als zweiter Punkt geprüft (Verfahren). Die Verfahrensvorschriften
einer Landesverfassung werden vom BVerfG hingegen grundsätzlich nicht überprüft.
Bundesvorschriften gelten auch nicht für Landesorgane.
II.
Umfang
Das Verfahren wird nur dann untersucht, wenn der Sachverhalt Anhaltspunkte für
Verfahrensmängel enthält. Wird ohne nähere Angaben nur mitgeteilt, dass ein Gesetz vom
Bundestag beschlossen worden ist (typisch bei Grundrechtsfällen), wird keinesfalls das ganze
Schema „abarbeitet“; in diesem Fall reicht: „2. Verfahren: Verfahrensmängel sind aus dem
Sachverhalt nicht ersichtlich“.
III.
Prüfungsmaßstab
Führen Sie immer das GG und die dazugehörigen Normen der GOBT an (am Rand
kommentieren!). Wichtig: Verfahrensverstöße gegen das GG führen nicht zwingend zur
Nichtigkeit eines Gesetzes, falls der Verstoß nicht ausreichend schwerwiegend ist. Verstöße
gegen die GOBT sind sogar grundsätzlich folgenlos (Argumente: GOBT ist bloßes Innenrecht
im Rang sogar unter einem formellen Gesetz [vgl. Art. 40 I 2 GG]; Rechtssicherheit:
Vorgänge im Bundestag sich nach außen nur z.T. erkennbar).
B.
Prüfungsschema
I.
Ordnungsgemäße Gesetzesinitiative (Art. 76 I GG, § 76 GOBT)
Mindestens durch 5% von derzeit 613 (§ 1 I 1 + § 6 V 2 BWahlG) gleich 31 Parlamentarier.
Bei Missachtung: Nichtigkeit des Gesetzes, falls die Vorlage eines der Berechtigten überhaupt
fehlt. Die Nichteinhaltung des § 76 GOBT ist sanktionslos.
II.
Zuleitung an Bundesrat bzw. Bundesregierung
1.
Vorlagen der Bundesregierung: Zuleitung an Bundesrat (Art. 76 II GG)
2.
Vorlagen des Bundesrates: Zuleitung an Bundesregierung (Art. 76 III GG)
Bei Missachtung: das Gesetz ist grundsätzlich rechtmäßig. Fristverstöße sind unbeachtlich
(„bloße formale Ordnungsvorschrift”). Bei Vorlagen aus der Mitte des Bundestages braucht
der Punkt nicht geprüft zu werden, sonst nur ansprechen, wenn konkrete Daten im
Sachverhalt genannt sind.
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III.
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Drei Lesungen und Beteiligung der Ausschüsse (§§ 78 ff., 54 ff. GOBT)
Bei Missachtung: das Gesetz ist grundsätzlich rechtmäßig. Lesungen daher nur dann prüfen,
wenn diese im Sachverhalt ausdrücklich angesprochen werden. Das GG fordert weder eine
bestimmte Zahl an Lesungen noch die Existenz von Ausschüssen, sondern nur einen
Beschluss (Art. 77 I 1 GG).
IV.
Ordnungsgemäßer Gesetzesbeschluss (Art. 77 I 1 GG)
1.
Beschlussfähigkeit
Bezüglich der Beschlussfähigkeit findet sich keine Regelung im GG. Zu beachten ist aber
§ 45 GOBT. Nach § 45 I GOBT setzt die Beschlussfähigkeit die Anwesenheit von mehr als
der Hälfte der Mitglieder voraus (derzeit ist dies der Fall, wenn 307 Mitglieder anwesend
sind, vgl. Art. 121 GG, §§ 1 I 1, 6 V 2 BWahlG). Gemäß § 45 II GOBT muss die
Beschlussunfähigkeit festgestellt werden.
