Rassismus hört nicht mit dem Fremdsprachenunterricht auf

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Rassismus hört nicht mit dem Fremdsprachenunterricht auf 1
Berlin, Dezember 2015
Jule Bönkost
IDB | Institut für diskriminierungsfreie Bildung
„race [...]Volk Rasse“ 2
Alltäglicher Rassismus erscheint der weißen Mehrheit in der Gesellschaft als ‚normal‘.
In einer empirischen Studie habe ich rekonstruiert, wie sich diese Normalität des Rassismus in gegenwärtigen deutschen Englisch-Schulbüchern ausdrückt (Bönkost 2014).
Englisch-Schulbücher stellen einen von wenigen Räumen in der BRD dar, in denen das
Thema Rassismus aktuell explizit und vergleichsweise ausführlich diskutiert wird. In
meiner Analyse konnte ich nachzeichnen, wie diese Auseinandersetzung mit Rassismus
in den Lehrwerken selbst in Rassismus verwoben ist. Diese Verstrickung macht sich insbesondere an der regelhaften Verwendung des Rassebegriffes in den Unterrichtswerken
fest. In über 100 Lerneinheiten der untersuchten Bücher wird der Begriff gebraucht.3
Trotz einer begrifflichen Unschärfe und regelrechten Begriffsdiffusität in einigen Lehrwerken kennzeichnen die Thematisierungen von „Rasse“ in den Schulbüchern bestimmte
Strukturen. Zum Beispiel wird der Begriff am häufigsten mit Bezug auf die USA als
Zielsprachenland benutzt.
Die Verwendung des Rassebegriffes im Rahmen der Repräsentation der USA in den
Schulbüchern lässt vermuten, dass bei der Schulbuchproduktion Überlegungen darüber,
wie die Adressat*innen den Ausdruck interpretieren könnten, kaum bedeutungsvoll waren. Der Rassebegriff funktioniert lediglich als zuordnender Begriff und Personenbeschreibung. Kein Schulbuchtext erklärt, welche Bedeutung ihm zukommt und warum
Menschen in den USA, wie z. B. die vielfach ausdrücklich als „Rassen“ angesprochenen
Gruppen „Schwarze“ und „Weiße“, „rassisch“ kategorisiert werden. Damit rücken die
Lehrwerke die Differenz der vermeintlichen „Rassen“ selbst in den Vordergrund. Weil sie
das im Zusammenhang mit dem Rassebegriff angebotene Wissen kaum begründen und
erläutern, ist die Bedeutung des Begriffes kontextuell bestimmt.
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Der Text, hier leicht überarbeitet, erschien zuerst in VIA Magazin 1-XIV-14 (2014). Duisburg:
Verband für Interkulturelle Arbeit VIA e. V., 68-71.
2
Langenscheidt KG (Hrsg.) (2009): Langenscheidt Schulwörterbuch Englisch: Englisch – Deutsch,
Deutsch – Englisch. Berlin: Langenscheidt, 312.
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Analysiert wurden 18 Lehrwerke für den Unterricht in der Sekundarstufe II im Bundesland Bremen,
die in den führenden deutschen Schulbuchverlagen zwischen 2000 und 2010 erschienen sind.
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Ich konnte drei wiederkehrende Verwendungskontexte des Rassebegriffes in den Lehrwerken ermitteln:
1. Die erste Kontextbedeutung umfasst die Beschreibung von „Rasse“ als apolitische Kategorie, die über ihre verschiedenen Ausprägungen die US-amerikanische
Bevölkerung in mehrere quantifizierbare Kollektive teilt. Zwecks Erfassung von
Daten zur demografischen Entwicklung der USA wird auf sie zurückgegriffen.
2. In seiner zweiten Bedeutung verweist der Rassebegriff auf ein Identitätsmerkmal mit einer möglichen politischen Implikation. Hier wird rassistische Diskriminierung thematisiert. Die Texte mit diesem Bedeutungsgehalt beziehen sich nur
auf „Schwarze“ und „Weiße“, beschreiben diese als oppositionelles Paar und zeigen
Differenzen zwischen ihnen auf. Während Erstere als von rassistischer Ausgrenzung betroffen dargestellt werden, werde „weiße“ US-Amerikaner*innen in der Rolle
als nicht von Rassismus diskriminierte Menschen portraitiert. Sie werden außerhalb des Konstruktionsprozesses von Rassismus verortet, so dass die Kategorie
„weiß“ als politisch neutral beschrieben wird. Gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse bleiben unberücksichtigt.
