Udo Vorholt Menschenrechte und Kinderrechte: Wahlrechte? Es gibt ein Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt1) …auch Kinder haben Rechte, auch Wahlrechte? Menschenrechte Menschenrechte sind Rechte, die mit dem Menschsein als solchem gegeben sind. Menschenwürde ist in jedem Menschen in derselben Weise zu achten. (vgl. allg.: Bielefeldt 1998, Gosepath / Lohmann 1998) In Artikel 1 der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ heißt es denn auch: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Allgemein lässt sich folgende Kategorisierung der Menschenrechte vornehmen: • Abwehrrechte vor allem gegenüber dem Staat, um vor Willkür der Macht geschützt zu werden, • Teilnahmerechte, um den Staat mit zu gestalten, • Teilhaberechte, um die Lebensbedingungen gewährleistet zu bekommen, die es erst ermöglichen, die anderen Rechte wahrzunehmen. (Fritzsche 2004, S.21) • Man ist dazu übergegangen, die Entwicklung und Durchsetzung der Menschenrechte in drei Generationen zu unterteilen: • Die erste Generation beinhaltet die klassischen individuellen liberalen Schutzrechte (Recht auf Leben, Meinungs- und Redefreiheit, Rechtsstaatlichkeit) • Die zweite Generation umfasst individuelle Anspruchs- und Teilhaberechte im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich (Recht auf materiell gesicherte Existenz, Recht auf Gesundheit, Recht auf Arbeit). • Die dritte Generation2 erstreckt sich auf kollektive Solidaritätsrechte bzw. Anspruchsrechte wie das Recht auf intakte Umwelt, Recht auf Frieden, Recht auf Entwicklung; diese Rechte sind wesentlich abstrakter und unbestimmter. 1 Arendt 1986, S. 462. Ausgehend von der 1986 von der VN-Generalversammlung verabschiedeten ‚Erklärung zum Recht auf Entwicklung‘ konnten diese Rechte 1993 mit der Wiener Menschenrechtskonferenz und ihrer einstimmig verabschiedeten Abschlusserklärung sich etablieren. 2 95 Ein Durchbruch in der internationalen Menschenrechtsentwicklung war die Verabschiedung der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN). Sie beinhaltet bürgerliche, politische und soziale Rechte. Diese Rechte gelten nach Artikel 2 für alle Menschen, da diese „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Es sei darauf hingewiesen, dass die ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ nur eine Empfehlung der VN-Generalversammlung darstellt, sie war von den Mitgliedsstaaten weder zu unterzeichnen noch zu ratifizieren. Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurden in den Vereinten Nationen weitere kodifizierte Rechte mit allgemeiner Gültigkeit in einzelnen Konventionen getroffen: die beiden 1966 verabschiedeten und für die Signatarstaaten völkerrechtlich verbindlichen Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte3 (derzeit von 164 Staaten ratifiziert) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (derzeit von 160 Staaten ratifiziert), im Jahr 1966 die Internationale Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (derzeit von 173 Staaten ratifiziert), 1979 die Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (derzeit von 185 Staaten ratifiziert), 1984 die Anti-Folter-Konvention (derzeit von 146 Staaten ratifiziert), 1989 die Kinderrechtskonvention (derzeit von 193 Staaten ratifiziert [nicht von Somalia und den USA] ), 1990 die Wanderarbeiterkonvention (derzeit von 40 Staaten ratifiziert) und 2008 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (derzeit von 49 Staaten ratifiziert; Deutschland bisher nicht). Menschenrechte werden im Unterschied zu den naturrechtlichen, kontraktualistischen oder transzendentalen bzw. transzendentalpragmatischen Begründungen hier in der Kantischen Tradition als universalisierbar verstanden. (vgl. Tugendhat 1993) Die Konsequenz daraus ist, dass der Menschenrechtskatalog nie als unstrittiger, in sich konsistenter und abgeschlossener Normenkodex vorausgesetzt werden kann, sondern einer permanenten Überprüfung ausgesetzt ist. Die Formulierung von Menschenrechten unterliegt einem historischen Wandel, so wurden Frauenrechte in einem langen und bis heute andauernden Prozess erkämpft. (vgl.: Strzelewicz 1969) Zu einer Menschenrechtspolitik gehört unmittelbar auch eine Menschenrechtsbildung. (vgl. allg.: Lohrenscheit 2004; Lenhart 2006; Scherr 2007, 3 Der Zivilpakt wurde 1989 mit dem zweiten Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe ergänzt (70 Vertragsstaaten, Stand: Mai 2009). 96 Vorholt 2009) Diese dient der Vermittlung von Kenntnissen, der Förderung von Handlungskompetenzen sowie der Reflexion von Einstellungen und Haltungen auf der Grundlage menschenrechtlicher Normen und Prinzipien. Damit die emanzipatorische Intention der Menschenrechte Wirkung entfalten kann, bedarf es einer umfassenden Förderung von Kompetenzen, durch die Menschen die Fähigkeit entwickeln, ihre eigenen Rechte wahrzunehmen und sich solidarisch für die Rechte anderer einzusetzen. In der Präambel der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ wird ausdrücklich gefordert, dass durch Bildung die Achtung vor diesen Rechten zu fördern und durch nationale und internationale Maßnahmen ihre Anerkennung und Einhaltung zu gewährleisten sei. Damit ist die Menschenrechtsbildung integraler Bestandteil der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘. Rechtliche Stellung von Kindern Nach der Definition der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen gilt als Kind, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Nach deutschem Recht gilt als Kind, wer noch nicht 14, als Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. (vgl. allg.: World Vision Deutschland 2007, Bertram 2008) Die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen, die sich insbesondere im 19. Jahrhundert ausgeformt hatte, beinhaltete, dass sich Kindheit als Schutz-, Schon- und Lernraum herausbildete. Kindheit wurde in erster Linie als Vorbereitungsphase für das Erwachsenenleben wahrgenommen. Kinder wurden im Unterschied zu Erwachsenen als unreif, unfähig, nicht verantwortlich typisiert. In soziologischer Perspektive werden Kinder als „kompetente soziale Akteure“ verstanden, die ihre Lebensführung selbstständig disponieren und als Konsumenten über eine relative Autonomie verfügen, die sich mit Erwartungen an ihre frühe Selbstständigkeit verschränken. (vgl. Honig 1999, S. 157 f.) Die hier vertretene Position ist stärker sozialwissenschaftlich ausgerichtet und versteht Kindheit4 als soziales Konstrukt und als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. (Negt 1989, S. 29) Kindheit ist ein integraler Teil der Gesellschaft, nicht eine Phase oder Stufe. Kindheit kann wie Gender als gesellschaftliche Kategorie verstanden werden. Daraus abgeleitet können 4 Vgl. zur „Kindheitsforschung“ in den Sozialwissenschaften: Alanen 1994, Honig 1996, Honig u.a. 1999, Fölling-Albers 2001. 97 Kinder – analog der Arbeiter- oder der Frauenbewegung – als Subjekte ihrer eigenen Emanzipationsbestrebungen verstanden werden. Der Wandel der Kinderpolitikdebatte5 lässt sich historisch anhand der drei Positionen ‚protection, provision, participation‘ verdeutlichen. Nach der jetzigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Kinder Träger subjektiver Rechte (eigene Menschenwürde, Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit). Dies galt nicht immer: Das Bundesverfassungsgericht hat erst 1968 entschieden, dass Kinder selbst Träger von Grundrechten sind und ein eigenes Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit besitzen. „Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Artikels 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 1 GG.