Menschenrechte und Kinderrechte: Wahlrechte?

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Udo Vorholt
Menschenrechte und Kinderrechte: Wahlrechte?
Es gibt ein Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt1)
…auch Kinder haben Rechte, auch Wahlrechte?
Menschenrechte
Menschenrechte sind Rechte, die mit dem Menschsein als solchem gegeben
sind. Menschenwürde ist in jedem Menschen in derselben Weise zu achten.
(vgl. allg.: Bielefeldt 1998, Gosepath / Lohmann 1998) In Artikel 1 der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ heißt es denn auch: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Allgemein lässt sich folgende Kategorisierung der Menschenrechte vornehmen:
• Abwehrrechte vor allem gegenüber dem Staat, um vor Willkür der Macht
geschützt zu werden,
• Teilnahmerechte, um den Staat mit zu gestalten,
• Teilhaberechte, um die Lebensbedingungen gewährleistet zu bekommen, die es erst ermöglichen, die anderen Rechte wahrzunehmen.
(Fritzsche 2004, S.21)
• Man ist dazu übergegangen, die Entwicklung und Durchsetzung der
Menschenrechte in drei Generationen zu unterteilen:
• Die erste Generation beinhaltet die klassischen individuellen liberalen
Schutzrechte (Recht auf Leben, Meinungs- und Redefreiheit, Rechtsstaatlichkeit)
• Die zweite Generation umfasst individuelle Anspruchs- und Teilhaberechte im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich (Recht
auf materiell gesicherte Existenz, Recht auf Gesundheit, Recht auf
Arbeit).
• Die dritte Generation2 erstreckt sich auf kollektive Solidaritätsrechte
bzw. Anspruchsrechte wie das Recht auf intakte Umwelt, Recht auf Frieden, Recht auf Entwicklung; diese Rechte sind wesentlich abstrakter und
unbestimmter.
1
Arendt 1986, S. 462.
Ausgehend von der 1986 von der VN-Generalversammlung verabschiedeten ‚Erklärung
zum Recht auf Entwicklung‘ konnten diese Rechte 1993 mit der Wiener Menschenrechtskonferenz und ihrer einstimmig verabschiedeten Abschlusserklärung sich etablieren.
2
95
Ein Durchbruch in der internationalen Menschenrechtsentwicklung war die
Verabschiedung der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ 1948
durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN). Sie beinhaltet
bürgerliche, politische und soziale Rechte. Diese Rechte gelten nach Artikel
2 für alle Menschen, da diese „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Es sei darauf hingewiesen, dass die ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ nur eine Empfehlung der VN-Generalversammlung darstellt, sie
war von den Mitgliedsstaaten weder zu unterzeichnen noch zu ratifizieren.
Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurden in
den Vereinten Nationen weitere kodifizierte Rechte mit allgemeiner Gültigkeit in einzelnen Konventionen getroffen: die beiden 1966 verabschiedeten
und für die Signatarstaaten völkerrechtlich verbindlichen Internationalen
Pakte über bürgerliche und politische Rechte3 (derzeit von 164 Staaten
ratifiziert) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (derzeit
von 160 Staaten ratifiziert), im Jahr 1966 die Internationale Konvention zur
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (derzeit von 173 Staaten
ratifiziert), 1979 die Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (derzeit von 185 Staaten ratifiziert), 1984 die Anti-Folter-Konvention (derzeit von 146 Staaten ratifiziert), 1989 die Kinderrechtskonvention (derzeit von 193 Staaten ratifiziert [nicht von Somalia und den USA] ),
1990 die Wanderarbeiterkonvention (derzeit von 40 Staaten ratifiziert) und
2008 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (derzeit von 49 Staaten ratifiziert; Deutschland bisher nicht).
Menschenrechte werden im Unterschied zu den naturrechtlichen, kontraktualistischen oder transzendentalen bzw. transzendentalpragmatischen
Begründungen hier in der Kantischen Tradition als universalisierbar verstanden. (vgl. Tugendhat 1993) Die Konsequenz daraus ist, dass der Menschenrechtskatalog nie als unstrittiger, in sich konsistenter und abgeschlossener Normenkodex vorausgesetzt werden kann, sondern einer permanenten Überprüfung ausgesetzt ist. Die Formulierung von Menschenrechten unterliegt einem historischen Wandel, so wurden Frauenrechte in einem
langen und bis heute andauernden Prozess erkämpft. (vgl.: Strzelewicz
1969)
Zu einer Menschenrechtspolitik gehört unmittelbar auch eine Menschenrechtsbildung. (vgl. allg.: Lohrenscheit 2004; Lenhart 2006; Scherr 2007,
3
Der Zivilpakt wurde 1989 mit dem zweiten Fakultativprotokoll zu dem Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe ergänzt (70
Vertragsstaaten, Stand: Mai 2009).
96
Vorholt 2009) Diese dient der Vermittlung von Kenntnissen, der Förderung
von Handlungskompetenzen sowie der Reflexion von Einstellungen und
Haltungen auf der Grundlage menschenrechtlicher Normen und Prinzipien.
Damit die emanzipatorische Intention der Menschenrechte Wirkung entfalten kann, bedarf es einer umfassenden Förderung von Kompetenzen, durch
die Menschen die Fähigkeit entwickeln, ihre eigenen Rechte wahrzunehmen
und sich solidarisch für die Rechte anderer einzusetzen. In der Präambel der
‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ wird ausdrücklich gefordert,
dass durch Bildung die Achtung vor diesen Rechten zu fördern und durch
nationale und internationale Maßnahmen ihre Anerkennung und Einhaltung
zu gewährleisten sei. Damit ist die Menschenrechtsbildung integraler Bestandteil der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘.
Rechtliche Stellung von Kindern
Nach der Definition der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen gilt
als Kind, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Nach deutschem
Recht gilt als Kind, wer noch nicht 14, als Jugendlicher, wer 14, aber noch
nicht 18 Jahre alt ist. (vgl. allg.: World Vision Deutschland 2007, Bertram
2008)
Die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen, die sich insbesondere im 19. Jahrhundert ausgeformt hatte, beinhaltete, dass sich Kindheit als Schutz-, Schon- und Lernraum herausbildete. Kindheit wurde in
erster Linie als Vorbereitungsphase für das Erwachsenenleben wahrgenommen. Kinder wurden im Unterschied zu Erwachsenen als unreif, unfähig,
nicht verantwortlich typisiert. In soziologischer Perspektive werden Kinder
als „kompetente soziale Akteure“ verstanden, die ihre Lebensführung
selbstständig disponieren und als Konsumenten über eine relative Autonomie verfügen, die sich mit Erwartungen an ihre frühe Selbstständigkeit
verschränken. (vgl. Honig 1999, S. 157 f.)
Die hier vertretene Position ist stärker sozialwissenschaftlich ausgerichtet
und versteht Kindheit4 als soziales Konstrukt und als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. (Negt 1989, S. 29) Kindheit ist ein integraler Teil der
Gesellschaft, nicht eine Phase oder Stufe. Kindheit kann wie Gender als
gesellschaftliche Kategorie verstanden werden. Daraus abgeleitet können
4
Vgl. zur „Kindheitsforschung“ in den Sozialwissenschaften: Alanen 1994, Honig 1996,
Honig u.a. 1999, Fölling-Albers 2001.
97
Kinder – analog der Arbeiter- oder der Frauenbewegung – als Subjekte ihrer
eigenen Emanzipationsbestrebungen verstanden werden. Der Wandel der
Kinderpolitikdebatte5 lässt sich historisch anhand der drei Positionen
‚protection, provision, participation‘ verdeutlichen.
Nach der jetzigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts sind
Kinder Träger subjektiver Rechte (eigene Menschenwürde, Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit). Dies galt nicht immer: Das Bundesverfassungsgericht hat erst 1968 entschieden, dass Kinder selbst Träger von
Grundrechten sind und ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit besitzen. „Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und
dem eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Artikels 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 1 GG.“ (BVerfGE 24, 119, 144) Das Bundesverfassungsgericht hatte die damals vorherrschende Interpretation der
‚Grundrechtsmündigkeit‘ zurückgewiesen, wonach Menschen, die noch
nicht vollständig geschäftsfähig sind, auch nicht selbstständig ihre Grundrechte geltend machen können. Demgegenüber stellte das Bundesverfassungsgericht eindeutig fest, dass Kinder Grundrechtsträger sind.
Kinder werden im Grundgesetz nur in Artikel 6 Abs. 2 erwähnt: „Pflege
und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche
Gemeinschaft.“ Zwar sind die Eltern die Inhaber der Rechte gegenüber den
Kindern. Das Bundesverfassungsgericht interpretiert jedoch das Elternrecht
im Unterschied zu anderen Grundrechten als ‚Elternverantwortung‘ im Sinne
einer Treuhänderschaft. Artikel 6 GG stellt folglich ein pflichtengebundenes
Grundrecht dar, das seine Grenzen am Wohl des Kindes erfährt. Eine eigene
Erwähnung der Kinderrechte würde das bisherige Verhältnis von Staat
(‚Wächteramt‘) und Eltern-‚Verantwortung‘ um die dritte Dimension, die
Kinder mit ihren eigenen Rechten erweitern. (s.u.)