Bei Missachtung: solange die Beschlussunfähigkeit nicht festgestellt wurde, ist ein Verstoß
gegen § 45 I GOBT unbeachtlich. Dies bedeutet, dass der Bundestag (widerlegbar) als
beschlussfähig gilt, solange ein Antrag nach § 45 II 1 GOBT nicht gestellt ist.
2.
Mehrheit
Grundsatz: einfache Mehrheit (Art. 42 II 1 GG; immer für einfache Gesetze), womit die
Abstimmungsmehrheit gemeint ist, Stimmenthaltungen werden also nicht gezählt (nur
problematisieren, wenn weniger Ja-Stimmen als Nein-Stimmen zuzüglich Enthaltungen).
Ausnahmen: „Kanzlermehrheit“ (Art. 121 GG, Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl),
derzeit 307 Abgeordnete (etwa Art. 63 II 1, 67 I 1, 68 I 1, 77 IV 1, 77 IV 2 GG);
Anwesenheitsmehrheit, z.B. gemäß §§ 80 II 1, 81 I 1 GOBT.
Daneben finden sich noch besondere Quoren, etwa 2/3 (Art. 79 II GG) oder 1/4 (Art. 44 I 1
GG) der Mitglieder.
Bei Missachtung: wenn die notwendige Mehrheit nicht erreicht wird, kommt der Beschluss
nicht wirksam zustande.
V.
Beteiligung des Bundesrates (Art. 77 II-IV GG)
1.
Einspruchs- oder Zustimmungsgesetz?
Zustimmungsgesetze (Art. 77 IIa GG) liegen vor, wenn das GG ein Gesetz ausdrücklich für
zustimmungspflichtig erklärt (Bsp.: Art. 23 I 2, 23 VII, 74 II, 84 I 6 GG). Andernfalls liegt ein
Einspruchsgesetz (Art. 77 III GG) vor.
2.
Prüfung des Zustandekommens
Ein zustimmungspflichtiges Gesetz kommt ohne Zustimmung nicht zustande (Art. 78 GG).
Auch der Ablauf der „angemessenen“ Frist i.S.d. Art. 77 IIa GG lässt das Gesetz nicht
zustande kommen.
Bei Einspruchsgesetzen kann der Einspruch durch den Bundesrat nur innerhalb der
zweiwöchigen Frist des Art. 77 III GG erfolgen, nachdem vor dem Einspruch ordnungsgemäß
innerhalb der 3-Wochen-Frist der Vermittlungsausschuss angerufen wurde (Art. 77 II, III 1
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GG). Ein ordnungsgemäßer Einspruch wird entweder vom Bundestag (mit der Folge des
Zustandekommens, Art. 78 GG) überstimmt, Art. 77 IV GG (Mehrheiten beachten) oder
verhindert das Zustandekommen des Gesetzes.
6.
Ausfertigung durch den Bundespräsidenten (Art. 82 I GG)
Bei Missachtung: die Nichtausfertigung schließt aus, dass das betreffende Gesetz in Kraft tritt.
Das Gleiche gilt für die fehlende Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder den
Bundesminister gemäß Art. 58 S. 1 GG.
C.
Formulierungshilfe
I.
Gesetzesinitiative
Es müsste zunächst eine ordnungsgemäße Gesetzesinitiative vorliegen. Gesetzesvorlagen
können nach Art. 76 I GG von der Bundesregierung, dem Bundesrat oder aus der Mitte des
Bundestages stammen. Die Bundesregierung ist folglich initiativberechtigt. Problematisch ist,
ob eine ordnungsgemäße Initiative nur von 20 Parlamentariern unterzeichnet sein kann. § 76 I
GOBT verlangt für Gesetzesvorlagen aus dem Bundestag (§ 75 GOBT) die Unterzeichnung
durch 5% der Mitglieder des Bundestages (Art. 121 GG), also 31 von derzeit 613
Abgeordneten (§§ 1 I 1, 6 V 2 BWahlG). Als Rechtssatz eigener Art im Range unter einem
Gesetz kann jedoch die GOBT die Verfassung nicht einschränken, die lediglich verlangt, dass
eine Vorlage „aus der Mitte des Bundestages“ stammt (Art. 76 I GG). Die 20 Parlamentarier
sind folglich initiativberechtigt. Eine ordnungsgemäße Gesetzesinitiative ist daher zu bejahen.