3. Drittens weist der Ausdruck „Rasse“ eine Ähnlichkeit mit dem Ethnizitätsbegriff
auf. Hier ist die kulturelle Vielfalt der USA vordergründig, der sich die Schulbuchtexte trotz des verwendeten Rassebegriffes vor allem über einen vermeintlich
politisch neutralen Ethnizitätsbegriff annähern.
Aus den Lehrwerken heraus abgeleitet kann deshalb die Frage Was ist „Rasse“? nur bedingt für alle Schulbuchtexte gleich beantwortet werden. Immer funktioniert der Begriff
jedoch als vermeintlich natürliche Differenz- und Identitätskategorie, die die Bevölkerung
in mehrere Gruppen unterteilt. Alle drei Bedeutungsdimensionen setzen damit voraus,
dass Menschen selbstverständlich einer „Rasse“ angehören. Kein Text verweist explizit
auf den sozialen Konstruktionscharakter der Kategorie und nur aus wenigen Texten
geht diese Information implizit hervor, so dass die „rassische“ Zugehörigkeit des Individuums regelhaft als naturhaft und vom historischen Kontext losgelöst erscheint.
Die Schulbücher suggerieren somit eine Neutralität von „Rasse“, die es weder in den
USA noch in Deutschland jemals gab und die gegenwärtig nicht existiert. Die Lerneinheiten verschweigen, mit Wollrad (2005: 14) ausgedrückt, dass „seit Entstehung des
Rassismus keine ‚rassischen‘ Differenzierungen ohne Herrschaftsinteressen erfolgen“ und
dass „[w]eiße europäische Philosophen, Anthropologen nicht aus schlichter Ordnungsliebe
Kategorien zur Klassifikation der gesamten Menschheit eingeführt“ haben. „After all,
race was a white European concept created for the benefit of whites and burden of nonwhites.“ (Leonardo 2009: 124) Um die Gründe für das Zustandekommen und die umfassendere soziale Bedeutung der Deutungsmuster, die die Repräsentationen von „Rasse“
in den USA in den Lehrwerken betreffen, zu erfassen, muss gefragt werden, welche Interessen mit ihnen verfolgt werden. Wer profitiert warum und inwiefern von diesen
Lerninhalten?
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Die spezifische Verwendung des Rassebegriffes in den Schulbüchern konstituiert auf
der impliziten Bedeutungsebene eine die deutsche Gesellschaft betreffende weiße Subjektposition. Sie bezieht sich auf die Lebenswelt und Erfahrungen in einer rassistischen
Gesellschaft der Adressat*innen. Denn die Bücher bieten den Leser*innen eine Rolle als
Betrachter*innen von „Rasse“ in den USA an. Diese Rolle kann auch als Ort verstanden
werden, von dem aus „Rasse“ in den USA wahrgenommen wird. Als unhinterfragter
Blickwinkel des Sprechens über ist dieser Ort machtvoll. Denn die Beschäftigungen mit
„Rasse“ in den Schulbüchern bieten den Leser*innen machtvolle bekannte rassifizierende
Wahrnehmungsweisen an. Sie stellen als Lerninhalt die Normalität der rassistischen Ordnung der sozialen Welt bereit und machen den Adressat*innen das Angebot, ihre eigene
Identität innerhalb dieser Strukturen zu begreifen. Damit präsentieren die Bücher mit
ihrer Thematisierung von „Rasse“ in den USA ein Wissensangebot, das geltende rassistische Herrschaftsverhältnisse in Deutschland bestärkt. Sie wiegen das vorherrschende
weiße Subjekt in Sicherheit, indem sie Gewissheit über die Konstanz nationaler und internationaler von Rassismus geprägten Gesellschaftsstrukturen ermöglichen. Sie stützen
damit die Handlungsfähigkeit der Angehörigen der weißen Mehrheit in der Gesellschaft,
während sie die Möglichkeiten gesellschaftlicher (kultureller, ökonomischer, sozialer)
Teilhabe von rassistisch ausgegrenzten Personen begrenzen.