Aus Artikel 2 (1) und Artikel 1 (1) folgt die Grundrechtsposition des Kindes
unmittelbar (‚Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit‘). Das
Verhältnis des Elternrechts zum Persönlichkeitsrecht des Kindes wird durch
die spezifische Aufgabe des Elternrechts bestimmt, dass ein Recht im Interesse des Kindes sei und das Kindesinteresse in das Elternrecht einfüge
(Nevermann 1997, S. 55f). „Auf der verfassungsrechtlichen Ebene werden
die Rechte des Kindes also einerseits durch den fiduziarischen Charakter
des Elternrechts gewährleistet und andererseits durch das Grundrecht auf
5
Vgl. zum Thema Kinder und Politik: Meyer 1996, Sünker / Swiderek 2002, van Deth
2005.
98
freie Entfaltung der Persönlichkeit in Artikel 2 (1) Grundgesetz und anderen
Grundrechten.“ (Nevermann, 1997, S. 58) Aus dem elterlichen Erziehungsrecht lässt sich kein freies Selbstbestimmungsrecht der Eltern ableiten. Das
Elternrecht kann nur als anvertrautes Recht im Dienst und zum Nutzen des
Kindes verstanden werden. (Sternberg-Lieben 1995, S. 43) Bestimmend sei
das Kindeswohl, ihm sei der Vorrang vor den Elterninteressen einzuräumen.
(Huster 2002, S. 253)
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil von April 2008 die Subjektstellung des Kindes noch einmal betont: „Denn das Kind ist nicht
Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, es ist Rechtssubjekt und Grundrechtsträger, dem die Eltern schulden, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten.“ (BVerfG, 1 BvR 1620/04 vom 1.4.2008, Abs. 71)
In der Bundesrepublik gelten u.a. folgende Mündigkeitsstufen:
• Volljährigkeit, volle Geschäftsfähigkeit: Vollendung des 18. Lebensjahres
• Eidesfähigkeit, beschränkte Testierfähigkeit, Ehemündigkeit (Voraussetzung: Ehepartner volljährig und Zustimmung Familiengericht): Vollendung des 16. Lebensjahres
• Antragsrecht (Sozialleistungen): Vollendung des 15. Lebensjahres
• Weltanschauungs- und Religionsmündigkeit, beschränkte Strafmündigkeit, Anhörungs-, Beschwerde- und Antragsrecht in Vormundschaftsangelegenheiten: Vollendung des 14. Lebensjahres
• beschränkte Weltanschauungs- und Religionsmündigkeit: Vollendung
des 12. Lebensjahres
• Anhörungsrecht bei Weltanschauungs- und Religionswechsel: Vollendung des 10. Lebensjahres
Kinderrechte
Kinderrechte sind universell, d.h. sie gelten für alle Kinder ohne Unterschied
weltweit. Sie sind unteilbar, d.h. sie sind sowohl Freiheitsrechte als auch
Gleichheitsrechte. Menschenrechte und Kinderrechte sind interdependent,
d. h. sie bedingen sich gegenseitig und können nur als Ganzes vollständig
verwirklicht werden. (Lohrenscheit 2006, S 6 f. – vgl. allg.: Carle / Kaiser
1998)
99
UNICEF hat die Kinderrechte systematisch in vier Rechtsbereiche aufgeteilt:
• Überlebensrechte (survival rights): alle Rechte, die das Überleben des
Kindes sichern, z. B. das Recht auf Nahrung, auf Wohnen oder medizinische Versorgung;
• Entwicklungsrechte (development rights): alle Rechte, die eine angemessene Entwicklung des Kindes garantieren, z. B. das Recht auf Bildung, Freizeit, Schule, Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion;
• Schutzrechte (protection rights): alle Rechte, die das Kind schützen, z. B.
vor Ausbeutung, Missbrauch, willkürlicher Trennung von der Familie;
• Partizipationsrechte (participation rights): alle Rechte, die dem Kind freie
Meinungsäußerung und Mitsprache in den die Kinder betreffenden Angelegenheiten garantieren.
Kinder müsse der Vorrang eingeräumt werden, sie müssten in den Mittelpunkt politischer Betrachtungen gestellt werden und „brauchen und verdienen dringend besondere Aufmerksamkeit, da sie – eigentumslos und ohne
Stimmrecht – zu der schwächsten Gesellschaftsgruppe zählen“. (Qvortrup
1993, S. 23)
Geschichte der Kinderrechte6
Kinder wurden bis Ende des Mittelalters nicht als eigenständige Gruppe
wahrgenommen. Vielmehr wurden sie als Eigentum des Vaters angesehen
und nicht als eigenständiges Rechtssubjekt betrachtet. Erst in der Zeit der
Aufklärung (18. Jahrhundert) betrachtete man Kinder als soziale Gruppe mit
eigenen Interessen. Aber erst gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20.
Jahrhunderts wurden rechtliche und sozialpolitische Konsequenzen gezogen (z B. Kinderschutzgesetze, Schulpflicht). Diese Gesetze und Institutionen schlossen Kinder gleichzeitig von der Welt aus und hielten sie in ihrer
eigenen Welt gefangen, um sie auf das ‚richtige‘ Leben vorzubereiten.
(Fthenakis 2001, S. 7)
6
Nicht einbezogen werden die Arbeiten der ‚Kinderrechtsbewegung‘ (Richard Farson,
John Holt, Christiane Rochefort) und der deutschen ‚Antipädagogik‘. Deren Begrifflichkeiten sind – im Gegensatz zur differenzierten Argumentation der Erziehungswissenschaften – auf ein vergleichsweise einfaches, undifferenziertes Schema reduziert, das
sich in der Ablehnung jeglicher Erziehung erschöpft.
100
Die Etablierung der Menschenrechte seit den Revolutionen in den Vereinigten Staaten und Frankreich in kodifiziertes Recht – beispielhaft: ‚Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte‘ durch die Französische Nationalversammlung 1789 – führte im 20. Jahrhundert auch zu bestimmten Schutzrechten für Kinder. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Interesse
an Fragen der Rechte des Kindes hatte zum Abschluss völkerrechtlicher
Verträge geführt, z. B. das Haager Übereinkommen vom 12. Juli 1902 (zur
Regelung der Vormundschaft für Minderjährige) oder das Internationale
Übereinkommen vom 4. Mai 1910 zur Bekämpfung des Mädchenhandels.
1913 diskutierte der erste Internationale Kinderschutz-Kongress in Brüssel
Verträge zum Schutz von Kindern.
Das von der schwedischen Pädagogin und Schriftstellerin Ellen Key
(1849-1926) ausgerufene „Jahrhundert des Kindes“, so ihr Buch aus dem
Jahr 1900, stützte sich auf Rousseau und war sozialreformerisch verstanden. Wenn Key in der Frauenbewegung nicht die Forderung nach einer umfassenden Gleichberechtigung unterstützte, gaben ihre reformpädagogischen Vorschläge jedoch wichtige Anstöße.
Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak (1878-1942) entwickelte
seine Pädagogik der Achtung („Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind
schon welche“), in der er Grundrechte für Kinder entwickelte. 1919 schrieb
er in seinem Buch ‚Wie man ein Kind lieben soll‘: „Ich fordere die Magna
Charta Libertatis, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch
andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden:
• Das Recht des Kindes auf seinen Tod 7
• Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
• Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.“ (Korczak 2008, S. 40)
Bereits 1922 hatte der Internationale Frauenrat eine ‚Children’s Charter‘
vorgelegt und war von dem Grundsatz ausgegangen, dass Kinder ein „inalienable right to have the opportunity of full physical, mental and spiritual
development“ zustehe. (Veermann 1992, S. 439) Zur Überwachung der
Interessen der Kinder sollte in jedem Staat ein eigenes Ministerium gegründet werden.
7
Korczaks Pädagogik der Achtung vor Kindern umfasste auch das Recht auf das Risiko
des Lebens. Dieser radikal formulierte Satz spielt auf die Überbehütung von Kindern
durch Erwachsene an. Dadurch nähmen Erwachsene Kindern die Möglichkeit, sich frei zu
entfalten, gefordert sei vielmehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.
101
Ein wichtiger Markstein der Etablierung von Kinderrechten waren die Arbeiten der Engländerin und Lehrerin Eglantyne Jebb (1876 - 1928). Aufgerüttelt
durch die Situation der Flüchtlingskinder im Ersten Weltkrieg entwarf sie
1923 eine ‚Erklärung der Rechte der Kinder‘. Bereits 1919 hatte sie mit ihrer
Schwester Dorothy den ‚Save the Children Fund‘ gegründet, um Kindern im
Nachkriegseuropa materiell zu helfen. Die von Jebb vorgelegte Charta wurde
am 24. September 1924 von der fünften Generalversammlung des Völkerbundes in Genf verabschiedet. Sie war damit die erste Deklaration der Kinderrechte, hatte aber keine rechtliche Verbindlichkeit. In ihr wurden folgende fünf Forderungen aufgestellt:
• The child must be given the means requisite for its normal development,
both materially and spiritually.