“ (BVerfGE 24, 119, 144) Das Bundesverfassungsgericht hatte die damals vorherrschende Interpretation der ‚Grundrechtsmündigkeit‘ zurückgewiesen, wonach Menschen, die noch nicht vollständig geschäftsfähig sind, auch nicht selbstständig ihre Grundrechte geltend machen können. Demgegenüber stellte das Bundesverfassungsgericht eindeutig fest, dass Kinder Grundrechtsträger sind. Kinder werden im Grundgesetz nur in Artikel 6 Abs. 2 erwähnt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Zwar sind die Eltern die Inhaber der Rechte gegenüber den Kindern. Das Bundesverfassungsgericht interpretiert jedoch das Elternrecht im Unterschied zu anderen Grundrechten als ‚Elternverantwortung‘ im Sinne einer Treuhänderschaft. Artikel 6 GG stellt folglich ein pflichtengebundenes Grundrecht dar, das seine Grenzen am Wohl des Kindes erfährt. Eine eigene Erwähnung der Kinderrechte würde das bisherige Verhältnis von Staat (‚Wächteramt‘) und Eltern-‚Verantwortung‘ um die dritte Dimension, die Kinder mit ihren eigenen Rechten erweitern. (s.u.) Aus Artikel 2 (1) und Artikel 1 (1) folgt die Grundrechtsposition des Kindes unmittelbar (‚Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit‘). Das Verhältnis des Elternrechts zum Persönlichkeitsrecht des Kindes wird durch die spezifische Aufgabe des Elternrechts bestimmt, dass ein Recht im Interesse des Kindes sei und das Kindesinteresse in das Elternrecht einfüge (Nevermann 1997, S. 55f). „Auf der verfassungsrechtlichen Ebene werden die Rechte des Kindes also einerseits durch den fiduziarischen Charakter des Elternrechts gewährleistet und andererseits durch das Grundrecht auf 5 Vgl. zum Thema Kinder und Politik: Meyer 1996, Sünker / Swiderek 2002, van Deth 2005. 98 freie Entfaltung der Persönlichkeit in Artikel 2 (1) Grundgesetz und anderen Grundrechten.“ (Nevermann, 1997, S. 58) Aus dem elterlichen Erziehungsrecht lässt sich kein freies Selbstbestimmungsrecht der Eltern ableiten. Das Elternrecht kann nur als anvertrautes Recht im Dienst und zum Nutzen des Kindes verstanden werden. (Sternberg-Lieben 1995, S. 43) Bestimmend sei das Kindeswohl, ihm sei der Vorrang vor den Elterninteressen einzuräumen. (Huster 2002, S. 253) Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil von April 2008 die Subjektstellung des Kindes noch einmal betont: „Denn das Kind ist nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, es ist Rechtssubjekt und Grundrechtsträger, dem die Eltern schulden, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten.“ (BVerfG, 1 BvR 1620/04 vom 1.4.2008, Abs. 71) In der Bundesrepublik gelten u.a. folgende Mündigkeitsstufen: • Volljährigkeit, volle Geschäftsfähigkeit: Vollendung des 18. Lebensjahres • Eidesfähigkeit, beschränkte Testierfähigkeit, Ehemündigkeit (Voraussetzung: Ehepartner volljährig und Zustimmung Familiengericht): Vollendung des 16. Lebensjahres • Antragsrecht (Sozialleistungen): Vollendung des 15. Lebensjahres • Weltanschauungs- und Religionsmündigkeit, beschränkte Strafmündigkeit, Anhörungs-, Beschwerde- und Antragsrecht in Vormundschaftsangelegenheiten: Vollendung des 14. Lebensjahres • beschränkte Weltanschauungs- und Religionsmündigkeit: Vollendung des 12. Lebensjahres • Anhörungsrecht bei Weltanschauungs- und Religionswechsel: Vollendung des 10. Lebensjahres Kinderrechte Kinderrechte sind universell, d.h. sie gelten für alle Kinder ohne Unterschied weltweit. Sie sind unteilbar, d.h. sie sind sowohl Freiheitsrechte als auch Gleichheitsrechte. Menschenrechte und Kinderrechte sind interdependent, d. h. sie bedingen sich gegenseitig und können nur als Ganzes vollständig verwirklicht werden. (Lohrenscheit 2006, S 6 f. – vgl. allg.: Carle / Kaiser 1998) 99 UNICEF hat die Kinderrechte systematisch in vier Rechtsbereiche aufgeteilt: • Überlebensrechte (survival rights): alle Rechte, die das Überleben des Kindes sichern, z. B. das Recht auf Nahrung, auf Wohnen oder medizinische Versorgung; • Entwicklungsrechte (development rights): alle Rechte, die eine angemessene Entwicklung des Kindes garantieren, z. B. das Recht auf Bildung, Freizeit, Schule, Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion; • Schutzrechte (protection rights): alle Rechte, die das Kind schützen, z. B. vor Ausbeutung, Missbrauch, willkürlicher Trennung von der Familie; • Partizipationsrechte (participation rights): alle Rechte, die dem Kind freie Meinungsäußerung und Mitsprache in den die Kinder betreffenden Angelegenheiten garantieren. Kinder müsse der Vorrang eingeräumt werden, sie müssten in den Mittelpunkt politischer Betrachtungen gestellt werden und „brauchen und verdienen dringend besondere Aufmerksamkeit, da sie – eigentumslos und ohne Stimmrecht – zu der schwächsten Gesellschaftsgruppe zählen“. (Qvortrup 1993, S. 23) Geschichte der Kinderrechte6 Kinder wurden bis Ende des Mittelalters nicht als eigenständige Gruppe wahrgenommen. Vielmehr wurden sie als Eigentum des Vaters angesehen und nicht als eigenständiges Rechtssubjekt betrachtet. Erst in der Zeit der Aufklärung (18. Jahrhundert) betrachtete man Kinder als soziale Gruppe mit eigenen Interessen. Aber erst gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden rechtliche und sozialpolitische Konsequenzen gezogen (z B. Kinderschutzgesetze, Schulpflicht). Diese Gesetze und Institutionen schlossen Kinder gleichzeitig von der Welt aus und hielten sie in ihrer eigenen Welt gefangen, um sie auf das ‚richtige‘ Leben vorzubereiten. (Fthenakis 2001, S. 7) 6 Nicht einbezogen werden die Arbeiten der ‚Kinderrechtsbewegung‘ (Richard Farson, John Holt, Christiane Rochefort) und der deutschen ‚Antipädagogik‘. Deren Begrifflichkeiten sind – im Gegensatz zur differenzierten Argumentation der Erziehungswissenschaften – auf ein vergleichsweise einfaches, undifferenziertes Schema reduziert, das sich in der Ablehnung jeglicher Erziehung erschöpft. 100 Die Etablierung der Menschenrechte seit den Revolutionen in den Vereinigten Staaten und Frankreich in kodifiziertes Recht – beispielhaft: ‚Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte‘ durch die Französische Nationalversammlung 1789 – führte im 20. Jahrhundert auch zu bestimmten Schutzrechten für Kinder. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Interesse an Fragen der Rechte des Kindes hatte zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge geführt, z. B. das Haager Übereinkommen vom 12. Juli 1902 (zur Regelung der Vormundschaft für Minderjährige) oder das Internationale Übereinkommen vom 4. Mai 1910 zur Bekämpfung des Mädchenhandels. 1913 diskutierte der erste Internationale Kinderschutz-Kongress in Brüssel Verträge zum Schutz von Kindern. Das von der schwedischen Pädagogin und Schriftstellerin Ellen Key (1849-1926) ausgerufene „Jahrhundert des Kindes“, so ihr Buch aus dem Jahr 1900, stützte sich auf Rousseau und war sozialreformerisch verstanden. Wenn Key in der Frauenbewegung nicht die Forderung nach einer umfassenden Gleichberechtigung unterstützte, gaben ihre reformpädagogischen Vorschläge jedoch wichtige Anstöße. Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak (1878-1942) entwickelte seine Pädagogik der Achtung („Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind schon welche“), in der er Grundrechte für Kinder entwickelte. 1919 schrieb er in seinem Buch ‚Wie man ein Kind lieben soll‘: „Ich fordere die Magna Charta Libertatis, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: • Das Recht des Kindes auf seinen Tod 7 • Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag • Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.“ (Korczak 2008, S. 40) Bereits 1922 hatte der Internationale Frauenrat eine ‚Children’s Charter‘ vorgelegt und war von dem Grundsatz ausgegangen, dass Kinder ein „inalienable right to have the opportunity of full physical, mental and spiritual development“ zustehe. (Veermann 1992, S. 439) Zur Überwachung der Interessen der Kinder sollte in jedem Staat ein eigenes Ministerium gegründet werden. 7 Korczaks Pädagogik der Achtung vor Kindern umfasste auch das Recht auf das Risiko des Lebens. Dieser radikal formulierte Satz spielt auf die Überbehütung von Kindern durch Erwachsene an. Dadurch nähmen Erwachsene Kindern die Möglichkeit, sich frei zu entfalten, gefordert sei vielmehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. 