Eine rassismuskritische Gestaltung von Englisch-Schulbüchern setzt voraus, dass der
Themenstrang „race“ konsequent politisiert und nur in der Verbindung mit kritischen
Reflexionen ungleicher Machtverhältnisse und Interessenlagen im Kontext von Rassismus
angesprochen wird. Bedeutsam ist nicht primär die Auswahl der Themen, sondern
eine politische Rhetorik, die konsequent deutlich macht, dass „Rasse“ keine differenten
festgeschriebenen Identitäten vorausgehen, sondern unterschiedliche, (diskursiv) sozial
erzeugte und sich relational zueinander verhaltende Positionen der Macht mit einem
ungleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen schafft. Ein vermeintlich neutraler
und scheinbar natürlicher Rassebegriff, der auf affirmative Weise Vielfalt konnotiert, ist
konsequent zurückzuweisen. Der Rassebegriff ist grundsätzlich als heikel zu reflektieren,
weil er immer rassistische Bedeutungsinhalte transportiert. Damit würde offengelegt
werden, dass er wie in Deutschland auch in den USA problematisch ist, weil er auch hier
machtpolitisch missbraucht wird und mit ihm ein Kampf um Bedeutungen und damit
um das Leben von Individuen zentral berührende kulturelle, ökonomische und soziale
Wirklichkeiten verbunden ist.
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Literatur
Bönkost, Jule (2014): Zur Konstruktion des Rassediskurses im Englisch-Schulbuch.
INPUTS – Kritische Beiträge zum postkolonialen und transkulturellen Diskurs, Bd. 5.
Trier: WVT.
Wollrad, Eske (2005): Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf
Rassismus, Kultur und Religion. Königstein: Helmer.
Leonardo, Zeus (2009): Race, Whiteness, and Education. New York: Routledge.
Schulbücher des Untersuchungskorpus
Ashdown, Shaunessy und Marilyn Clifford-Grein (2009): Crossover. The New Edition.
Bd. 2. Berlin: Cornelsen.
Ashford, Stephanie (2009): Green Line. Oberstufe Klasse 11/12 (Ausgabe Bremen,
Hamburg, Schleswig-Holstein). Stuttgart: Klett.
Ashford, Stephanie [u. a.] (2010): Straight On Klasse 12/13. Stuttgart: Klett
Becker-Ross, Ingrid [u. a.] (2009): Context 21 Starter. Berlin: Cornelsen.
Bosenius, Petra [u. a.] (Hrsg.) (2000): English Eleven 2000. Berlin: Cornelsen.
Bruck, Peter [u. a.] (Hrsg.) (2003): Skyline Advanced Level. Ausgabe C. Stuttgart:
Klett.
Dunker, Karin [u. a.] (2009): Straight On Klasse 11. Stuttgart: Klett.
Edelbrock, Iris (Hrsg.) (2010): The New Pathway to Summit. Paderborn: Schöningh.
Fischer, Hermann [u. a.] (Hrsg.) (2008): Challenge 21. Englisch für berufliche
Gymnasien. Bd. 2. Stuttgart: Klett.
Freese, Peter (Hrsg.) (2007): Viewfinder Special. New Edition. Berlin: Langenscheidt.
Hinz, Klaus; Schmidt Petra und Karl H. Wagner (2001): Discover. . . The World
Around You. A Course for German Eleventh Graders. Paderborn: Schöningh.
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Kranz, Sabine; Paland, Arno und Thomas Tepe (Hrsg.) (2000): Password to Skyline
Plus. Lesebuch zur Einführung in die Oberstufenarbeit. Stuttgart: Klett.
Machan, Karin und Hannelore Zimmermann (Hrsg.) (2007): Challenge 21. Englisch
für berufliche Gymnasien. Bd. 1. Stuttgart: Klett.
Schwarz, Hellmut (Hrsg.) (2003): New Context. Ausgabe B. Berlin: Cornelsen.
Schwarz, Hellmut und Mervyn Whittaker (Hrsg.) (2010): Context 21 (Ausgabe Nord
für Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein). Berlin: Cornelsen.
Thaler, Engelbert (Hrsg.) (2010): Summit G8. Texts and Methods. Paderborn:
Schöningh.
Thomson, Ken (2008): Crossover. The New Edition. Bd. 1. Berlin: Cornelsen.
Weisshaar, Harald (Hrsg.) (2010): Green Line. Oberstufe Klasse 10. Stuttgart: Klett.
Dr. phil. Jule Bönkost | Amerikanistin und Kulturwissenschaftlerin.
Seit 2013 Lehrbeauftragte am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) der
Humboldt-Universität zu Berlin und seit 2015 Lehrbeauftragte an der Alice Salomon Hochschule
Berlin. Zusammen mit Josephine Apraku leitet sie das IDB | Institut für diskriminierungsfreie
Bildung in Berlin. Seit 2016 führt sie beim Antirassistisch-Interkulturellen Informationszentrum
ARiC Berlin e. V. das Bildungsprojekt „Hier und Jetzt! Kolonialrassismus im Unterricht“
durch.
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