• The child that is hungry must be fed, the child that is sick must be
helped, the child that is backward must be helped, the delinquent child
must be reclaimed, and the orphan and the waif must be sheltered and
succoured.
• The child must be the first to receive relief in times of distress.
• The child must be put in a position to earn a livelihood, and must be
protected against every form of exploitation.
• The child must be brought up in the consciousness that its talents must
be devoted to the service of its fellow men. (Veerman 1992, S. 444)
Die reformpädagogische Bewegung im frühen 20. Jahrhundert trat nachdrücklich für die Rechte der Kinder und die Kinderschutzbewegung ein,
abrupt gestoppt durch den Nationalsozialismus.
In den 1945 gegründeten Vereinten Nationen konnten Vorschläge, die
Genfer Erklärung neu verabschieden zu lassen, nicht realisiert werden. Die
„Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, enthält neben den
allgemeinen Bestimmungen auch bestimmte Schutzrechte für Kinder.
Erst am 20. November 1959 konnte die Generalversammlung der Vereinten Nationen die ‚Erklärung der Rechte der Kinder‘ verabschieden, die jedoch als Empfehlung rechtlich nicht bindend war. Sie forderte die Staaten
nur auf, sich für Kinderrechte einzusetzen. Kindern wurde u.a. ein Recht auf
einen Namen, eine Staatsangehörigkeit, ein Recht auf angemessene Ernährung, Unterbringung, Erholung und ärztliche Betreuung sowie ein Anspruch
auf unentgeltlichen Pflichtunterricht zumindest in der Elementarschule
anerkannt. Ausdrücklich wurde in Artikel 1 der Anspruch auf diese Rechte
102
ohne Unterschiede oder Diskriminierung ausgesprochen. In der Präambel
dieser Erklärung wurde „das Kind wegen seiner mangelnden körperlichen
und geistigen Reife“ als besonderes Schutzobjekt, das besonderer Fürsorge
bedarf, angesehen und nicht als selbstständiges Rechtssubjekt und damit
nicht als Inhaber von selbstständigen Rechten betrachtet.
In den sog. ‚Zwillingspakten‘ der Vereinten Nationen von 1966 sind einzelne Kinderrechte enthalten. Der Sozialpakt formuliert einige Schutzrechte
(Artikel 12), der Zivilpakt fordert für Kinder, dass sie nach der Geburt unverzüglich in ein Register einzutragen seien, einen Namen erhalten und das
Recht besitzen, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben. Artikel 2 bestimmt,
dass alle Rechte für alle Personen ohne Unterschied zu gewährleisten sind.
Hervorzuheben ist die Feststellung, dass Kindern ohne jegliche Diskriminierung das Recht auf Schutzmaßnahmen durch Familie, Gesellschaft und
Staat haben, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert. (Artikel
24)
Nachfolgende Rechte des Zivilpaktes gelten auch für Kinder:
•
•
•
•
Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 19)
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 18)
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 21 und 22)
Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben (Artikel 25)
Erst mit der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen konnte das
erste weltweit rechtsverbindliche Abkommen etabliert werden.
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen
Zum 20. Jahrestag der ‚Erklärung der Rechte des Kindes‘ führten die Vereinten Nationen 1979 das ‚Jahr des Kindes‘ durch. 1978 hatte die polnische
Regierung den Vorschlag unterbreitet, die Erklärung von 1959 in einen völkerrechtswirksamen Vertrag umzuwandeln. Die VN-Menschenrechtskommission wurde mit der Bildung einer Arbeitsgruppe beauftragt, um einen Entwurf eines Übereinkommens vorzulegen, dass dann im März 1989 einstimmig angenommen wurde. Die Kinderrechtskonvention wurde dann von der
Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989, dem
30. Jahrestag der ‚Erklärung der Rechte des Kindes‘, ebenfalls einstimmig
verabschiedet. (Resolution 44/25). Die Kinderrechtskonvention verpflichtet
alle Vertragsstaaten, die verankerten Rechte zu achten und zu gewährleis103
ten. Nach dem derzeitigen Stand haben 193 Staaten die Konvention ratifiziert, es fehlen nur Somalia und die USA. (vgl. allg.: Dorsch 1994, Mower
1997)
Die Kinderrechtskonvention definiert Kinder als Individuen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, es sei denn, dass nationales Recht die Volljährigkeit in einem jüngeren Alter bestimme. Ein eigenständiger Status eines
Jugendlichen wird nicht eingeführt, Kinder sind alle Nicht-Erwachsenen.
Der Grundsatz der Kinderrechtskonvention ist, Kinder als Rechtssubjekte
zu betrachten und darüber hinaus zahlreiche Einzelgarantien zu statuieren.
Für Kinder gilt nicht nur ein besonderer Schutz, sondern eben auch die
Bedingung, dass sie auch Inhaber bestimmter eigener Rechte sind und
damit Subjekte ihrer eigenen Entwicklung. Artikel 4 weist jedoch darauf hin,
dass die Kinderrechtskonvention keine Grundlage für individuelle Rechte
sein kann. Vielmehr werden die Vertragsstaaten verpflichtet, die in der
Kinderrechtskonvention anerkannten Rechte innerstaatlich zu verwirklichen.
Die Kinderrechtskonvention gehört zu den sog. ‚non-self-executing-treaties‘,
die sich als Staatenverpflichtung an die politischen Institutionen richten.
Eine unmittelbare Geltung ist damit ausgeschlossen.
Für die Realisierung der Kinderrechte sind die Staaten verpflichtet, die
Rechte zu achten, d.h. die Staaten dürfen die Rechte nicht verletzen. Das
Diskriminierungsverbot ist in Artikel 2 festgeschrieben: „Die Vertragsstaaten
achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung (…).“ Neben diesen Achtungspflichten beinhaltet die Kinderrechtskonvention auch Schutzpflichten, die Staaten verpflichten, Kinder auch vor
allen Formen von Gewalt und Misshandlung durch Dritte zu schützen.
Weiterhin bestehen für die Staaten Pflichten zur Gewährleistung, d.h. positive Handlungspflichten, sie müssen Maßnahmen ergreifen, die für die Umsetzung notwendig sind. (Lohrenscheidt 2006, S. 7)
Der formale Aufbau der Kinderrechtskonvention ist bei der Bewertung der
Gewichtung der einzelnen Artikel zu berücksichtigen. Im Unterschied zu den
in den weiteren Artikeln genannten Regeln stellt Artikel 3 ein sogenanntes
Rechtsprinzip (Alexy 1994, S. 75 f.) dar: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder
betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu
berücksichtigen ist.“ Aus der Vorrangigkeit kann jedoch nicht ein absoluter
Durchsetzungsanspruch abgeleitet werden.
Die Kinderrechtskonvention besteht aus 54 Artikeln, die Schutzrechte
(Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung), Förderrechte (Gesundheit, Bil-
104
dung, Freizeit) sowie Mitwirkungs-, Anhörungs- und Beteiligungsrechte
(Subjektstellung des Kindes) enthalten. Artikel 12 bis 17 enthalten dezidierte Partizipationsrechte, um politische Ziele zu verfolgen oder sich zu engagieren: Meinungsfreiheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit,
Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Informationszugang. Artikel 12
bestimmt: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine
eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind
berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner
Reife.“ Hier wird die Partizipation von Kindern auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene ausdrücklich gefordert, allerdings durch den
Bezug auf die jeweilige ‚Reife‘ eingeschränkt. Neben der Versorgung und
dem Schutz werden Kindern bürgerliche Rechte zugestanden. Kinder werden
nicht nur als schutzbedürftige Objekte verstanden, sondern auch als Subjekte, die an Entscheidungsprozessen zu beteiligen sind. In Artikel 42 wird
gefordert, dass die Vertragsstaaten dieses Abkommen wirksam allgemein
bekannt machen müssen.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Kinderrechtskonvention
neben den ‚klassischen‘ bürgerlichen und politischen Rechten auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthält. Für diese gilt – analog den
Bestimmungen des VN-Sozialpaktes – die in Artikel 4 getroffene Regelung,
dass die Vertragsstaaten Maßnahmen zur Verwirklichung „unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit“ treffen. Zudem sind diese Rechte wegen ihrer
Unbestimmtheit nicht ‚justiziabel‘.