101 Ein wichtiger Markstein der Etablierung von Kinderrechten waren die Arbeiten der Engländerin und Lehrerin Eglantyne Jebb (1876 - 1928). Aufgerüttelt durch die Situation der Flüchtlingskinder im Ersten Weltkrieg entwarf sie 1923 eine ‚Erklärung der Rechte der Kinder‘. Bereits 1919 hatte sie mit ihrer Schwester Dorothy den ‚Save the Children Fund‘ gegründet, um Kindern im Nachkriegseuropa materiell zu helfen. Die von Jebb vorgelegte Charta wurde am 24. September 1924 von der fünften Generalversammlung des Völkerbundes in Genf verabschiedet. Sie war damit die erste Deklaration der Kinderrechte, hatte aber keine rechtliche Verbindlichkeit. In ihr wurden folgende fünf Forderungen aufgestellt: • The child must be given the means requisite for its normal development, both materially and spiritually. • The child that is hungry must be fed, the child that is sick must be helped, the child that is backward must be helped, the delinquent child must be reclaimed, and the orphan and the waif must be sheltered and succoured. • The child must be the first to receive relief in times of distress. • The child must be put in a position to earn a livelihood, and must be protected against every form of exploitation. • The child must be brought up in the consciousness that its talents must be devoted to the service of its fellow men. (Veerman 1992, S. 444) Die reformpädagogische Bewegung im frühen 20. Jahrhundert trat nachdrücklich für die Rechte der Kinder und die Kinderschutzbewegung ein, abrupt gestoppt durch den Nationalsozialismus. In den 1945 gegründeten Vereinten Nationen konnten Vorschläge, die Genfer Erklärung neu verabschieden zu lassen, nicht realisiert werden. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, enthält neben den allgemeinen Bestimmungen auch bestimmte Schutzrechte für Kinder. Erst am 20. November 1959 konnte die Generalversammlung der Vereinten Nationen die ‚Erklärung der Rechte der Kinder‘ verabschieden, die jedoch als Empfehlung rechtlich nicht bindend war. Sie forderte die Staaten nur auf, sich für Kinderrechte einzusetzen. Kindern wurde u.a. ein Recht auf einen Namen, eine Staatsangehörigkeit, ein Recht auf angemessene Ernährung, Unterbringung, Erholung und ärztliche Betreuung sowie ein Anspruch auf unentgeltlichen Pflichtunterricht zumindest in der Elementarschule anerkannt. Ausdrücklich wurde in Artikel 1 der Anspruch auf diese Rechte 102 ohne Unterschiede oder Diskriminierung ausgesprochen. In der Präambel dieser Erklärung wurde „das Kind wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife“ als besonderes Schutzobjekt, das besonderer Fürsorge bedarf, angesehen und nicht als selbstständiges Rechtssubjekt und damit nicht als Inhaber von selbstständigen Rechten betrachtet. In den sog. ‚Zwillingspakten‘ der Vereinten Nationen von 1966 sind einzelne Kinderrechte enthalten. Der Sozialpakt formuliert einige Schutzrechte (Artikel 12), der Zivilpakt fordert für Kinder, dass sie nach der Geburt unverzüglich in ein Register einzutragen seien, einen Namen erhalten und das Recht besitzen, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben. Artikel 2 bestimmt, dass alle Rechte für alle Personen ohne Unterschied zu gewährleisten sind. Hervorzuheben ist die Feststellung, dass Kindern ohne jegliche Diskriminierung das Recht auf Schutzmaßnahmen durch Familie, Gesellschaft und Staat haben, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert. (Artikel 24) Nachfolgende Rechte des Zivilpaktes gelten auch für Kinder: • • • • Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 19) Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 18) Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 21 und 22) Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben (Artikel 25) Erst mit der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen konnte das erste weltweit rechtsverbindliche Abkommen etabliert werden. Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen Zum 20. Jahrestag der ‚Erklärung der Rechte des Kindes‘ führten die Vereinten Nationen 1979 das ‚Jahr des Kindes‘ durch. 1978 hatte die polnische Regierung den Vorschlag unterbreitet, die Erklärung von 1959 in einen völkerrechtswirksamen Vertrag umzuwandeln. Die VN-Menschenrechtskommission wurde mit der Bildung einer Arbeitsgruppe beauftragt, um einen Entwurf eines Übereinkommens vorzulegen, dass dann im März 1989 einstimmig angenommen wurde. Die Kinderrechtskonvention wurde dann von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989, dem 30. Jahrestag der ‚Erklärung der Rechte des Kindes‘, ebenfalls einstimmig verabschiedet. (Resolution 44/25). Die Kinderrechtskonvention verpflichtet alle Vertragsstaaten, die verankerten Rechte zu achten und zu gewährleis103 ten. Nach dem derzeitigen Stand haben 193 Staaten die Konvention ratifiziert, es fehlen nur Somalia und die USA. (vgl. allg.: Dorsch 1994, Mower 1997) Die Kinderrechtskonvention definiert Kinder als Individuen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, es sei denn, dass nationales Recht die Volljährigkeit in einem jüngeren Alter bestimme. Ein eigenständiger Status eines Jugendlichen wird nicht eingeführt, Kinder sind alle Nicht-Erwachsenen. Der Grundsatz der Kinderrechtskonvention ist, Kinder als Rechtssubjekte zu betrachten und darüber hinaus zahlreiche Einzelgarantien zu statuieren. Für Kinder gilt nicht nur ein besonderer Schutz, sondern eben auch die Bedingung, dass sie auch Inhaber bestimmter eigener Rechte sind und damit Subjekte ihrer eigenen Entwicklung. Artikel 4 weist jedoch darauf hin, dass die Kinderrechtskonvention keine Grundlage für individuelle Rechte sein kann. Vielmehr werden die Vertragsstaaten verpflichtet, die in der Kinderrechtskonvention anerkannten Rechte innerstaatlich zu verwirklichen. Die Kinderrechtskonvention gehört zu den sog. ‚non-self-executing-treaties‘, die sich als Staatenverpflichtung an die politischen Institutionen richten. Eine unmittelbare Geltung ist damit ausgeschlossen. Für die Realisierung der Kinderrechte sind die Staaten verpflichtet, die Rechte zu achten, d.h. die Staaten dürfen die Rechte nicht verletzen. Das Diskriminierungsverbot ist in Artikel 2 festgeschrieben: „Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung (…).“ Neben diesen Achtungspflichten beinhaltet die Kinderrechtskonvention auch Schutzpflichten, die Staaten verpflichten, Kinder auch vor allen Formen von Gewalt und Misshandlung durch Dritte zu schützen. Weiterhin bestehen für die Staaten Pflichten zur Gewährleistung, d.h. positive Handlungspflichten, sie müssen Maßnahmen ergreifen, die für die Umsetzung notwendig sind. (Lohrenscheidt 2006, S. 7) Der formale Aufbau der Kinderrechtskonvention ist bei der Bewertung der Gewichtung der einzelnen Artikel zu berücksichtigen. Im Unterschied zu den in den weiteren Artikeln genannten Regeln stellt Artikel 3 ein sogenanntes Rechtsprinzip (Alexy 1994, S. 75 f.) dar: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Aus der Vorrangigkeit kann jedoch nicht ein absoluter Durchsetzungsanspruch abgeleitet werden. Die Kinderrechtskonvention besteht aus 54 Artikeln, die Schutzrechte (Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung), Förderrechte (Gesundheit, Bil- 104 dung, Freizeit) sowie Mitwirkungs-, Anhörungs- und Beteiligungsrechte (Subjektstellung des Kindes) enthalten. Artikel 12 bis 17 enthalten dezidierte Partizipationsrechte, um politische Ziele zu verfolgen oder sich zu engagieren: Meinungsfreiheit, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Informationszugang. Artikel 12 bestimmt: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Hier wird die Partizipation von Kindern auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene ausdrücklich gefordert, allerdings durch den Bezug auf die jeweilige ‚Reife‘ eingeschränkt. Neben der Versorgung und dem Schutz werden Kindern bürgerliche Rechte zugestanden. Kinder werden nicht nur als schutzbedürftige Objekte verstanden, sondern auch als