Stellungnahme des Ausschusses Berufsordnung und Berufsethik der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen zum sog. „AOK-Vertrag“ Der Ausschuss Berufsordnung/Berufsethik der PKN hat sich in seiner Sitzung am 17.05.2013 mit dem „Vertrag über das ‚AOK-Behandlungsprogramm Depression und Burn-out‘ gemäß § 73 a SGB V“, der zwischen der AOK Niedersachsen und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen geschlossen wurde, beschäftigt. Kritische Rückmeldungen von Mitgliedern der Kammern, eigene Irritationen über bestimmte Inhalte des Vertrags sowie kritische Stellungnahmen einiger Berufsverbände haben den Ausschuss dazu veranlasst. Der Ausschuss ist nach ausführlichen Beratungen einstimmig zu der Auffassung gelangt, dass bestimmte Bestandteile des genannten Vertrags als ethisch bedenklich einzustufen sind. Der Ausschuss hat insbesondere erhebliche ethische Bedenken gegen die in dem Vertrag festgelegte „Stabilisierungspauschale“. Sie besagt, dass der innerhalb dieses Vertrags behandelnde Psychotherapeut dann 50 Euro zusätzlich bekommt, wenn er die Behandlung innerhalb von maximal zehn Behandlungseinheiten (incl. der Erst- und Vorgespräche) abschließt und am Ende dieser Ultrakurzzeitbehandlung der davor wegen Depressionen krankgeschriebene Patient in den folgenden sechs Monate mit dieser Diagnose nicht erneut arbeitsunfähig sowie nicht erneut psychotherapeutisch behandelt wird. Diese, unserem Kenntnisstand nach im deutschen Gesundheitswesen einmalige, Regelung impliziert, dass ohne besondere finanzielle Anreize von den Behandlern Gesundschreibungen verzögert und Therapien unnötig in die Länge gezogen werden. Hiergegen verwahren wir uns mit Nachdruck. Psychotherapeutische Behandlungen haben als Ziel, eine möglichst nachhaltige Gesundung und, falls dies nicht zu erreichen ist, eine möglichst nachhaltige Milderung der seelischen Erkrankung mit dem dafür geringstmöglichen Aufwand zu erreichen. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ist dabei ein wichtiges Ziel, kann jedoch nicht das Primäre sein. Diese Pauschale setzt den Psychotherapeuten somit schnell dem Verdacht aus, er könnte aus pekuniären Interessen den eben genannten Grundsätzen nicht folgen und die finanziellen Interessen der Krankenversicherung einen Vorrang gegenüber dem Ziel von Gesundung und/oder Milderung der Erkrankung geben. Dies kann insbesondere das gerade in psychotherapeutischen Behandlungen fundamental notwendige Vertrauensverhältnis nachhaltig belasten. Hierbei ist auch zu bedenken, dass nach dem neuen Patientenrechtegesetz der Patient über das Existieren eines solchen finanziellen Anreizes aufgeklärt werden muss (wenn dies nicht ohnehin die zu erwartende öffentliche Diskussion vorwegnimmt). Ethische und rechtliche Bedenken äußert der Ausschuss zudem bezüglich der Kriterien, die Patienten eine Einschreibung möglich machen. So ist nicht nur die Mitgliedschaft in einer bestimmten Krankenkasse und eine bestimmte Erkrankung Voraussetzung für die Einschreibung, wie dies auch in anderen IV-Verträgen der Fall ist, sondern auch die Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer den Vertrag betreffenden Diagnosen zum Zeitpunkt der Einschreibung. Neben den rechtlichen Bedenken, ob dieses letztgenannte Kriterium einer gerichtlichen Überprüfung standhalten kann, wird mit dieser Regelung erneut das Bild vermittelt, der teilnehmende Psychotherapeut bevorzugt eine Patientengruppe deswegen, weil sie für die Krankenkasse mit einem hohen Kostenaufwand verbunden ist. Er geriet hier ein weiteres Mal in den Verdacht, im Interesse der pekuniären Interessen der Krankenkasse und nicht im