Als einziger Kontrollmechanismus ist der in Artikel 44 der Kinderrechtskonvention festgelegte Staatenbericht vorgesehen. Die Einzelstaaten müssen einem eigens geschaffenen ‚Ausschuss für die Rechte des Kindes
(Committee on the Rights of the Child – CRC)‘, zugeordnet dem VNHochkommissar für Menschenrechte in Genf 8, zunächst zwei Jahre nach der
8
Zur Koordinierung der Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen wurde auf
Empfehlung der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 auf der 48. Generalversammlung die Institution des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte
(UNHCHR) mit Sitz in Genf eingerichtet. Der Hohe Kommissar ist direkt dem VN-Generalsekretär unterstellt. Zur Kontrolle der einzelnen Konventionen wurden sog. Vertragsorgane (UN Treaty Bodies) eingerichtet. Sie setzen sich aus in den Vertragsstaaten gewählten
Sachverständigen zusammen. Ihre Empfehlungen und Stellungnahmen sind jedoch nicht
völkerrechtlich verbindlich. Parallel zu dem Hohen Beauftragten existiert der VNMenschenrechtsrat (Human Rights Council), als sogenanntes Nebenorgan der Generalversammlung mit Sitz in Genf. Der Rat löste im Juni 2006 die VN-Menschenrechtskom-
105
Ratifizierung und danach alle fünf Jahre berichten. Hierbei sind auf etwa
bestehende Schwierigkeiten hinzuweisen, die die Staaten daran hindern,
Verpflichtungen der Kinderrechtskonvention zu erfüllen. Der Ausschuss9 hat
die Möglichkeit, ergänzend Angaben einzufordern und zusätzlich sogenannte ‚Parallelberichte‘ – etwa von Nicht-Regierungsorganisationen – heranzuziehen. Abschließend legt der Ausschuss ‚Vorschläge und allgemeine Empfehlungen‘ vor, die ‚Concluding Observations‘.
Die Kinderrechtskonvention wurde durch zwei fakultative Zusatzprotokolle ergänzt: Das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention betreffend
die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (verabschiedet am
25. Mai 2000, in Kraft seit 12. Februar 2002, gültig in 126 Staaten – Stand
Mai 2009) und das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention betreffend
den Kinderhandel, die Kinderprostitution und Kinderpornografie (verabschiedet am 25. Mai 2000, in Kraft seit 18. Januar 2002, gültig in 130 Staaten – Stand Mai 2009).
Der auf Einladung von UNICEF10 1990 einberufene ‚Weltkindergipfel‘ verabschiedete die ‚Erklärung für das Überleben, den Schutz und die Entwicklung des Kindes‘, in der 27 Ziele zur weltweiten Verbesserung der Lebensumstände von Kindern enthalten waren. Der 2. Weltkindergipfel 2002 fand
in Form einer Sondertagung der VN-Generalversammlung mit Vertretern von
mehr als 180 Staaten, darunter 70 Staats- und Regierungschefs und 400 Kinder und Jugendliche, statt. Diese verabschiedeten in einem speziellen Kinderforum den Appell ‚Eine kindgerechte Welt – eine Welt für uns‘ und forderten
u.a. aktive Beteiligungsrechte. Neben dem Recht eines jeden Kindes auf
volle und sinnvolle Partizipation stand das Beteiligungsrecht auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung, insbesondere auf Planung, Umsetzung,
Überwachung und Beurteilung aller Kinderrechtsfragen, im Mittelpunkt.
Den doch eher deklaratorischen Charakter der Kinderrechtskonvention
innerhalb der Vereinten Nationen machte die VN-Sondergeneralversammmission ab, deren Arbeit als nicht effektiv galt. Er hat die Befugnis, Beobachter zur
Überwachung der Menschenrechtssituation in Mitgliedsstaaten zu entsenden. (vgl.
Theissen 2006)
9
Derzeit gehören dem Ausschuss 18 unabhängige Sachverständige an, für die Bundesrepublik Prof. Dr. Lothar Krappmann.
10
Innerhalb der Vereinten Nationen wurde 1946 UNICEF (United Nations International
Children’s Emergency Fund) als Nebenorgan nach Artikel 22, Kapitel 4 der VN-Charta
gegründet. Ein Neben- bzw. Spezialorgan wird direkt von der Generalversammlung eingesetzt, ist an deren Weisungen gebunden, berichtet ihr bzw. dem Wirtschafts- und
Sozialrat, verfügt über keine Budgethoheit und keinen eigenen völkerrechtlichen Status.
(vgl. Gareis / Varwick 2003, S. 65)
106
lung – der sogenannte Weltkindergipfel – 2002 deutlich. Mit Rücksicht auf
die USA wurde die Kinderrechtskonvention lediglich als ein Standard neben
anderen internationalen Übereinkünften bezeichnet (Punkt 4 der Erklärung:
A World Fit for Children [Eine kindergerechte Welt] A/S-27/19/Rev. 1, S. 5).
Neben wichtigen Forderungen zur Etablierung und Sicherung von Kinderrechten wurde der umzusetzende Aktionsplan allerdings auch mit dem
Hinweis versehen, dies im Einklang mit „dem jeweiligen innerstaatlichen
Recht, den religiösen und ethischen Werten und dem kulturellen Hintergrund der Bevölkerung“ zu tun (S. 30). Kinderrechte an „kulturelle Traditionen“ zu binden steht im eklatanten Widerspruch zur Universalität der Menschenrechte. Die Kinderrechtskonvention ist bedingt durch das Fehlen von
verbindlichen Durchsetzungsmechanismen ein eher schwaches völkerrechtliches Instrument. (vgl. Boekle 1998, S. 6)
Ein Individualbeschwerderecht etwa wie im Zivilpakt ist derzeit nicht
vorgesehen. Dort kann sich jeder Bürger wegen einer Verletzung seiner
bürgerlichen oder politischen Rechte an den für diese Zwecke gebildeten
VN-Menschenrechtsausschuss wenden. Das Recht ist allerdings nur in dem
von bisher 111 Staaten ratifizierten Fakultativprotokoll vom 19.12.1966
(Artikel 22) enthalten, es gilt damit nur für diese Staaten.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte die Kinderrechtskonvention zunächst nur unter fünf Vorbehalten ratifiziert.11 Der derzeitig noch gültige
vierte ausländer- und asylrechtliche Vorbehalt betrifft die Rechte von Flüchtlingskindern, die für die Bundesrepublik Deutschland nicht uneingeschränkt
gelten. Der Vorbehalt wirkt sich so aus, dass das deutsche Ausländer- und
Asylrecht den Vorschriften der Kinderrechtskonvention vorgeordnet werden.
Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling zwischen 16 und 18 Jahren kann
wieder abgeschoben werden, da Deutschland asylrechtlich Flüchtlingskin11
Vorbehaltserklärung zu Artikel 18 Abs. 1, Artikel 38 Abs. 2 und Artikel 40 Abs. 2
Buchstabe b der Kinderrechtskonvention. – Ein allgemeiner Vorbehalt lautete: „Die
Bundesrepublik Deutschland erklärt zugleich, dass das Übereinkommen innerstaatlich
keine unmittelbare Anwendung findet. Es begründet völkerrechtliche Staatenverpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland nach näherer Bestimmung ihres mit dem
Übereinkommen übereinstimmenden innerstaatlichen Rechts erfüllt.“
Vier Punkte sind inzwischen durch Änderungen im Kindschaftsrecht 1998, bei der kindund jugendgerechten Auslegung des Jugendstrafrechts sowie durch Ratifizierung des
Fakultativprotokolls über eine Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten im Jahr
2002 geregelt. – Bei letzterem Vorbehalt übte allerdings die Bundesrepublik Deutschland zu Recht deutliche Kritik und bemängelte, dass laut Kinderrechtskonvention Artikel
38 (2) bereits Fünfzehnjährige als Soldaten an Feindseligkeiten teilnehmen dürften. Erst
mit dem 2002 von bisher 92 Staaten ratifizierten ‚Fakultativprotokoll über die Beteiligung
von Kindern an bewaffneten Konflikten’ wurde die Altersgrenze auf 18 Jahre festgelegt.
107
der den Status als Kind nur bis zum vollendeten 16. Lebensjahr zugesteht.
Aufgrund dessen werde der besonderen Schutzbedürftigkeit unbegleiteter
minderjähriger ausländischer Flüchtlinge in Deutschland nicht ausreichend
Rechnung getragen, so die Kritik.12 Die Kinderkommission des Deutschen
Bundestages13 fordert seit langem die Rücknahme des Vorbehaltes.
Implementierung der Kinderrechtskonvention in Deutschland:
• Unterzeichnung am 25. Januar 1990
• Zustimmung Bundestag und Bundesrat durch Gesetz am 17. Februar
1992, wobei die Bundesländer ihre Zustimmung nur unter der Voraussetzung gegeben hatten, dass die Bundesregierung von der Möglichkeit
eines Vorbehaltes Gebrauch macht
• Hinterlegung der Ratifikationsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen am 6. März 1992
• in Kraft treten am 5. April 1992
• Nach Paulo David lassen sich die Neuerungen in der Kinderrechtskonvention so zusammenfassen:
• Wandel von Wohlfahrt- oder Mitleidsperspektive zu einer Perspektive
(des Einforderns und Respektieren) von Rechten
• Integration der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte gemäß dem Unteilbarkeitspostulat (in keinem anderen internationalen Menschenrechtsvertrag enthalten!)