Subjekte, die an Entscheidungsprozessen zu beteiligen sind. In Artikel 42 wird gefordert, dass die Vertragsstaaten dieses Abkommen wirksam allgemein bekannt machen müssen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Kinderrechtskonvention neben den ‚klassischen‘ bürgerlichen und politischen Rechten auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthält. Für diese gilt – analog den Bestimmungen des VN-Sozialpaktes – die in Artikel 4 getroffene Regelung, dass die Vertragsstaaten Maßnahmen zur Verwirklichung „unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit“ treffen. Zudem sind diese Rechte wegen ihrer Unbestimmtheit nicht ‚justiziabel‘. Als einziger Kontrollmechanismus ist der in Artikel 44 der Kinderrechtskonvention festgelegte Staatenbericht vorgesehen. Die Einzelstaaten müssen einem eigens geschaffenen ‚Ausschuss für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child – CRC)‘, zugeordnet dem VNHochkommissar für Menschenrechte in Genf 8, zunächst zwei Jahre nach der 8 Zur Koordinierung der Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen wurde auf Empfehlung der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 auf der 48. Generalversammlung die Institution des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR) mit Sitz in Genf eingerichtet. Der Hohe Kommissar ist direkt dem VN-Generalsekretär unterstellt. Zur Kontrolle der einzelnen Konventionen wurden sog. Vertragsorgane (UN Treaty Bodies) eingerichtet. Sie setzen sich aus in den Vertragsstaaten gewählten Sachverständigen zusammen. Ihre Empfehlungen und Stellungnahmen sind jedoch nicht völkerrechtlich verbindlich. Parallel zu dem Hohen Beauftragten existiert der VNMenschenrechtsrat (Human Rights Council), als sogenanntes Nebenorgan der Generalversammlung mit Sitz in Genf. Der Rat löste im Juni 2006 die VN-Menschenrechtskom- 105 Ratifizierung und danach alle fünf Jahre berichten. Hierbei sind auf etwa bestehende Schwierigkeiten hinzuweisen, die die Staaten daran hindern, Verpflichtungen der Kinderrechtskonvention zu erfüllen. Der Ausschuss9 hat die Möglichkeit, ergänzend Angaben einzufordern und zusätzlich sogenannte ‚Parallelberichte‘ – etwa von Nicht-Regierungsorganisationen – heranzuziehen. Abschließend legt der Ausschuss ‚Vorschläge und allgemeine Empfehlungen‘ vor, die ‚Concluding Observations‘. Die Kinderrechtskonvention wurde durch zwei fakultative Zusatzprotokolle ergänzt: Das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (verabschiedet am 25. Mai 2000, in Kraft seit 12. Februar 2002, gültig in 126 Staaten – Stand Mai 2009) und das Zusatzprotokoll zur Kinderrechtskonvention betreffend den Kinderhandel, die Kinderprostitution und Kinderpornografie (verabschiedet am 25. Mai 2000, in Kraft seit 18. Januar 2002, gültig in 130 Staaten – Stand Mai 2009). Der auf Einladung von UNICEF10 1990 einberufene ‚Weltkindergipfel‘ verabschiedete die ‚Erklärung für das Überleben, den Schutz und die Entwicklung des Kindes‘, in der 27 Ziele zur weltweiten Verbesserung der Lebensumstände von Kindern enthalten waren. Der 2. Weltkindergipfel 2002 fand in Form einer Sondertagung der VN-Generalversammlung mit Vertretern von mehr als 180 Staaten, darunter 70 Staats- und Regierungschefs und 400 Kinder und Jugendliche, statt. Diese verabschiedeten in einem speziellen Kinderforum den Appell ‚Eine kindgerechte Welt – eine Welt für uns‘ und forderten u.a. aktive Beteiligungsrechte. Neben dem Recht eines jeden Kindes auf volle und sinnvolle Partizipation stand das Beteiligungsrecht auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung, insbesondere auf Planung, Umsetzung, Überwachung und Beurteilung aller Kinderrechtsfragen, im Mittelpunkt. Den doch eher deklaratorischen Charakter der Kinderrechtskonvention innerhalb der Vereinten Nationen machte die VN-Sondergeneralversammmission ab, deren Arbeit als nicht effektiv galt. Er hat die Befugnis, Beobachter zur Überwachung der Menschenrechtssituation in Mitgliedsstaaten zu entsenden. (vgl. Theissen 2006) 9 Derzeit gehören dem Ausschuss 18 unabhängige Sachverständige an, für die Bundesrepublik Prof. Dr. Lothar Krappmann. 10 Innerhalb der Vereinten Nationen wurde 1946 UNICEF (United Nations International Children’s Emergency Fund) als Nebenorgan nach Artikel 22, Kapitel 4 der VN-Charta gegründet. Ein Neben- bzw. Spezialorgan wird direkt von der Generalversammlung eingesetzt, ist an deren Weisungen gebunden, berichtet ihr bzw. dem Wirtschafts- und Sozialrat, verfügt über keine Budgethoheit und keinen eigenen völkerrechtlichen Status. (vgl. Gareis / Varwick 2003, S. 65) 106 lung – der sogenannte Weltkindergipfel – 2002 deutlich. Mit Rücksicht auf die USA wurde die Kinderrechtskonvention lediglich als ein Standard neben anderen internationalen Übereinkünften bezeichnet (Punkt 4 der Erklärung: A World Fit for Children [Eine kindergerechte Welt] A/S-27/19/Rev. 1, S. 5). Neben wichtigen Forderungen zur Etablierung und Sicherung von Kinderrechten wurde der umzusetzende Aktionsplan allerdings auch mit dem Hinweis versehen, dies im Einklang mit „dem jeweiligen innerstaatlichen Recht, den religiösen und ethischen Werten und dem kulturellen Hintergrund der Bevölkerung“ zu tun (S. 30). Kinderrechte an „kulturelle Traditionen“ zu binden steht im eklatanten Widerspruch zur Universalität der Menschenrechte. Die Kinderrechtskonvention ist bedingt durch das Fehlen von verbindlichen Durchsetzungsmechanismen ein eher schwaches völkerrechtliches Instrument. (vgl. Boekle 1998, S. 6) Ein Individualbeschwerderecht etwa wie im Zivilpakt ist derzeit nicht vorgesehen. Dort kann sich jeder Bürger wegen einer Verletzung seiner bürgerlichen oder politischen Rechte an den für diese Zwecke gebildeten VN-Menschenrechtsausschuss wenden. Das Recht ist allerdings nur in dem von bisher 111 Staaten ratifizierten Fakultativprotokoll vom 19.12.1966 (Artikel 22) enthalten, es gilt damit nur für diese Staaten. Die Bundesrepublik Deutschland hatte die Kinderrechtskonvention zunächst nur unter fünf Vorbehalten ratifiziert.11 Der derzeitig noch gültige vierte ausländer- und asylrechtliche Vorbehalt betrifft die Rechte von Flüchtlingskindern, die für die Bundesrepublik Deutschland nicht uneingeschränkt gelten. Der Vorbehalt wirkt sich so aus, dass das deutsche Ausländer- und Asylrecht den Vorschriften der Kinderrechtskonvention vorgeordnet werden. Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling zwischen 16 und 18 Jahren kann wieder abgeschoben werden, da Deutschland asylrechtlich Flüchtlingskin11 Vorbehaltserklärung zu Artikel 18 Abs. 1, Artikel 38 Abs. 2 und Artikel 40 Abs. 2 Buchstabe b der Kinderrechtskonvention. – Ein allgemeiner Vorbehalt lautete: „Die Bundesrepublik Deutschland erklärt zugleich, dass das Übereinkommen innerstaatlich keine unmittelbare Anwendung findet. Es begründet völkerrechtliche Staatenverpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland nach näherer Bestimmung ihres mit dem Übereinkommen übereinstimmenden innerstaatlichen Rechts erfüllt.“ Vier Punkte sind inzwischen durch Änderungen im Kindschaftsrecht 1998, bei der kindund jugendgerechten Auslegung des Jugendstrafrechts sowie durch Ratifizierung des Fakultativprotokolls über eine Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten im Jahr 2002 geregelt. – Bei letzterem Vorbehalt übte allerdings die Bundesrepublik Deutschland zu Recht deutliche Kritik und bemängelte, dass laut Kinderrechtskonvention Artikel 38 (2) bereits Fünfzehnjährige als Soldaten an Feindseligkeiten teilnehmen dürften. Erst mit dem 2002 von bisher 92 Staaten ratifizierten ‚Fakultativprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten’ wurde die Altersgrenze auf 18 Jahre festgelegt. 