Spastische Gangstörung

Werbung
Spastische Gangstörung
Prof. Dr. V. Dietz
FRCP
Paraplegikerzentrum der Universitätsklinik
Balgrist, Zürich
Zusammenfassung
Bei zentraler Parese mit spastischem Muskeltonus werden häufig die gesteigerten Reflexe für die
beeinträchtigende Bewegungsstörung verantwortlich gemacht Physiologische Untersuchungen des Gehens
zeigen jedoch, dass dem .enthemmten monosynaptischen Reflex ein fehlender funktionell wesentlicher
polysynaptischer Reflex gegenübersteht und die Aktivität der Beinmuskeln insgesamt vermindert ist. In der
Folge einer zentralen Läsion kommt es zu einer Transformation motorischer Einheiten, die eine
Spannungsentwicklung und -regulation auf einfacher Ebene ermöglicht. Als therapeutische Konsequenz ergibt
sich daraus, dass die üblichen Medikamente, die eine Verminderung gesteigerter Reflexe bewirken, keinen oder
einen nachteiligen Effekt auf die Bewegungsstörung haben. Sowohl für mobile wie immobile Patienten ist eine
aktivierende Physiotherapie von entscheidender Bedeutung. Diese soll pragmatisch auf den jeweiligen Patienten
ausgerichtet sein, da spezifische Therapieansätze häufig durch die Pathophysiologie nicht gestützt sind.
Die gesteigerten Dehnungsreflexe beeinflussen die Muskelhypertonie kaum
In der Klinik werden Muskeltonus und Reflexaktivität üblicherweise unter passiv-motorischen Bedingungen,
d.h. am ruhenden Patienten untersucht (1). In Bezug auf die Pathophysiologie der Spastik wurde häufig
angenommen, dass die gesteigerten Reflexe für die Muskelhypertonie verantwortlich sind, was wiederum die
Behandlung bestimmte. Daher ist die medikamentöse Therapie bis heute meist darauf ausgerichtet, die Aktivität
der Dehnungsreflexe zu vermindern. Frühere (2) wie neuere (3) Untersuchungen zeigen jedoch, dass die
Eigenreflexe wenig Einfluss auf die spastische Muskelhypertonie haben, sondern dass diese wesentlich auf einer
Verkürzung von Muskelfasern beruht (3). im Vergleich zu den klinischen Befunden ist für den Patienten die
Bewegungsstörung ausschlaggebend, die unter aktiv-motorischen Bedingungen deutlich wird. Die spastische
Hyperreflexie hat wenig mit der Behinderung des Patienten, d. h. der funktionellen Bewegungsstörung, zu tun.
Schon klinisch bestehen Zweifel bezüglich eines kausalen Zusammenhangs zwischen Reflexerregbarkeit,
Spastizität und Behinderung, da nach einem zerebralen Insult die Eigenreflexe schon früh gesteigert sein können,
während sich der spastische Muskeltonus über Wochen entwickelt
Bei Spastik werden im Gehen die Beinmuskeln weiterhin reziprok aktiviert, die Gesamtaktivität ist jedoch
vermindert
Bei der Spastik ist die reziproke Form der Beinmuskelaktivierung beim Gehen erhalten. Die gesteigerten
Eigenreflexe gehen mit einer Verminderung der funktionell wesentlicheren polysynaptischen Reflexe (bzw.
Reflexe längerer Latenz) einher. Die Spannungsentwicklung beim Gehen erfolgt durch Dehnung der gering
tonisch aktivierten Wadenmuskeln. Trotz gesteigerter Dehnungsreflexe ist die Gesamtaktivität in den
Beinmuskeln bei funktionellen Bewegungsabläufen wie dem Gehen bei Patienten mit spinaler und zerebraler
Spastik vermindert (Abb. 1).