• Anerkennung der Partizipationsrechte und zukünftige Sicherung des den
Kindern zustehenden angemessenen Entscheidungsraumes. (David
2002)
Zu Recht hielt Fritzsche fest, dass Kinder wie Frauen, Flüchtlinge, Asylsuchende, Minderheiten oder Arbeitsmigranten als „verletzliche Gruppe“
gelten, für die eine Art verstärkter Schutz sich herausgebildet habe. Dies
12
Schätzungen gehen von ca. 2.000 Neueinreisen von unter 18-jährigen Unbegleiteten
pro Jahr aus. Die Zahl der in Deutschland insgesamt Lebenden wird auf 5.000 bis 10.000
geschätzt. (vgl. Riedelsheimer 2006, S. 23)
13
1988 wurde durch Vorschlag des Ältestenrates des Deutschen Bundestages die
‚Kommission zur Wahrnehmung der Belange des Kindes‘ gebildet, die jeweiligen Kinderbeauftragten der einzelnen Bundestagsfraktionen wurden als Kinderkommissionen
eingesetzt. Die Kinderkommission ist ein Unterausschuss des Bundestagsausschusses
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie kann Beschlüsse nur mit Einstimmigkeit
fassen, ein eigenes Initiativ- und Antragsrecht im Bundestag hat sie nicht. Trotz dieser
Restriktionen ist es als wichtiger Erfolg der Einbeziehung dieser Fragen in die parlamentarische Beratung und Entscheidungsfindung zu sehen, wobei die Kinderkommissionen
nur als Anfangspunkt angesehen werden kann.
108
bedeute aber nicht, dass Menschenrechte in Sonderrechte aufgelöst würden, sondern „die Menschenrechte werden gemäß einer außerordentlichen
Verletzlichkeit mit einem außerordentlichen Schutz ausgestattet, der allererst den Genuss gleicher Rechte für diese Gruppen ermöglichen kann.“
(Fritzsche 2004, S. 115)
Kinderrechtsstrategie der EU
Die Europäische Union besitzt nach den EU-Verträgen und der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes keine generellen Befugnisse auf
dem Gebiet der Grundrechte. Allerdings fordert Artikel 6 des EU-Vertrages
von 1993 die Achtung der Grundrechte, wie sie in der 1950 unterzeichneten
„Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (s.u.) gewährleistet wurde.
Das Europäische Parlament hatte bereits 1992 eine Entschließung (Europäische Charta der Rechte des Kindes - A3-0172/92) angenommen, mit der
die Europäische Kommission aufgefordert wurde, eine Charta der Rechte
des Kindes auszuarbeiten, die die in der Kinderrechtskonvention festgelegten Grundsätze enthalten sollte.
Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der
EU und des Präsidenten der Europäischen Kommission, beauftragte 1999 in
Köln einen Konvent mit der Erarbeitung einer ‚Charta der Grundrechte der
Europäischen Union‘. Die Charta wurde von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission zum Auftakt des Europäischen Rats von Nizza 2000 proklamiert. Die Charta umfasst alle Personenrechte und folgt damit dem Grundsatz der Unteilbarkeit der Grundrechte. Sie
bricht mit der bislang vorherrschenden Unterteilung zwischen Bürger- bzw.
Zivilrechten und politischen Rechten einerseits sowie wirtschaftlichen und
sozialen Rechten andererseits, wie sie beispielhaft in den VN-Zwillingspakten enthalten ist. Die Grundrechte-Charta enthielt mit Artikel 24 einen
eigenen Passus, in dem die Rechte des Kindes festgeschrieben wurden:
„Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung
wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und
ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. Bei allen Kinder
betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen
muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Jedes Kind hat
109
Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte
zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“14
Geltung sollte die Grundrechte-Charta als zweiter Teil des 2004 verabschiedeten ‚Vertrages über eine Verfassung für Europa‘ erlangen, seine
Ratifizierung wurde bekanntermaßen durch die ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gestoppt.
Die Grundrechte-Charta ist in dem 2007 verabschiedeten ‚Vertrag von
Lissabon‘ (‚EU-Reformvertrag‘) durch eine Intervention der britischen Regierung unter Tony Blair nicht mehr vorgesehen. Rechtsverbindlichkeit hätte sie
dennoch durch eine Erwähnung in Artikel 6 des EU-Vertrages15 erlangt, dort
war die rechtliche Gleichrangigkeit der Charta mit den Verträgen festgeschrieben.16 Großbritannien und Polen hatten jedoch für die GrundrechteCharta eine Nichtbeteiligung festgelegt. Allerdings gelang es in der Regierungskonferenz von Oktober 2007, die Rechte des Kindes als eines der Ziele
der Europäischen Union in den derzeit noch nicht gültigen Lissaboner Vertrag einzubeziehen und so zukünftig einen neuen rechtlichen Rahmen für
Kinderrechte zu schaffen (Artikel 3 EU-Vertrag: Schutz der Rechte des Kindes). Die Ablehnung der Iren im Juni 2008 stoppte jedoch den gesamten
Prozess. Die Grundrechte-Charta ist bisher in der Europäischen Union keine
rechtlich bindende Kodifizierung.
Ausgehend von den ‚Strategischen Fünfjahreszielen‘ der Europäischen
Kommission von Januar 2005, in denen dem Schutz der Rechte der Kinder
eine besondere Priorität eingeräumt wurde (KOM 2005, 12), wurde dies
2006 in einem „Non-Legislative Initial Document“ konkretisiert. Darin
sprach sich die Kommission für die Einführung einer Strategie der EU zur
Förderung und zum effektiven Schutz von Kinderrechten aus: Bei allen internen und externen EU-Maßnahmen müssten die Kinderrechte gemäß den
Grundsätzen des EU-Rechts geachtet werden und uneingeschränkt den
Prinzipien und Bestimmungen der Kinderrechtskonvention und anderen
internationalen Rechtsinstrumenten entsprechen.17 Tagungen des Europäischen Forums für Kinderrechte sollen Strategien zur Umsetzung der Kinderrechte entwickeln.
14
Amtsblatt der Europäischen Union C 303/1 vom 14.12.2007.
Artikel 6: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der
Charta der Grundrechte der Europäischen Union (…) niedergelegt sind; die Charta der
Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.“
16
Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 15.4.2008.
17
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: KOM (2006) 367 vom 4.7.2006.
15
110
Europäische Menschenrechtskonvention
Die Mitglieder des 1949 gegründeten Europarates (einer derzeit 47 Mitgliedsstaaten umfassenden europäischen internationalen Organisation, die
institutionell nicht mit der Europäischen Union verbunden ist) verabschiedeten 1950 die ‚Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten‘, die 1953 in Kraft trat. (vgl. insg.: Grabenwarter 2008)
Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält neben zivilen und
politischen Rechten und Freiheiten auch ein System zur Durchsetzung der
von den Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen. Die Einhaltung der
Konvention sollte zunächst u.a. die 1954 gegründete Europäische Kommission für Menschenrechte gewährleisten, deren Aufgaben 1998 von dem
durch das 11. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention
geschaffenen, mit neuen Befugnissen ausgestatteten bereits seit 1959
existierenden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in
Straßburg alleinzuständig übernommen wurde. Dieser kann, ohne dass
vorab ein staatliches Gremium sich der Menschenrechtsbeschwerde annehmen muss, direkt von Einzelpersonen, aber auch Gruppen angerufen
werden.
Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält neben der Gedanken- und Gewissensfreiheit (Artikel 9), der Freiheit der Meinungsäußerung
(Artikel 10) und der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 11)
weitere Rechte, die in nachträglich verabschiedeten Zusatzartikeln ergänzt
wurden (Recht auf freie und geheime Wahlen – Protokoll Nr. 1, Zusatzartikel
3). Durch das in Artikel 14 festgelegte Verbot der Benachteiligung gelten
diese Rechte und Freiheiten uneingeschränkt für Alle („ohne Unterschied …
der Geburt oder des sonstigen Status“).
Das ‚Europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten‘
wurde vom Europarat im Januar 1996 verabschiedet und trat im Juli 2000 in
Kraft.18 Ziel war es, die Kinderrechtskonvention insbesondere in familienrechtlichen Verfahren, verfahrensrechtlich zu ergänzen. Kindern werden
prozessuale Rechte einschließlich Auskunftserteilung und Teilnahme an
Verfahren gewährt.
18
Von den 47 Mitgliedsstaaten haben das Übereinkommen bisher 13 ratifiziert (Stand
Mai 2009). In der Bundesrepublik Deutschland trat es im Juli 2002 in Kraft.
111
Kinderrechte im Grundgesetz
Sollen Kinderrechte explizit als Grundrecht oder in der Form von Staatszielen aufgenommen werden? Staatsziele müssen durch Gesetze konkret
umgesetzt werden, sie verpflichten zwar den Staat, dieses Ziel zu verfolgen,
subjektive Rechte werden damit allerdings nicht begründet. Dies ist der
entscheidende Nachteil von Staatszielbestimmungen, sie sind damit nicht
einklagbar. Kinderrechte können folglich nur als Grundrecht in der Verfassung verankert werden.