107 der den Status als Kind nur bis zum vollendeten 16. Lebensjahr zugesteht. Aufgrund dessen werde der besonderen Schutzbedürftigkeit unbegleiteter minderjähriger ausländischer Flüchtlinge in Deutschland nicht ausreichend Rechnung getragen, so die Kritik.12 Die Kinderkommission des Deutschen Bundestages13 fordert seit langem die Rücknahme des Vorbehaltes. Implementierung der Kinderrechtskonvention in Deutschland: • Unterzeichnung am 25. Januar 1990 • Zustimmung Bundestag und Bundesrat durch Gesetz am 17. Februar 1992, wobei die Bundesländer ihre Zustimmung nur unter der Voraussetzung gegeben hatten, dass die Bundesregierung von der Möglichkeit eines Vorbehaltes Gebrauch macht • Hinterlegung der Ratifikationsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen am 6. März 1992 • in Kraft treten am 5. April 1992 • Nach Paulo David lassen sich die Neuerungen in der Kinderrechtskonvention so zusammenfassen: • Wandel von Wohlfahrt- oder Mitleidsperspektive zu einer Perspektive (des Einforderns und Respektieren) von Rechten • Integration der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gemäß dem Unteilbarkeitspostulat (in keinem anderen internationalen Menschenrechtsvertrag enthalten!) • Anerkennung der Partizipationsrechte und zukünftige Sicherung des den Kindern zustehenden angemessenen Entscheidungsraumes. (David 2002) Zu Recht hielt Fritzsche fest, dass Kinder wie Frauen, Flüchtlinge, Asylsuchende, Minderheiten oder Arbeitsmigranten als „verletzliche Gruppe“ gelten, für die eine Art verstärkter Schutz sich herausgebildet habe. Dies 12 Schätzungen gehen von ca. 2.000 Neueinreisen von unter 18-jährigen Unbegleiteten pro Jahr aus. Die Zahl der in Deutschland insgesamt Lebenden wird auf 5.000 bis 10.000 geschätzt. (vgl. Riedelsheimer 2006, S. 23) 13 1988 wurde durch Vorschlag des Ältestenrates des Deutschen Bundestages die ‚Kommission zur Wahrnehmung der Belange des Kindes‘ gebildet, die jeweiligen Kinderbeauftragten der einzelnen Bundestagsfraktionen wurden als Kinderkommissionen eingesetzt. Die Kinderkommission ist ein Unterausschuss des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie kann Beschlüsse nur mit Einstimmigkeit fassen, ein eigenes Initiativ- und Antragsrecht im Bundestag hat sie nicht. Trotz dieser Restriktionen ist es als wichtiger Erfolg der Einbeziehung dieser Fragen in die parlamentarische Beratung und Entscheidungsfindung zu sehen, wobei die Kinderkommissionen nur als Anfangspunkt angesehen werden kann. 108 bedeute aber nicht, dass Menschenrechte in Sonderrechte aufgelöst würden, sondern „die Menschenrechte werden gemäß einer außerordentlichen Verletzlichkeit mit einem außerordentlichen Schutz ausgestattet, der allererst den Genuss gleicher Rechte für diese Gruppen ermöglichen kann.“ (Fritzsche 2004, S. 115) Kinderrechtsstrategie der EU Die Europäische Union besitzt nach den EU-Verträgen und der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes keine generellen Befugnisse auf dem Gebiet der Grundrechte. Allerdings fordert Artikel 6 des EU-Vertrages von 1993 die Achtung der Grundrechte, wie sie in der 1950 unterzeichneten „Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (s.u.) gewährleistet wurde. Das Europäische Parlament hatte bereits 1992 eine Entschließung (Europäische Charta der Rechte des Kindes - A3-0172/92) angenommen, mit der die Europäische Kommission aufgefordert wurde, eine Charta der Rechte des Kindes auszuarbeiten, die die in der Kinderrechtskonvention festgelegten Grundsätze enthalten sollte. Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU und des Präsidenten der Europäischen Kommission, beauftragte 1999 in Köln einen Konvent mit der Erarbeitung einer ‚Charta der Grundrechte der Europäischen Union‘. Die Charta wurde von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission zum Auftakt des Europäischen Rats von Nizza 2000 proklamiert. Die Charta umfasst alle Personenrechte und folgt damit dem Grundsatz der Unteilbarkeit der Grundrechte. Sie bricht mit der bislang vorherrschenden Unterteilung zwischen Bürger- bzw. Zivilrechten und politischen Rechten einerseits sowie wirtschaftlichen und sozialen Rechten andererseits, wie sie beispielhaft in den VN-Zwillingspakten enthalten ist. Die Grundrechte-Charta enthielt mit Artikel 24 einen eigenen Passus, in dem die Rechte des Kindes festgeschrieben wurden: „Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Jedes Kind hat 109 Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“14 Geltung sollte die Grundrechte-Charta als zweiter Teil des 2004 verabschiedeten ‚Vertrages über eine Verfassung für Europa‘ erlangen, seine Ratifizierung wurde bekanntermaßen durch die ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gestoppt. Die Grundrechte-Charta ist in dem 2007 verabschiedeten ‚Vertrag von Lissabon‘ (‚EU-Reformvertrag‘) durch eine Intervention der britischen Regierung unter Tony Blair nicht mehr vorgesehen. Rechtsverbindlichkeit hätte sie dennoch durch eine Erwähnung in Artikel 6 des EU-Vertrages15 erlangt, dort war die rechtliche Gleichrangigkeit der Charta mit den Verträgen festgeschrieben.16 Großbritannien und Polen hatten jedoch für die GrundrechteCharta eine Nichtbeteiligung festgelegt. Allerdings gelang es in der Regierungskonferenz von Oktober 2007, die Rechte des Kindes als eines der Ziele der Europäischen Union in den derzeit noch nicht gültigen Lissaboner Vertrag einzubeziehen und so zukünftig einen neuen rechtlichen Rahmen für Kinderrechte zu schaffen (Artikel 3 EU-Vertrag: Schutz der Rechte des Kindes). Die Ablehnung der Iren im Juni 2008 stoppte jedoch den gesamten Prozess. Die Grundrechte-Charta ist bisher in der Europäischen Union keine rechtlich bindende Kodifizierung. Ausgehend von den ‚Strategischen Fünfjahreszielen‘ der Europäischen Kommission von Januar 2005, in denen dem Schutz der Rechte der Kinder eine besondere Priorität eingeräumt wurde (KOM 2005, 12), wurde dies 2006 in einem „Non-Legislative Initial Document“ konkretisiert. Darin sprach sich die Kommission für die Einführung einer Strategie der EU zur Förderung und zum effektiven Schutz von Kinderrechten aus: Bei allen internen und externen EU-Maßnahmen müssten die Kinderrechte gemäß den Grundsätzen des EU-Rechts geachtet werden und uneingeschränkt den Prinzipien und Bestimmungen der Kinderrechtskonvention und anderen internationalen Rechtsinstrumenten entsprechen.17 Tagungen des Europäischen Forums für Kinderrechte sollen Strategien zur Umsetzung der Kinderrechte entwickeln. 14 Amtsblatt der Europäischen Union C 303/1 vom 14.12.2007. Artikel 6: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (…) niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.“ 16 Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 15.4.2008. 17 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: KOM (2006) 367 vom 4.7.2006. 15 110 Europäische Menschenrechtskonvention Die Mitglieder des 1949 gegründeten Europarates (einer derzeit 47 Mitgliedsstaaten umfassenden europäischen internationalen Organisation, die institutionell nicht mit der Europäischen Union verbunden ist) verabschiedeten 1950 die ‚Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten‘, die 1953 in Kraft trat. (vgl. insg.: Grabenwarter 2008) Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält neben zivilen und politischen Rechten und Freiheiten auch ein System zur Durchsetzung der von den Mitgliedstaaten eingegangenen Verpflichtungen. Die Einhaltung der Konvention sollte zunächst u.a. die 1954 gegründete Europäische Kommission für Menschenrechte gewährleisten, deren Aufgaben 1998 von dem durch das 11. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention geschaffenen, mit neuen Befugnissen ausgestatteten bereits seit 1959 existierenden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Straßburg alleinzuständig übernommen wurde. Dieser kann, ohne dass vorab ein staatliches Gremium sich der Menschenrechtsbeschwerde annehmen muss, direkt von Einzelpersonen, aber auch Gruppen angerufen werden. Die Europäische Menschenrechtskonvention enthält neben der Gedanken- und Gewissensfreiheit (Artikel 9), der Freiheit der Meinungsäußerung (Artikel 10) und der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 11) weitere Rechte, die in nachträglich verabschiedeten Zusatzartikeln ergänzt wurden (Recht auf freie und geheime Wahlen – Protokoll Nr. 1, Zusatzartikel 3). Durch das in Artikel 14 festgelegte Verbot der Benachteiligung gelten diese Rechte und Freiheiten uneingeschränkt für Alle („ohne Unterschied … der Geburt oder des sonstigen Status“). Das ‚Europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten‘ wurde vom Europarat im Januar 1996 verabschiedet und trat im Juli 2000 in Kraft.18 Ziel war es, die Kinderrechtskonvention insbesondere in familienrechtlichen Verfahren, verfahrensrechtlich zu ergänzen. Kindern werden prozessuale Rechte einschließlich Auskunftserteilung und Teilnahme an Verfahren gewährt. 18 Von den 47 Mitgliedsstaaten haben das Übereinkommen bisher 13 ratifiziert (Stand Mai 2009). In der Bundesrepublik Deutschland trat es im Juli 2002 in Kraft. 111 Kinderrechte im Grundgesetz Sollen Kinderrechte explizit als Grundrecht oder in der Form von Staatszielen aufgenommen werden? Staatsziele müssen durch Gesetze konkret umgesetzt werden, sie verpflichten zwar den Staat, dieses Ziel zu verfolgen, subjektive Rechte werden damit allerdings nicht begründet. Dies ist der entscheidende Nachteil von Staatszielbestimmungen, sie sind damit nicht einklagbar. Kinderrechte können folglich nur als Grundrecht in der Verfassung verankert werden. 1993 hatte im Rahmen der ‚Gemeinsamen Verfassungskommission‘ von Bundestag und Bundesrat (vgl. dazu Fischer 1995) ein Antrag zur Aufnahme von Kinderrechten vorgelegen.19 Artikel 6 des Grundgesetzes sollte folgendermaßen neu gefasst werden: „(…) (Absatz 4) Kinder haben ein Recht auf Wahrung und Entfaltung ihrer Grundrechte sowie auf Entwicklung zu selbstbestimmungs- und verantwortungsfähigen Persönlichkeiten. (Absatz 5) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Die wachsende Fähigkeit der Kinder zu selbstständigem, verantwortlichem Handeln ist zu berücksichtigen. Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ (Drucksache 12/6000, S. 56) Der Antrag erzielte zwar eine knappe Mehrheit (24:22:2), verfehlte aber die mit den Einsetzungsbeschlüssen verabredete notwendige Zweidrittelmehrheit. Bereits 1992 hat die Jugendministerkonferenz sich für die Aufnahme eines speziellen ‚Kindergrundrechts‘ auf Entwicklung und Entfaltung ausgesprochen. Im Jahr 1998 hat die Jugendministerkonferenz erneut einen Beschluss zur stärkeren Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz sowie in den Länderverfassungen als Umsetzung der VN-Kinderrechtskonvention gefasst. „Es wird als ein wesentlicher Schritt zur Umsetzung der Kinderrechtskonventionen angesehen, die elementaren Rechte eines jeden Kindes auf Entwicklung und Entfaltung unmittelbar im Grundgesetz und in den Länderverfassungen zu verankern.“ Der VN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat in seinen sog. „concluding observations“, seinen zusammenfassenden Beobachtungen, zum Staatenbericht Deutschlands 1995 und wiederum 2002 ausdrücklich die Anregung aufgenommen, Kinderrechte auch in die bundesdeutsche Verfassung aufzunehmen. 19 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Drucksache 12/6000 vom 5.11.1993, S. 54-60. Die Kommission sollte nach der Wiedervereinigung eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes prüfen. 112 Alt-Bundespräsident Roman Herzog regte 2006 erneut an, die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz zu prüfen, Kinderrechte und Familienrechte müssten nebeneinander stehen. Im Bundesrat forderten die Bundesländer Bremen und Rheinland-Pfalz im September 2008 die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vorzulegen, in dem Grundrechte der Kinder ausdrücklich normiert werden. Zu berücksichtigen seien dabei die Achtung der Kindeswürde und das Recht der Kinder auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden Selbstständigkeit im Rahmen des elterlichen Erziehungsrechts, eine gewaltfreie Erziehung sowie der Schutz vor Vernachlässigung und Ausbeutung. (Drucksache 445/08) Dieser Antrag fand – ein Tag vor dem Weltkindertag – keine Mehrheit. Das Aktionsbündnis Kinderrechte schlägt aktuell folgende Kernelemente für eine Verfassungsänderung vor, die der VN-Kinderrechtskonvention entnommen sind: Vorrang des Kindeswohls bei allen Kinder betreffenden Entscheidungen Recht des Kindes auf Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung Recht des Kindes auf Schutz, Förderung und einen angemessenen Lebensstandard • Recht des Kindes auf Beteiligung, insbesondere die Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend Alter und Reifegrad • Verpflichtung des Staates, für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen20 • • • • Die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz würde Kinder als selbstständige Träger eigener Grundrechte legitimieren, ihnen eigene Rechtspositionen gegenüber Anderen zuweisen und dem einzelnen Kind subjektive Ansprüche und eine starke Rechtsposition, etwa in Form einer Verfassungsbeschwerde, verleihen. Kinder finden im Grundgesetz – wie oben dargestellt – bisher nur in Artikel 6 Erwähnung, allerdings nur als ‚Regelungsgegenstand‘ und nicht als ein originäres Rechtssubjekt. Die Eltern haben aus Artikel 6 ein verfassungsrechtlich garantiertes, institutionell abgesichertes Elternrecht. Derartige eigene Rechte gewährt das Grundgesetz Kindern bisher nicht. Damit sind Kinder gegenüber der Institutsgarantie des Elternrechtes zwingend benachteiligt. Würden eigene Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen, würde sich bei Abwägung zwischen der Eltern20 Hintergrundpapier des „Aktionsbündnis Kinderrechte“, o.O.u.J. (2007). 113 stellung und der Stellung der Kinder eine gewichtsmäßige Veränderung ergeben. Das Elternrecht könnte nicht mehr dominieren. Die Vorteile einer Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz sind evident: • Eltern müssen sich bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten gegenüber Kindern am Vorrang des Kindeswohls orientieren • der Staat würde stärker in die Pflicht genommen • Kinder können bei Verletzung ihrer Rechte Verfassungsbeschwerde erheben • Eltern müssen bei der Ausübung ihres Rechts mit wachsender Einsichtsfähigkeit der Kinder deren Rechte berücksichtigen und sie an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligen (Aktionsbündnis Kinderrechte (Hrsg.): Kinderrechte ins Grundgesetz. Hintergrundpapier, o.O.u.J.) Das Saarland änderte im Juli 2007 die Verfassung und nahm mit Artikel 24a und 25 Kinderrechte in die Verfassung auf: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung und Würde, auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf Bildung sowie auf gewaltfreie Erziehung zu Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit. Jedes Kind hat ein Recht auf besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung, Ausbeutung sowie leiblicher, geistiger oder sittlicher Verwahrlosung. – Das Land und die Gemeinden und Gemeindeverbände und die sonstigen Träger öffentlicher Gewalt achten und sichern die Kinderrechte, tragen für altersgerechte positive Lebensbedingungen Sorge und fördern die Kinder nach ihren Anlagen und Fähigkeiten.“ Die Landtagsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU hatten gemeinsam den entsprechenden Gesetzentwurf erarbeitet, eingebracht und beschlossen.21 Kinderwahlrecht Kinder und Jugendliche haben nach Artikel 38 Absatz 2 GG kein Wahlrecht, obwohl in Artikel 20 Absatz 2 GG festgeschrieben ist, dass alle Macht vom Volk ausgeht, also auch von den unter 18 Jährigen. An der Konstitution der 21 Kinderrechte sind auch in den Landesverfassungen von Brandenburg (Art. 27), Bremen (Art. 25), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 14), Nordrhein-Westfalen (Art. 6) und Rheinland-Pfalz (Art. 24) enthalten. Schleswig-Holstein (Art. 47e) und Niedersachsen (Art. 22e) haben Kinderrechte in ihre Gemeindeordnungen integriert. 