II.
Gesetzesbeschluss
Es müsste ein ordnungsgemäßer Gesetzesbeschluss nach Art. 77 I GG vorliegen. Fraglich ist
zunächst, ob der Bundestag mit 40 Abgeordneten überhaupt beschlussfähig ist. Die
Beschlussfähigkeit ist nicht im GG, sondern nur in § 45 I GOBT geregelt. Diese Norm
verlangt die Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Mitglieder (Art. 121 GG), also derzeit
307 Abgeordnete (§§ 1 I 1, 6 V 2 BWahlG). Daran fehlt es hier. Allerdings bestimmt § 45 II
GOBT, dass die Beschlussunfähigkeit festgestellt werden muss, was im vorliegenden Fall
nicht geschehen ist. Somit ist zu fragen, welche Folgen ein Verstoß gegen § 45 I GOBT
zeitigt. Nach überzeugender und ganz herrschender Ansicht kann die Norm als bloßes
Innenrecht des Bundestages (vgl. Art. 40 I 2 GG) keinen Einfluss auf die
Verfassungsmäßigkeit der vom Bundestag beschlossenen Gesetze haben. Der vorliegende
Verstoß gegen § 45 I GOBT ist daher unbeachtlich.
Problematisch ist jedoch, ob die geringe Zahl der anwesenden Abgeordneten dem Charakter
des Bundestages als Repräsentationsorgan des Gesamtvolkes (Art. 20 II 2, 38 I 2 GG) noch in
ausreichendem Maße Rechnung trägt. Aufgrund des Verfassungsprinzips der repräsentativen
Demokratie aus Art. 20 I GG könnte die Vermutung der Beschlussfähigkeit dort ihre
Schranke finden, wo gewisse Mindestzahlen anwesender Abgeordneter offensichtlich
unterschritten sind. Zwar mag es hier eine absolute Untergrenze geben, doch wird man mit
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon ausgehen dürfen, dass die
Hauptarbeit im Parlament sich zulässigerweise in die Ausschüsse verlagert hat und daher dem
Plenum nicht mehr die schlechthin zentrale Bedeutung zukommt. Die Zahl von 40
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anwesenden Parlamentariern beeinträchtigt demnach die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
nicht.1 Der Bundestag war somit beschlussfähig.
Fraglich ist weiterhin, ob der Bundestag mit Mehrheit (Art. 42 II 1 GG) beschlossen hat. Im
vorliegenden Fall haben 16 Abgeordnete mit „ja”, 14 mit „nein” gestimmt; 10 haben sich
enthalten. Fraglich ist, wie diese Enthaltungen rechtlich zu würdigen sind. Nach
überzeugender herrschender Ansicht meint „Mehrheit” in der Norm jedoch die
Abstimmungsmehrheit, nicht die Anwesenheitsmehrheit; die Enthaltungen werden also nicht
mitgezählt, so dass eine Mehrheit von 16 zu 14 Stimmen vorliegt. Für diese Sicht spricht
neben dem Wortlaut des Art. 42 II 1 GG (“Mehrheit der abgegebenen Stimmen”) der
Umstand, dass sonst einer Enthaltung ein ablehnender Aussagegehalt beigemessen wird, der
ihr gerade nicht zukommt. Die Freiheit eines Abgeordneten (Art. 38 I 2 GG) muss ihm auch
erlauben, zu einem Gesetzentwurf neutral zu bleiben. Der Beschluss ist demnach mit
Mehrheit zustande gekommen.
III.