1993 hatte im Rahmen der ‚Gemeinsamen Verfassungskommission‘ von
Bundestag und Bundesrat (vgl. dazu Fischer 1995) ein Antrag zur Aufnahme
von Kinderrechten vorgelegen.19 Artikel 6 des Grundgesetzes sollte folgendermaßen neu gefasst werden: „(…) (Absatz 4) Kinder haben ein Recht auf
Wahrung und Entfaltung ihrer Grundrechte sowie auf Entwicklung zu
selbstbestimmungs- und verantwortungsfähigen Persönlichkeiten. (Absatz
5) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und
die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft. Die wachsende Fähigkeit der Kinder zu selbstständigem, verantwortlichem Handeln ist zu berücksichtigen. Kinder sind
gewaltfrei zu erziehen.“ (Drucksache 12/6000, S. 56) Der Antrag erzielte
zwar eine knappe Mehrheit (24:22:2), verfehlte aber die mit den Einsetzungsbeschlüssen verabredete notwendige Zweidrittelmehrheit.
Bereits 1992 hat die Jugendministerkonferenz sich für die Aufnahme
eines speziellen ‚Kindergrundrechts‘ auf Entwicklung und Entfaltung ausgesprochen. Im Jahr 1998 hat die Jugendministerkonferenz erneut einen Beschluss zur stärkeren Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz sowie
in den Länderverfassungen als Umsetzung der VN-Kinderrechtskonvention
gefasst. „Es wird als ein wesentlicher Schritt zur Umsetzung der Kinderrechtskonventionen angesehen, die elementaren Rechte eines jeden Kindes
auf Entwicklung und Entfaltung unmittelbar im Grundgesetz und in den
Länderverfassungen zu verankern.“ Der VN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes hat in seinen sog. „concluding observations“, seinen zusammenfassenden Beobachtungen, zum Staatenbericht Deutschlands 1995 und wiederum 2002 ausdrücklich die Anregung aufgenommen, Kinderrechte auch in
die bundesdeutsche Verfassung aufzunehmen.
19
Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Drucksache 12/6000 vom
5.11.1993, S. 54-60. Die Kommission sollte nach der Wiedervereinigung eine Änderung
oder Ergänzung des Grundgesetzes prüfen.
112
Alt-Bundespräsident Roman Herzog regte 2006 erneut an, die Aufnahme von
Kinderrechten in das Grundgesetz zu prüfen, Kinderrechte und Familienrechte müssten nebeneinander stehen. Im Bundesrat forderten die Bundesländer Bremen und Rheinland-Pfalz im September 2008 die Bundesregierung
auf, einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vorzulegen, in
dem Grundrechte der Kinder ausdrücklich normiert werden. Zu berücksichtigen seien dabei die Achtung der Kindeswürde und das Recht der Kinder auf
Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden
Selbstständigkeit im Rahmen des elterlichen Erziehungsrechts, eine gewaltfreie Erziehung sowie der Schutz vor Vernachlässigung und Ausbeutung.
(Drucksache 445/08) Dieser Antrag fand – ein Tag vor dem Weltkindertag –
keine Mehrheit.
Das Aktionsbündnis Kinderrechte schlägt aktuell folgende Kernelemente
für eine Verfassungsänderung vor, die der VN-Kinderrechtskonvention entnommen sind:
Vorrang des Kindeswohls bei allen Kinder betreffenden Entscheidungen
Recht des Kindes auf Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit
Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung
Recht des Kindes auf Schutz, Förderung und einen angemessenen Lebensstandard
• Recht des Kindes auf Beteiligung, insbesondere die Berücksichtigung
seiner Meinung entsprechend Alter und Reifegrad
• Verpflichtung des Staates, für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge
zu tragen20
•
•
•
•
Die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz würde Kinder als selbstständige Träger eigener Grundrechte legitimieren, ihnen eigene Rechtspositionen gegenüber Anderen zuweisen und dem einzelnen Kind subjektive
Ansprüche und eine starke Rechtsposition, etwa in Form einer Verfassungsbeschwerde, verleihen. Kinder finden im Grundgesetz – wie oben
dargestellt – bisher nur in Artikel 6 Erwähnung, allerdings nur als ‚Regelungsgegenstand‘ und nicht als ein originäres Rechtssubjekt. Die Eltern
haben aus Artikel 6 ein verfassungsrechtlich garantiertes, institutionell
abgesichertes Elternrecht. Derartige eigene Rechte gewährt das Grundgesetz
Kindern bisher nicht. Damit sind Kinder gegenüber der Institutsgarantie des
Elternrechtes zwingend benachteiligt. Würden eigene Kinderrechte in das
Grundgesetz aufgenommen, würde sich bei Abwägung zwischen der Eltern20
Hintergrundpapier des „Aktionsbündnis Kinderrechte“, o.O.u.J. (2007).
113
stellung und der Stellung der Kinder eine gewichtsmäßige Veränderung
ergeben. Das Elternrecht könnte nicht mehr dominieren.
Die Vorteile einer Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz sind
evident:
• Eltern müssen sich bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten
gegenüber Kindern am Vorrang des Kindeswohls orientieren
• der Staat würde stärker in die Pflicht genommen
• Kinder können bei Verletzung ihrer Rechte Verfassungsbeschwerde erheben
• Eltern müssen bei der Ausübung ihres Rechts mit wachsender Einsichtsfähigkeit der Kinder deren Rechte berücksichtigen und sie an allen sie
betreffenden Entscheidungen beteiligen (Aktionsbündnis Kinderrechte
(Hrsg.): Kinderrechte ins Grundgesetz. Hintergrundpapier, o.O.u.J.)
Das Saarland änderte im Juli 2007 die Verfassung und nahm mit Artikel 24a
und 25 Kinderrechte in die Verfassung auf: „Jedes Kind hat das Recht auf
Achtung und Würde, auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit,
auf Bildung sowie auf gewaltfreie Erziehung zu Eigenverantwortung und
Gemeinschaftsfähigkeit. Jedes Kind hat ein Recht auf besonderen Schutz vor
Gewalt, Vernachlässigung, Ausbeutung sowie leiblicher, geistiger oder
sittlicher Verwahrlosung. – Das Land und die Gemeinden und Gemeindeverbände und die sonstigen Träger öffentlicher Gewalt achten und sichern die
Kinderrechte, tragen für altersgerechte positive Lebensbedingungen Sorge
und fördern die Kinder nach ihren Anlagen und Fähigkeiten.“ Die Landtagsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU hatten gemeinsam
den entsprechenden Gesetzentwurf erarbeitet, eingebracht und beschlossen.21
Kinderwahlrecht
Kinder und Jugendliche haben nach Artikel 38 Absatz 2 GG kein Wahlrecht,
obwohl in Artikel 20 Absatz 2 GG festgeschrieben ist, dass alle Macht vom
Volk ausgeht, also auch von den unter 18 Jährigen. An der Konstitution der
21
Kinderrechte sind auch in den Landesverfassungen von Brandenburg (Art. 27), Bremen
(Art. 25), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 14), Nordrhein-Westfalen (Art. 6) und Rheinland-Pfalz (Art. 24) enthalten. Schleswig-Holstein (Art. 47e) und Niedersachsen (Art. 22e)
haben Kinderrechte in ihre Gemeindeordnungen integriert.
114
Volkssouveränität wirken diese folglich nicht mit, obwohl sie unbezweifelbar Mitglieder des Staatsvolkes sind. Artikel 38 Absatz 1 GG weist die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als „Vertreter des ganzen Volkes“
aus, dennoch werden sie nur von einem Teil des Volkes gewählt. Auch ist
generell anerkannt, dass das aktive Wahlrecht ein politisches Grundrecht
ist. Historisch betrachtet wurde das Wahlalter mehrmals gesenkt, das Wahlrecht ausgeweitet. Mit der 27. Änderung des Grundgesetzes von Juli 1970
wurde zuletzt das Wahlalter bei Bundestagswahlen vom 21. auf das 18.
Lebensjahr gesenkt.22
Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes verweist in dieser
Frage darauf, dass eine Begrenzung der Allgemeinheit der Wahl verfassungsrechtlich nur zulässig sei, sofern ein zwingender Grund bestehe.
(BVerfGE 28, 220 [225]) Die Verbindung der Ausübung des Wahlrechts an
die Erreichung eines Mindestalters wird somit als mit dem Grundgesetz
vereinbar angesehen. „Verfassungsprinzipien lassen sich in der Regel nicht
rein verwirklichen; ihnen ist genügt, wenn die Ausnahmen auf das unvermeidbare Minimum beschränkt bleiben. So ist das Demokratieprinzip und
das engere Prinzip der Allgemeinheit der Wahl nicht verletzt durch Einführung eines Mindestalters (...)". (BVerfGE 42, 312 [340 f.])23 In einer anderen
Entscheidung vertrat das Bundesverfassungsgericht eine eher gewohnheitsrechtliche Position: „So ist es etwa von jeher aus zwingenden Gründen als
mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, dass die Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters geknüpft wird.“ (BVerfGE 36, 139 [141]) Das Bundesverfassungsgericht schränkt also ein, die Allgemeinheit der Wahl sei nicht in voller Reinheit zu verwirklichen, wenn es zwingende Gründe für ihre Einschränkung
gebe. Das Wahlrecht sei in Deutschland stets immer begrenzt gewesen. Die
22
Die Herabsetzung des Einberufungsalters der Bundeswehr von 21 auf 18 Jahren hatte
diese Wahlrechtsreform ausgelöst. Die Grundgesetzänderung wurde mit einer sehr
breiten Mehrheit von 441 Ja-Stimmen bei 10 Enthaltungen verabschiedet. Bei Einführung
des allgemeinen Wahlrechts (für Männer) zunächst 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bundes und dann ab 1871 im Kaiserreich lag das Wahlalter für Männer bei 25
Jahren. In der Weimarer Republik lag das Wahlalter bei 21 Jahren.