114 Volkssouveränität wirken diese folglich nicht mit, obwohl sie unbezweifelbar Mitglieder des Staatsvolkes sind. Artikel 38 Absatz 1 GG weist die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als „Vertreter des ganzen Volkes“ aus, dennoch werden sie nur von einem Teil des Volkes gewählt. Auch ist generell anerkannt, dass das aktive Wahlrecht ein politisches Grundrecht ist. Historisch betrachtet wurde das Wahlalter mehrmals gesenkt, das Wahlrecht ausgeweitet. Mit der 27. Änderung des Grundgesetzes von Juli 1970 wurde zuletzt das Wahlalter bei Bundestagswahlen vom 21. auf das 18. Lebensjahr gesenkt.22 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes verweist in dieser Frage darauf, dass eine Begrenzung der Allgemeinheit der Wahl verfassungsrechtlich nur zulässig sei, sofern ein zwingender Grund bestehe. (BVerfGE 28, 220 [225]) Die Verbindung der Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters wird somit als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen. „Verfassungsprinzipien lassen sich in der Regel nicht rein verwirklichen; ihnen ist genügt, wenn die Ausnahmen auf das unvermeidbare Minimum beschränkt bleiben. So ist das Demokratieprinzip und das engere Prinzip der Allgemeinheit der Wahl nicht verletzt durch Einführung eines Mindestalters (...)". (BVerfGE 42, 312 [340 f.])23 In einer anderen Entscheidung vertrat das Bundesverfassungsgericht eine eher gewohnheitsrechtliche Position: „So ist es etwa von jeher aus zwingenden Gründen als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, dass die Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters geknüpft wird.“ (BVerfGE 36, 139 [141]) Das Bundesverfassungsgericht schränkt also ein, die Allgemeinheit der Wahl sei nicht in voller Reinheit zu verwirklichen, wenn es zwingende Gründe für ihre Einschränkung gebe. Das Wahlrecht sei in Deutschland stets immer begrenzt gewesen. Die 22 Die Herabsetzung des Einberufungsalters der Bundeswehr von 21 auf 18 Jahren hatte diese Wahlrechtsreform ausgelöst. Die Grundgesetzänderung wurde mit einer sehr breiten Mehrheit von 441 Ja-Stimmen bei 10 Enthaltungen verabschiedet. Bei Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer) zunächst 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bundes und dann ab 1871 im Kaiserreich lag das Wahlalter für Männer bei 25 Jahren. In der Weimarer Republik lag das Wahlalter bei 21 Jahren. 23 1995 lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen das Mindestwahlalter aus formalen Gründen ab, dies hätte nur ein Jahr nach Verabschiedung des Grundgesetzes erfolgen können. Versuche noch Nicht-Wahlberechtigter, sich 1998 bei der Bundestagswahl in die Wahllisten einzutragen, scheiterten ebenfalls. Ein Verwaltungsgerichtsverfahren konnte nicht rechtzeitig vor der Wahl vollendet werden, die anschließende Wahlprüfungsbeschwerde wurde vom Bundestag abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht lehnte die darauf folgende Beschwerde als unbegründet ab. 115 herrschende Rechtsauslegung geht davon aus, dass das Wahlrecht zudem unübertragbar ist. Etwa 14 Mio. Kinder und Jugendliche sind in Deutschland vom Wahlrecht bei Bundestagswahlen ausgeschlossen. Im politischen Raum existieren im Wesentlichen vier unterschiedliche Modelle und Vorschläge, den Stimmlosen ein Stimmrecht in Form eines Kinder- bzw. Jugendwahlrechtes zu gewähren: • Wahlrecht ohne Altersgrenze (selbst auszuübendes Wahlrecht ab Geburt) • Wahlrecht ab Geburt und Übertragung der Ausübung für die Zeit der Minderjährigkeit auf die Eltern (Treuhänder- oder Stellvertreterwahlrecht der Eltern – Elternwahlrecht) • Familienwahlrecht, also die Erhöhung der originären Stimmen der Eltern pro Kind • Absenkung des Wahlalters Die Argumentationen der einzelnen Modelle sehen folgendermaßen aus: Die Maximalforderung eines Wahlrechts ohne jegliche Altersgrenze, also eines selbst auszuübenden Wahlrechts ab Geburt, wird etwa von der Berliner Kinderrechtsgruppe ‚KRÄTZÄ‘ vertreten. (Weimann 2002) Niemand solle aufgrund seines Alters daran gehindert werden, an einer Wahl teilzunehmen. Daher lehnen Vertreter dieser Position eine Senkung des Wahlalters als eine reine quantitative Veränderung kategorisch ab, jede Grenze des Wahlalters sei undemokratisch, da in einer Demokratie alle Menschen, die von Entscheidungen betroffen seien, am Zustandekommen dieser Entscheidungen beteiligen werden müssten. Das Wahlrecht ohne Altersgrenze sei ein Recht, aber keine Verpflichtung zur Wahl, es sei die persönliche Entscheidung eines jeden, sich in ein Wählerverzeichnis einzutragen, um dann an einer Wahl teilzunehmen. Kindern stehe damit das Wahlrecht prinzipiell zu, diese machen dann aber selbstständig davon Gebrauch, wenn sie selbst die bewusste Entscheidung dazu treffen. Vertreter des Wahlrechtes ohne Altersgrenze argumentieren mit der unterstellten Verfassungswidrigkeit des Artikels 38, Absatz 2 des Grundgesetzes, der das Wahlrecht erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres gewährt. Dieser verstoße gegen Artikel 1 (Menschenwürde) und die Staatsfundamentalnorm des Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“), die beide zudem durch die Ewigkeitsgarantie des Artikel 79 Absatz 3 erfasst werden. Nach dieser Auf116 fassung sind Kinder Staatsbürger, damit Inhaber aller Staatsbürgerrechte und generell Träger der Menschenwürde. Das Wahlrecht müsse also jedem unabhängig von seinem Alter gewährt werden, die Vorenthaltung des aktiven Wahlrechtes sei verfassungsrechtlich unzulässig. (Merk 1997 S. 268 und 2002, S 119f. und 129f.) 2003 brachte eine überfraktionelle Initiative von 46 Bundestagsabgeordneten einen Antrag ein (Bundestags-Drucksache 15/1544), der ein ‚Wahlrecht von Geburt an‘ forderte, dass Wahlrecht sollte aber treuhänderisch von den Eltern ausgeübt werden.24 Der Begriff „Wahlrecht von Geburt an“ ist irreführend, da ja Kinder eben nicht das Wahlrecht bekommen, sondern ihre Eltern es stellvertretend für sie ausüben. Zwar stehen Minderjährigen Grundrechte zu, da sie diese aber noch nicht wahrnehmen können, sieht das Rechtssystem die Möglichkeit der Stellvertretung vor und weist das Wahlrecht in diesem Fall den Eltern zu. Aufgrund der eingeschränkten Geschäftsfähigkeit von Kindern müsse das Wahlrecht von dem gesetzlichen Vormund, den Eltern, stellvertretend ausgeübt werden. Diese Argumentation folgt der Unterscheidung zwischen Rechtsfähigkeit und Handlungs- bzw. Geschäftsfähigkeit. Das Elternwahlrecht wird auch aus Artikel 1626 BGB25 (Elterliche Sorge) und 1629 BGB (Vertretung des Kindes) abgeleitet. Interessanterweise stützt Merk juristisch auch dieses Modell: es sei anzuerkennen, „dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter, seien es 7, 10, 12 oder 14 Jahre nicht über einen hinreichenden gesellschaftlichen Erfahrungshorizont verfügen, mit der Überforderung bei der Ausübung des Wahlrechts.