Verein Bobath-TherapeutInnen Schweiz | Association Thérapeutes Bobath Suisse
[email protected] | www.ndtswiss.ch
Figure 1: Schematic of the mechanisms that contribute to spastic paresis and spastic movement disorders. A
central motor lesion leads to changes in the excitability of spinal reflexes and a loss of supraspinal drive. As a
consequence, changes in muscle properties occur. The combination of all sequels of the primary lesion leads to
the spastic movement disorder. CNS; central nervous system (from 5)
Verein Bobath-TherapeutInnen Schweiz | Association Thérapeutes Bobath Suisse
[email protected] | www.ndtswiss.ch
Einfachere Tonus-Regulation nach ZNS-Läsion ist funktionell sinnvoll
Entsprechend elektrophysiologischer und histologischer Befunde verändern sich nach einer supraspinalen oder
spinalen Läsion die mechanischen Eigenschaften motorischer Einheiten (2, 3, 4). Dies hat zur Folge, dass der
Muskeltonus auf einfacherer Ebene der neuronalen Organisation reguliert wird. Diese einfachere TonusRegulation nach spinaler oder supraspinaler Läsion ist insofern vorteilhaft als sie dem Patienten ermöglicht den
Körper während des Gehens zu unterstützen und somit eine gewisse Mobilität zu erreichen. Schnellere
Bewegungen sind jedoch nicht mehr möglich, da die Modulation der Muskelaktivität fehlt. Nach schwerer
spinaler oder supraspinaler Läsion können diese Transformationsprozesse überschießen mit unerwünschten
Nebenwirkungen, wie schmerzhaften Spasmen.
Eine zentrale Läsion hat neuronale Reorganisation zur Folge
Nach einer zentralen Läsion wird die präsynaptische Hemmung der Gruppe la-Fasern vermindert. Dies geht mit
einer Steigerung der Eigenreflexe einher. Außerdem verändern sich nach einigen Wochen die mechanischen
Eigenschaften in den Beinextensoren- und Armbeugemuskeln. Auch diese Veränderungen tragen zum
spastischen Muskeltonus bei. Am ausgeprägtesten sind die strukturellen Veränderungen des spastischen Muskels
und Bindegewebes ein Jahr und mehr nach einer akuten Läsion (2,3,6). Nur wenig ist über den Verlauf der
spastischen Symptome mehr als ein Jahr nach der Schädigung bekannt.
Antispastische Therapie bewirkt durch Senkung des Muskeltonus eine Parese
Die meisten Untersuchungen zur Spastiktherapie beschränkten sich auf Effekte antispastischer Medikamente auf
die
Reflexaktivität
unter
passiv-motorischen
Bedingungen.
Die
wenigen
Untersuchungen
der
Medikamentenwirkung auf die spastische Bewegungsstörung ergaben keine sicher positiven Effekte. Ähnliches
gilt auch für andere, nicht-medikamentöse Behandlungsformen der Spastik. Daher ist es nicht erstaunlich, dass
die Behandlung der Spastik stark variiert. Die derzeitigen Behandlungsmethoden der Spastik sind in
verschiedenen Übersichten zusammengefasst (7,8,9). Das Ziel jeder medikamentösen antispastischen Therapie
ist es, den spastischen Muskeltonus herabzusetzen, ohne die Willkürkraft nennenswert zu vermindern.
Ein günstiger Effekt antispastischer Medikamente auf die Bewegungsstörung ist nicht zu erwarten, weil mit den
gesteigerten Eigenreflexen eine verminderte Aktivität der funktionell wesentlichen polysynaptischen Reflexe
einhergeht. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass klinische Untersuchungen keine Verbesserung funktioneller
Bewegungen durch diese Medikamente gezeigt haben. Höhere Dosen antispastischer Medikamente führen zwar
zu einer Besserung der spastischen Symptome, wie Muskelspasmen und -tonus. Diese Effekte sind aber meist
mit einer behindernden Parese verbunden. Therapeutisch ergibt sich daraus das Gebot einer vorsichtigen
Anwendung der antispastischen Medikamente bei mobilen Patienten, soweit diese den spastischen Muskeltonus
benötigen, um den Körper beim Gehen zu unterstützen. Bei immobilisierten Patienten ist eine verstärkte
Muskelparese nicht nachteilig. Die antispastische Medikation kann von Vorteil sein, wenn dadurch eine
Physiotherapie ermöglicht, schmerzhafte Spasmen sowie Klonus gelindert und Kontrakturen vermieden werden.