23
1995 lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen das
Mindestwahlalter aus formalen Gründen ab, dies hätte nur ein Jahr nach Verabschiedung
des Grundgesetzes erfolgen können. Versuche noch Nicht-Wahlberechtigter, sich 1998
bei der Bundestagswahl in die Wahllisten einzutragen, scheiterten ebenfalls. Ein Verwaltungsgerichtsverfahren konnte nicht rechtzeitig vor der Wahl vollendet werden, die
anschließende Wahlprüfungsbeschwerde wurde vom Bundestag abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die darauf folgende Beschwerde als unbegründet ab.
115
herrschende Rechtsauslegung geht davon aus, dass das Wahlrecht zudem
unübertragbar ist.
Etwa 14 Mio. Kinder und Jugendliche sind in Deutschland vom Wahlrecht
bei Bundestagswahlen ausgeschlossen. Im politischen Raum existieren im
Wesentlichen vier unterschiedliche Modelle und Vorschläge, den Stimmlosen ein Stimmrecht in Form eines Kinder- bzw. Jugendwahlrechtes zu gewähren:
• Wahlrecht ohne Altersgrenze (selbst auszuübendes Wahlrecht ab Geburt)
• Wahlrecht ab Geburt und Übertragung der Ausübung für die Zeit der Minderjährigkeit auf die Eltern (Treuhänder- oder Stellvertreterwahlrecht der
Eltern – Elternwahlrecht)
• Familienwahlrecht, also die Erhöhung der originären Stimmen der Eltern
pro Kind
• Absenkung des Wahlalters
Die Argumentationen der einzelnen Modelle sehen folgendermaßen aus: Die
Maximalforderung eines Wahlrechts ohne jegliche Altersgrenze, also eines
selbst auszuübenden Wahlrechts ab Geburt, wird etwa von der Berliner
Kinderrechtsgruppe ‚KRÄTZÄ‘ vertreten. (Weimann 2002) Niemand solle aufgrund seines Alters daran gehindert werden, an einer Wahl teilzunehmen.
Daher lehnen Vertreter dieser Position eine Senkung des Wahlalters als eine
reine quantitative Veränderung kategorisch ab, jede Grenze des Wahlalters
sei undemokratisch, da in einer Demokratie alle Menschen, die von Entscheidungen betroffen seien, am Zustandekommen dieser Entscheidungen
beteiligen werden müssten. Das Wahlrecht ohne Altersgrenze sei ein Recht,
aber keine Verpflichtung zur Wahl, es sei die persönliche Entscheidung
eines jeden, sich in ein Wählerverzeichnis einzutragen, um dann an einer
Wahl teilzunehmen. Kindern stehe damit das Wahlrecht prinzipiell zu, diese
machen dann aber selbstständig davon Gebrauch, wenn sie selbst die
bewusste Entscheidung dazu treffen. Vertreter des Wahlrechtes ohne Altersgrenze argumentieren mit der unterstellten Verfassungswidrigkeit des
Artikels 38, Absatz 2 des Grundgesetzes, der das Wahlrecht erst mit der
Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt. Dieser verstoße gegen Artikel 1
(Menschenwürde) und die Staatsfundamentalnorm des Artikel 20 Absatz 2
Grundgesetz („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in
Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“), die beide zudem durch die
Ewigkeitsgarantie des Artikel 79 Absatz 3 erfasst werden. Nach dieser Auf116
fassung sind Kinder Staatsbürger, damit Inhaber aller Staatsbürgerrechte
und generell Träger der Menschenwürde. Das Wahlrecht müsse also jedem
unabhängig von seinem Alter gewährt werden, die Vorenthaltung des aktiven Wahlrechtes sei verfassungsrechtlich unzulässig. (Merk 1997 S. 268
und 2002, S 119f. und 129f.)
2003 brachte eine überfraktionelle Initiative von 46 Bundestagsabgeordneten einen Antrag ein (Bundestags-Drucksache 15/1544), der ein ‚Wahlrecht von Geburt an‘ forderte, dass Wahlrecht sollte aber treuhänderisch von
den Eltern ausgeübt werden.24 Der Begriff „Wahlrecht von Geburt an“ ist irreführend, da ja Kinder eben nicht das Wahlrecht bekommen, sondern ihre
Eltern es stellvertretend für sie ausüben. Zwar stehen Minderjährigen Grundrechte zu, da sie diese aber noch nicht wahrnehmen können, sieht das
Rechtssystem die Möglichkeit der Stellvertretung vor und weist das Wahlrecht in diesem Fall den Eltern zu. Aufgrund der eingeschränkten Geschäftsfähigkeit von Kindern müsse das Wahlrecht von dem gesetzlichen Vormund,
den Eltern, stellvertretend ausgeübt werden. Diese Argumentation folgt der
Unterscheidung zwischen Rechtsfähigkeit und Handlungs- bzw. Geschäftsfähigkeit. Das Elternwahlrecht wird auch aus Artikel 1626 BGB25 (Elterliche
Sorge) und 1629 BGB (Vertretung des Kindes) abgeleitet. Interessanterweise
stützt Merk juristisch auch dieses Modell: es sei anzuerkennen, „dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter, seien es 7, 10, 12 oder 14 Jahre nicht
über einen hinreichenden gesellschaftlichen Erfahrungshorizont verfügen,
mit der Überforderung bei der Ausübung des Wahlrechts.“ (Merk 1997,
S. 266) Die Problemlösung stelle unter Rückgriff auf Artikel 6 GG dar, dass
„diejenigen vertretungsweise das Grundrecht ausüben“, die auch sonst
vertretungsweise sämtliche Entscheidungen für diesen Personenkreis treffen, die Eltern.26
Als Kritik wird angeführt, dass ein solches Elternwahlrecht Kindern und
Jugendlichen politische Unmündigkeit und mangelndes Urteilsvermögen
24
Auch 2008 eingebracht, bisher nicht beraten.
§ 1626 Abs. 2 BGB: Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen
Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen
an.
26
Für den möglichen Kollisionsfall zwischen der Wahlentscheidung der Eltern und dem
(anderen) politischen Willen des vertretenen Kindes bzw. der Nichtwahlteilnahme der
Eltern etwa aus politischem Desinteresse bringt Merk eine flexible Altersgrenze in die
Diskussion. Die Vertretungsbefugnis der Eltern ende, wenn das Kind sich in das Wählerregister eintragen lasse. (Merk 1997, S. 267)
25
117
unterstelle. Ein Elternwahlrecht widerspreche auch dem Grundsatz der
gleichen Wahl. Jede Wahlentscheidung müsse zudem persönlich getroffen
werden, der politische Wille ist nicht übertragbar.
Das Familienwahlrecht27 ist in der Konsequenz gleich mit dem Vorschlag
des Elternstimmrechts, die Begründung ist jedoch eine fundamental andere.
Das Familienwahlrecht will Familien mit Kindern ein ihrem Anteil an der
Bevölkerung entsprechendes politisches Gewicht gewähren. Es biete somit
die Möglichkeit, die soziale Schieflage zu Lasten von Familien zu beheben
und nicht nur in der Gegenwart, sondern auch an der Zukunft orientierte
politische Entscheidungen zu ermöglichen. Dies gelte in besonderem Maß
für die staatlichen sozialen Sicherungssysteme. (Nopper 1999, S. 166 f.)
Diesem Modell geht es folglich nicht um die Ausweitung des Wahlrechts für
Minderjährige, sondern allein um die größere politische Repräsentanz von
Familien. Das Hauptbedenken, das gegen ein Familienwahlrecht im Sinne
eines Mehrstimmenmodells bzw. eines Pluralwahlrechtes vorgebracht wird,
ist die elementare Verletzung des Verfassungsgrundsatzes der Gleichheit
der Wahl.