Interesse des Patienten zu handeln. Nach den Erfahrungen in unseren Praxen wird ein bedeutender Teil der Patienten, die mit der Diagnose Depression eine Überweisung zum Psychotherapeuten erhalten, über die zehn Sitzungen hinaus in der Richtlinienpsychotherapie weiterbehandelt werden müssen. Hier ist offen, wie das eine Praxis gewährleisten kann, wenn gleichzeitig Behandlungsplätze zur kurzfristigen Versorgung freigehalten werden sollen. Es könnte zu einer „Verlagerung“ der Wartezeiten auf Psychotherapie von vor Beginn der Behandlung auf die Zeit zwischen der zehnstündigen Kurzintervention und der Richtlinienpsychotherapie führen. Im Weiteren äußert der Ausschuss fachliche und berufspolitische Bedenken. Der Vertrag sieht für die psychotherapeutische Behandlung keine probatorischen Sitzungen mehr vor. Dies erscheint aus zwei Gründen problematisch. Zum einen gehört eine durch den Psychotherapeuten erhobene fachlich fundierte Diagnostik mit sorgfältiger Erhebung der Anamnese und der gründlichen Abklärung evtl. Komorbidität an den Beginn einer jeden psychotherapeutischen Behandlung. Der in diesem Vertrag gesetzte Rahmen lässt es als fragwürdig erscheinen, ob dies zu gewährleisten ist. Zum anderen ist für die eingeschriebenen Patienten die mögliche Gesamtbehandlungsdauer bei Umwandlung in eine Richtlinienpsychotherapie um die Zahl der probatorischen Sitzungen reduziert, da alle Sitzungen von der ersten Stunde an in vollem Umfang auf das Kontingent der Richtlinienpsychotherapie angerechnet werden. Ein nicht unerheblicher Teil der Patienten mit Depressionen wenden sich direkt an einen niedergelassenen Psychotherapeuten. Handelt es sich um einen Psychologischen Psychotherapeuten, so kann er im Rahmen des Vertrages nicht tätig werden. Es bedarf der Überweisung durch den Haus- oder Facharzt. Es besteht kein Erstzugangsrecht mehr zum Psychologischen Psychotherapeuten. Der Ausschuss äußert Zweifel, ob es sich tatsächlich um eine an den S3-Leitlinen orientierte Behandlung handelt. In den Leitlinien ist die Psychotherapie bei leichten und mittelgradigen Depressionen als Mittel der Wahl anzusehen. In dem Vertrag ist die Überweisung an den Psychotherapeuten nur für die Patienten vorgesehen, die vom Hausarzt nicht mit ausreichendem Erfolg zu behandeln sind. Auch ist die sozialrechtliche Anerkennung der hier zum Zuge kommenden Behandlungsmethoden nicht zu erkennen. Zu den in diesem Absatz genannten Punkten hat sich der Ausschuss kein abschließendes Bild gemacht, obwohl sie als relevant eingestuft werden, da dies nicht zu seinen primären Aufgaben gehört. Bei all den genannten Zweifeln und Kritikpunkten begrüßt der Ausschuss die Ziele des Vertrags, seelisch erkrankten Menschen einen schnelleren Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen zu ermöglichen und der Koordination zwischen den Behandlern einen klaren Rahmen zu geben. Der vorrangige Handlungsbedarf wird allerdings in der Schaffung von Abrechnungsmöglichkeiten für Kriseninterventionen, der leistungsgerechten Bezahlung der notwendigen Probatorik sowie einer Bedarfsplanung, die sich am tatsächlich bestehenden Bedarf orientiert, gesehen. Für den Ausschuss entscheidend für diese kritische Stellungnahme sind die eingangs genannten ethischen und rechtlichen Zweifel an Teilen des Vertrags, die aus den dargestellten Gründen geeignet sind, das Vertrauensverhältnis zwischen Psychotherapeut und Patient zu belasten und den Psychotherapeuten als jemanden erscheinen zu lassen, der sich zum Handlanger von Sparanstrengungen der Krankenkassen macht, ja diese sogar über seine therapeutischen Ziele stellt. gez. Roman Rudyk Ausschusssprecher