Beteiligung des Bundesrates
Fraglich ist, ob die im Sachverhalt geschilderte Beteiligung des Bundesrates zum
Zustandekommen des Gesetzes geführt hat (Art. 78 GG).
Zunächst ist festzustellen, ob es sich bei der Neufassung des StGB um ein Einspruchs- oder
Zustimmungsgesetz handelt (Art. 77 IIa oder III GG). Es findet sich keine gesetzliche
Bestimmung, die das Zustimmungserfordernis anordnet. Es handelt sich folglich um ein
Einspruchsgesetz, so dass sich das Verfahren nach Art. 77 III GG richtet.
Im vorliegenden Fall hat der Bundesrat zwar den Vermittlungsausschuss angerufen (Art. 77
III 1, II GG), aber erst einen Monat nach Eingang der Mitteilung nach Art. 77 III 2 GG
Einspruch eingelegt. Diese Fristversäumung hat nach der ausdrücklichen Regelung des Art.
78 GG zur Folge, dass das Gesetz trotz Einspruchs zustande gekommen ist.
D.
Ergänzende Hinweise
Die vorstehenden Formulierungsbausteine können zur Anwendung kommen, wenn einzelne
der zu prüfenden Punkte im Sachverhalt auftauchen oder dort eigens problematisiert werden
(Normalfall in staatsorganisationsrechtlichen Klausuren). In diesem Fall prüft man die
erörterungsbedürftigen Punkte in der im Schema vorgegebenen Reihenfolge (entspricht der
Reihenfolge des GG). Die unproblematischen Punkte werden nicht erwähnt.
Beispiel:
Der Sachverhalt erwähnt lediglich die Gesetzesinitiative der Bundesregierung sowie ein
Abstimmungsverhältnis von 100 zu 50 bei 150 Enthaltungen. Geprüft werden allein Art. 76 I
GG sowie die Mehrheit nach Art. 42 II 1 GG. Der Rest kann etwa mit „Andere
Verfahrensfehler sind nicht ersichtlich“ abgehandelt werden.
Keinesfalls sind Art. 76 II GG, die Anzahl der Lesungen oder die Beteiligung des
Bundesrates ohne konkreten Bezug zum Fall zu diskutieren!
Problematischer ist die Konstellation, dass das komplette Verfahren bis ins Detail hinein
geschildert wird. Hier muss der Bearbeiter tatsächlich das gesamte Schema durchgehen, für
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Ausführlich zu dieser Problematik Andrick/Suerbaum, Examensfälle zum Öffentlichen Recht, 2005, S. 249 ff.
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jeden Verfahrensschritt die einschlägigen Normen benennen (an die GOBT denken!) und
zumindest kurz die Ordnungsmäßigkeit bestätigen. Dabei ist insbesondere auf fehlende
Verfahrensschritte zu achten.
Beispiel: „Die Gesetzesvorlage der Bundesregierung genügt Art. 76 I GG. Auch die Zuleitung
an den Bundesrat nach Art. 76 II 1 GG ist erfolgt. Allerdings hat die Bundesregierung die
Vorlage schon nach 10 Tagen an den Bundestag weitergeleitet und damit die
Stellungnahmefrist des Art. 76 II 2 GG nicht gewahrt. Fraglich ist, ob dieser Verstoß Folgen
hat. Nach überwiegender Ansicht gilt die Norm nur als „formale Ordnungsvorschrift“, deren
Verletzung grundsätzlich nicht sanktioniert ist. Die Nichteinhaltung der Frist ist hier ohne
Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit und Wirksamkeit des Gesetzes“.
Einfacher ist hingegen der Fall gelagert, dass lediglich ohne nähere Angaben von einem
Gesetzesbeschluss des Bundestages die Rede ist (häufig in Grundrechtsklausuren der Fall).
Hier reicht aus: „2. Verfahren: Verfahrensmängel sind aus dem Sachverhalt nicht ersichtlich“.
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