Eine Forderung der Absenkung des Wahlalters wird sowohl im wissenschaftlichen wie im politischen Raum seit einiger Zeit erhoben. Klaus
Hurrelmann sprach sich bereits 1997 für eine Senkung des Wahlalters auf
14 Jahre aus. (Hurrelmann 1997, S. 288) Er begründete dies, gestützt auf
Forschungsbefunde, mit der Vorverlagerung von Verselbstständigungs- und
Entscheidungsprozessen in den Lebensläufen verbunden mit neuen Entwicklungsdynamiken und einer früheren Urteilsfähigkeit. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen forderte 2007 die Absenkung des
Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre28 (Bundestags-Drucksache
16/6647), die niedersächsische grüne Landtagsfraktion sprach sich 2008
dafür aus, das Wahlalter bei Kommunal- und Landtagswahlen auf 14 Jahre
zu senken. Eine Senkung des Wahlalters muss jedoch in eine umfassende
Strategie eingebunden werden. Dazu gehört neben einer Verstärkung und
Verbesserung der politischen Bildung (Vorholt 2003) auch weitere Maß27
Die Idee des Familienwahlrechts ist nicht neu, bereits der Kreisauer Kreis forderte für
jedes nicht wahlberechtigte Kind eine zusätzliche Stimme für Familienväter. (Vgl.
Mommsen 2000, S. 114) Carl Goerdeler sprach sich bei Verheirateten mit mindestens
drei Kindern für ein doppeltes Stimmrecht des Vaters aus. (Ritter 1954)
28
Der derzeitige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes Prof. Dr. Andreas Voßkuhle forderte im April 2009 öffentlich eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Die
grüne Bundestagsfraktion legte im Mai 2009 erneut einen Antrag zur Absenkung des
Wahlalters auf 16 Jahre vor.
118
nahmen zur politischen Partizipation von Kindern und Jugendlichen auf
allen politischen Ebenen. (vgl. allg.: Frädrich / Jerger-Bachmann 1995)
Auch die juristische Kommentierung weist in der Frage der Wahlrechtsgrenze keine eindeutige Stellungnahme aus. Sie reicht von individuellen
Einsichtsfähigkeiten (‚Reife‘) bis zu differenzierten Regelungen zur Akzeptanz von Altersgrenzen. Ein einschlägiger Grundgesetzkommentar schreibt,
die Einschränkung ergebe sich aus dem Wesen des Wahlrechts und sei
historisch erhärtet, zumal für die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes in der Frage des Wahlalters kein Raum sei. (Maunz / Düring: Kommentar zum Grundgesetz, Artikel 38-Randnummer 40) Diese Argumentation des
‚das war schon immer so‘ zeigt jedoch, dass eine Entscheidung über diese
Fragen ausschließlich politisch, also über eine Grundgesetzänderung erfolgen kann.
Zwei Gründe sollen noch ausführlich bewertet werden, da sie in der öffentlichen Debatte immer wieder bemüht werden: das Wahlrecht müsse
erstens höchstpersönlich ausgeübt werden und zweitens benötige man
dazu eine entsprechende Einsichts- oder Entscheidungsfähigkeit (Verstandesreife).
Für das Wahlrecht gilt die sogenannte Höchstpersönlichkeit. Diese ist
aber nicht direkt im Grundgesetz verankert, sie lässt sich aus den Grundsätzen der unmittelbaren, freien und geheimen Wahl ableiten. Enthalten ist der
Grundsatz im Bundeswahlgesetz: „Jeder Wahlberechtigte kann sein Wahlrecht nur einmal und nur persönlich ausüben.“ (Art. 14 Abs. 4 BWahlG) Der
Grundsatz der Höchstpersönlichkeit wird in der Praxis bereits durch die
Briefwahl und die Wahlhilfe durch einen Wahlhelfer durchbrochen. In Frankreich und den Niederlanden gibt es das sogenannte proxy voting, das Wahlrecht wird mittels Vollmacht an eine andere Person delegiert.
In der Diskussion wird immer das Kriterium der Einsichts- oder Entscheidungsfähigkeit bzw. der Verstandesreife als Voraussetzung für das Wahlrecht herangezogen. Dies ist zwar generell bedenkenswert, wird aber nicht
konsequent angewandt. Bei Volljährigen wird diese Verstandesreife generell
unterstellt, selbst wenn sie nicht in jedem Einzelfall gegeben ist. ‚Reife‘ ist
ein zu pauschales Kriterium zur Bestimmung der Voraussetzung für die
Wahlberechtigung. Da es eine objektiv messbare ‚Wahlreife‘29 nicht gibt,
29
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Befunde von Kohlberg. Nur mit dem
Erreichen des Erwachsenenalters lasse sich keine „Weisheit“ verknüpfen. (Kohlberg
1997, S.78) Die Mehrheit der Erwachsenen argumentiere auf dem konventionellen
Niveau, in Kohlbergs Stufenschema also die mittleren Stadien 3 bzw. 4. „Der konventio-
119
kann das Wahlalter letztlich nur politisch festgelegt werden. Dies erfolgt in
der politischen Praxis. Einige Bundesländer haben bei Kommunalwahlen
das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern,
Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein).
Wahlrechte für Minderjährige existieren in verschiedenen Arbeits- und
Lebensbereichen. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Landespersonalvertretungsgesetze gewähren den Auszubildenden für die Jugend- und Auszubildendenvertretungen das aktive wie passive Wahlrecht. Auf Schulebene
existiert ein Wahlrecht für jede Klasse, Kurs bzw. Jahrgangsstufe sowie die
Schülervertretung, die Wahl in schulische Mitwirkungsorgane (z.B. Schulkonferenz) ist ab der siebten Klasse möglich. (Schulgesetz NRW) Die deutschen Parteien ermöglichen eine Mitgliedschaft ab 15 bzw. 16 Jahren einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechtes.30 Die auf kommunaler
Ebene existierenden Kinder- und Jugendparlamente (bzw. Räte, Foren) ermöglichen bis in die Grundschulen hinein Wahlrechte.
Interessant ist der internationale Vergleich des Mindestalters bei nationalen Wahlen. In der überwiegenden Mehrzahl der Staaten liegt es bei 18
bzw. 21 Jahren. Österreich senkte 2007 generell das Wahlalter auf 16 Jahre.
Brasilien (Wahlpflicht zwischen 18 und 69 Jahren), Iran, Kuba und Nicaragua
haben ebenfalls ein Wahlrecht bereits mit 16 Jahren, die Seychellen und
Nordkorea mit 17 Jahren. Indonesien, das ein Wahlalter von 17 Jahren hat,
setzt dies für Verheiratete herunter. Bosnien und Herzegowina, Kroatien
sowie Slowenien gewähren unter der Voraussetzung einer Berufstätigkeit
bereits ein Wahlrecht mit 16 Jahren.
Ein realistischer politischer Kindheitsbegriff, der davon ausgeht, dass
Kinder informierte Entscheidungen treffen können, muss an die Sprachfähigkeit anknüpfen (ca. 9. Lebensjahr). Generell lässt sich festhalten, dass
mit dem 14. Lebensjahr Regeln und Werte unabhängig von der eigenen
Lebenslage wahrgenommen werden können, begründete Urteile vollzogen
werden und allgemein die Fähigkeit entwickelt ist, logisch und abstrakt zu
nellen Ebene sind in unserer und in anderen Gesellschaften die meisten Jugendlichen
und Erwachsenen zuzurechnen. Die postkonventionelle Ebene wird von einer Minorität
von Erwachsenen erreicht, und das in der Regel erst nach dem 20. Lebensjahr.“ (Kohlberg 1997, S. 126) Diese konventionelle Stufe können Jugendliche im Alter von 12 Jahren
erreicht haben.
30
Die Satzung von Bündnis 90/Die Grünen kennt kein Mindestalter. Einige Länder
definieren jedoch ein Mindestalter, NRW beispielsweise mit 15 Jahren. In der Praxis
werden jedoch höchst selten Mitgliedsanträge von Personen unter 14 Jahren gestellt.
(Auskunft Pressestelle)
120
denken. (vgl. Hurrelmann 1997) In diesem Alter ist die moralische und soziale Urteilsfähigkeit gegeben. Bei der zentralen Bedeutung des Wahlrechts
in einer Demokratie ist es politisch legitim, die im Wahlakt liegende Ausübung von Staatsgewalt und deren Folgen insbesondere für die Zukunft auf
diejenigen zu beschränken, die in der Lage sind, diese Verantwortung für
die Demokratie zu übernehmen. Eine Senkung des Wahlalters ist auch aus
Sicht der partizipatorischen Demokratietheorie unerlässlich. Durch die
Teilnahme am politischen Prozess, insbesondere durch eine aktive Mitwirkung an Wahlen, werden (junge) Bürger zu Staatsbürgern. Das Ideal einer
Demokratie liegt in der politischen Beteiligung möglichst vieler an möglichst
vielem. (vgl. Meyer 2008) Insbesondere die jungen Bürger von wichtigen
Entscheidungen auszuschließen, die nachhaltig ihre Zukunft bestimmen, ist
kontraproduktiv. Ob das Wahlrecht generell an die Volljährigkeit gekoppelt
werden muss, sollte erörtert werden. Ein Zurückgreifen auf die Altersgrenze
der Volljährigkeit ist meiner Meinung nach nicht generell zu fordern. Bereits
in der Weimarer Republik waren Wahlalter und Volljährigkeit verschieden
(aktives Wahlrecht: 1 Jahr Differenz, passives Wahlrecht: 4 Jahre Differenz).
121
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