Zudem wird die Pflege, vor allem im Intim- bereich, erleichtert.
Bei Spastik werden physiotherapeutische Verfahren angewandt, die auf unterschiedlicher empirischer Erfahrung
basieren
Propriozeptive neuromuskuläre Bahnung (PNF) und Techniken der Rückkoppelung (Myofeedback) sollen
spinale Motoneurone reflektorisch aktivieren. Die Techniken von Bobath und Vojta sind primär darauf
ausgerichtet Kinder mit zerebraler Parese zu behandeln, werden aber gleichermaßen für Erwachsene empfohlen.
Verein Bobath-TherapeutInnen Schweiz | Association Thérapeutes Bobath Suisse
[email protected] | www.ndtswiss.ch
Obwohl kontrollierte Studien fehlen, ist Physiotherapie zur Behandlung mobiler wie immobiler spastischer
Patienten unumstritten. Aktive und passive physiotherapeutische Behandlungsmaßnahmen sind für alle Patienten
mit Spastik von Bedeutung. Einerseits müssen die verbliebenen motorischen Funktionen geübt werden,
andererseits müssen Kontrakturen der Muskeln und Gelenke in einem frühen Stadium durch wiederholte
Muskeldehnungen verhindert werden. Alle üblicherweise angewandten krankengymnastischen Übungsverfahren
nehmen für sich in Anspruch auf „neurophysiologischer Grundlage“ zu basieren, In keinem dieser Verfahren
werden jedoch aktuellere neurophysiologische Erkenntnisse, die funktionellen Bewegungen zugrunde liegen,
angewandt. Bisher konnte nicht die Überlegenheit einer der verschiedenen Techniken über die andere bei der
Behandlung spastischer Patienten nachgewiesen werden. Die jeweils anzuwendende physiotherapeutische
Technik sollte sich am spezifischen Problem, z. B. dem motorischen Defizit eines Patienten orientieren. Die
Physiotherapie muss zudem Teil eines multidisziplinären integrierenden Behandlungskonzepts sein. Alle
Behandlungsziele sind darauf ausgerichtet, eine größere Mobilität und, soweit wie möglich, Unabhängigkeit des
Patienten zu erreichen.
Literatur
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Lance JW (1980) Symposium synopsis. In: Spasticity: Disordered Motor Control. Feldman RG, Young
RR, Koella WP eds, Year Book Pubt, Chicago, III. pp 485-49
Dietz V, Quintem J, Berger W (1981) Electrophysiological studies of gait in spasticity and rigidity.
Evidence that altered mechanical properties of muscle contribute to hypertonia. Brain 104: 431- 449
O‘Dwyer NJ, Ada L (1996) Reflex hyperexitability and muscle contracture in relation to spastic
hypertonia. Curr Opin Neurol 9: 451-455
Dietz V (1992) Human neuronal control of functional movements. Interaction between central programs
and afferent input. Physiol Rev 72: 33- 69
Dietz V (2002) Proprioception and locomotor disorders. Nature Rev Neurosci 3: 781-790
Sinkjaer T, Toft E, Larsen K, Andreassen S, Hansen H (1993) Non-reflex and reflex mediated ankle
joint stiffness in multiple sclerosis patients with spasticity. Muscle Nerve 16: 69-76
Davidoff RA (1985) Antispasticity drugs: Mechanisms of action. Ann Neurol 17:107-116
Glenn MB, Whyte J (1990) The Practical Management of Spasticity in Children and Adults. Lea &
Febiger, Philadelphia, London
Young RR Delwaide PJ (1981) Drug therapy: Spasticity. New Engl J Med 304: 28-33 and 96-99
Verein Bobath-TherapeutInnen Schweiz | Association Thérapeutes Bobath Suisse
[email protected] | www.ndtswiss.ch
Herunterladen