“ (Merk 1997, S. 266) Die Problemlösung stelle unter Rückgriff auf Artikel 6 GG dar, dass „diejenigen vertretungsweise das Grundrecht ausüben“, die auch sonst vertretungsweise sämtliche Entscheidungen für diesen Personenkreis treffen, die Eltern.26 Als Kritik wird angeführt, dass ein solches Elternwahlrecht Kindern und Jugendlichen politische Unmündigkeit und mangelndes Urteilsvermögen 24 Auch 2008 eingebracht, bisher nicht beraten. § 1626 Abs. 2 BGB: Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an. 26 Für den möglichen Kollisionsfall zwischen der Wahlentscheidung der Eltern und dem (anderen) politischen Willen des vertretenen Kindes bzw. der Nichtwahlteilnahme der Eltern etwa aus politischem Desinteresse bringt Merk eine flexible Altersgrenze in die Diskussion. Die Vertretungsbefugnis der Eltern ende, wenn das Kind sich in das Wählerregister eintragen lasse. (Merk 1997, S. 267) 25 117 unterstelle. Ein Elternwahlrecht widerspreche auch dem Grundsatz der gleichen Wahl. Jede Wahlentscheidung müsse zudem persönlich getroffen werden, der politische Wille ist nicht übertragbar. Das Familienwahlrecht27 ist in der Konsequenz gleich mit dem Vorschlag des Elternstimmrechts, die Begründung ist jedoch eine fundamental andere. Das Familienwahlrecht will Familien mit Kindern ein ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechendes politisches Gewicht gewähren. Es biete somit die Möglichkeit, die soziale Schieflage zu Lasten von Familien zu beheben und nicht nur in der Gegenwart, sondern auch an der Zukunft orientierte politische Entscheidungen zu ermöglichen. Dies gelte in besonderem Maß für die staatlichen sozialen Sicherungssysteme. (Nopper 1999, S. 166 f.) Diesem Modell geht es folglich nicht um die Ausweitung des Wahlrechts für Minderjährige, sondern allein um die größere politische Repräsentanz von Familien. Das Hauptbedenken, das gegen ein Familienwahlrecht im Sinne eines Mehrstimmenmodells bzw. eines Pluralwahlrechtes vorgebracht wird, ist die elementare Verletzung des Verfassungsgrundsatzes der Gleichheit der Wahl. Eine Forderung der Absenkung des Wahlalters wird sowohl im wissenschaftlichen wie im politischen Raum seit einiger Zeit erhoben. Klaus Hurrelmann sprach sich bereits 1997 für eine Senkung des Wahlalters auf 14 Jahre aus. (Hurrelmann 1997, S. 288) Er begründete dies, gestützt auf Forschungsbefunde, mit der Vorverlagerung von Verselbstständigungs- und Entscheidungsprozessen in den Lebensläufen verbunden mit neuen Entwicklungsdynamiken und einer früheren Urteilsfähigkeit. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen forderte 2007 die Absenkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre28 (Bundestags-Drucksache 16/6647), die niedersächsische grüne Landtagsfraktion sprach sich 2008 dafür aus, das Wahlalter bei Kommunal- und Landtagswahlen auf 14 Jahre zu senken. Eine Senkung des Wahlalters muss jedoch in eine umfassende Strategie eingebunden werden. Dazu gehört neben einer Verstärkung und Verbesserung der politischen Bildung (Vorholt 2003) auch weitere Maß27 Die Idee des Familienwahlrechts ist nicht neu, bereits der Kreisauer Kreis forderte für jedes nicht wahlberechtigte Kind eine zusätzliche Stimme für Familienväter. (Vgl. Mommsen 2000, S. 114) Carl Goerdeler sprach sich bei Verheirateten mit mindestens drei Kindern für ein doppeltes Stimmrecht des Vaters aus. (Ritter 1954) 28 Der derzeitige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes Prof. Dr. Andreas Voßkuhle forderte im April 2009 öffentlich eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Die grüne Bundestagsfraktion legte im Mai 2009 erneut einen Antrag zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vor. 118 nahmen zur politischen Partizipation von Kindern und Jugendlichen auf allen politischen Ebenen. (vgl. allg.: Frädrich / Jerger-Bachmann 1995) Auch die juristische Kommentierung weist in der Frage der Wahlrechtsgrenze keine eindeutige Stellungnahme aus. Sie reicht von individuellen Einsichtsfähigkeiten (‚Reife‘) bis zu differenzierten Regelungen zur Akzeptanz von Altersgrenzen. Ein einschlägiger Grundgesetzkommentar schreibt, die Einschränkung ergebe sich aus dem Wesen des Wahlrechts und sei historisch erhärtet, zumal für die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes in der Frage des Wahlalters kein Raum sei. (Maunz / Düring: Kommentar zum Grundgesetz, Artikel 38-Randnummer 40) Diese Argumentation des ‚das war schon immer so‘ zeigt jedoch, dass eine Entscheidung über diese Fragen ausschließlich politisch, also über eine Grundgesetzänderung erfolgen kann. Zwei Gründe sollen noch ausführlich bewertet werden, da sie in der öffentlichen Debatte immer wieder bemüht werden: das Wahlrecht müsse erstens höchstpersönlich ausgeübt werden und zweitens benötige man dazu eine entsprechende Einsichts- oder Entscheidungsfähigkeit (Verstandesreife). Für das Wahlrecht gilt die sogenannte Höchstpersönlichkeit. Diese ist aber nicht direkt im Grundgesetz verankert, sie lässt sich aus den Grundsätzen der unmittelbaren, freien und geheimen Wahl ableiten. Enthalten ist der Grundsatz im Bundeswahlgesetz: „Jeder Wahlberechtigte kann sein Wahlrecht nur einmal und nur persönlich ausüben.“ (Art. 14 Abs. 4 BWahlG) Der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit wird in der Praxis bereits durch die Briefwahl und die Wahlhilfe durch einen Wahlhelfer durchbrochen. In Frankreich und den Niederlanden gibt es das sogenannte proxy voting, das Wahlrecht wird mittels Vollmacht an eine andere Person delegiert. In der Diskussion wird immer das Kriterium der Einsichts- oder Entscheidungsfähigkeit bzw. der Verstandesreife als Voraussetzung für das Wahlrecht herangezogen. Dies ist zwar generell bedenkenswert, wird aber nicht konsequent angewandt. Bei Volljährigen wird diese Verstandesreife generell unterstellt, selbst wenn sie nicht in jedem Einzelfall gegeben ist. ‚Reife‘ ist ein zu pauschales Kriterium zur Bestimmung der Voraussetzung für die Wahlberechtigung. Da es eine objektiv messbare ‚Wahlreife‘29 nicht gibt, 29 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Befunde von Kohlberg. Nur mit dem Erreichen des Erwachsenenalters lasse sich keine „Weisheit“ verknüpfen. (Kohlberg 1997, S.78) Die Mehrheit der Erwachsenen argumentiere auf dem konventionellen Niveau, in Kohlbergs Stufenschema also die mittleren Stadien 3 bzw. 4. „Der konventio- 119 kann das Wahlalter letztlich nur politisch festgelegt werden. Dies erfolgt in der politischen Praxis. Einige Bundesländer haben bei Kommunalwahlen das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein). Wahlrechte für Minderjährige existieren in verschiedenen Arbeits- und Lebensbereichen. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Landespersonalvertretungsgesetze gewähren den Auszubildenden für die Jugend- und Auszubildendenvertretungen das aktive wie passive Wahlrecht. Auf Schulebene existiert ein Wahlrecht für jede Klasse, Kurs bzw. Jahrgangsstufe sowie die Schülervertretung, die Wahl in schulische Mitwirkungsorgane (z.B. Schulkonferenz) ist ab der siebten Klasse möglich. (Schulgesetz NRW) Die deutschen Parteien ermöglichen eine Mitgliedschaft ab 15 bzw. 16 Jahren einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechtes.30 Die auf kommunaler Ebene existierenden Kinder- und Jugendparlamente (bzw. Räte, Foren) ermöglichen bis in die Grundschulen hinein Wahlrechte. Interessant ist der internationale Vergleich des Mindestalters bei nationalen Wahlen. In der überwiegenden Mehrzahl der Staaten liegt es bei 18 bzw. 21 Jahren. Österreich senkte 2007 generell das Wahlalter auf 16 Jahre. Brasilien (Wahlpflicht zwischen 18 und 69 Jahren), Iran, Kuba und Nicaragua haben ebenfalls ein Wahlrecht bereits mit 16 Jahren, die Seychellen und Nordkorea mit 17 Jahren. Indonesien, das ein Wahlalter von 17 Jahren hat, setzt dies für Verheiratete herunter. Bosnien und Herzegowina, Kroatien sowie Slowenien gewähren unter der Voraussetzung einer Berufstätigkeit bereits ein Wahlrecht mit 16 Jahren. Ein realistischer politischer Kindheitsbegriff, der davon ausgeht, dass Kinder informierte Entscheidungen treffen können, muss an die Sprachfähigkeit anknüpfen (ca. 9. Lebensjahr). Generell lässt sich festhalten, dass mit dem 14. Lebensjahr Regeln und Werte unabhängig von der eigenen Lebenslage wahrgenommen werden können, begründete Urteile vollzogen werden und allgemein die Fähigkeit entwickelt ist, logisch und abstrakt zu nellen Ebene sind in unserer und in anderen Gesellschaften die meisten Jugendlichen und Erwachsenen zuzurechnen. Die postkonventionelle Ebene wird von einer Minorität von Erwachsenen erreicht, und das in der Regel erst nach dem 20. Lebensjahr.“ (Kohlberg 1997, S. 126) Diese konventionelle Stufe können Jugendliche im Alter von 12 Jahren erreicht haben. 30 Die Satzung von Bündnis 90/Die Grünen kennt kein Mindestalter. Einige Länder definieren jedoch ein Mindestalter, NRW beispielsweise mit 15 Jahren. In der Praxis werden jedoch höchst selten Mitgliedsanträge von Personen unter 14 Jahren gestellt. (Auskunft Pressestelle) 120 denken. (vgl. Hurrelmann 1997) In diesem Alter ist die moralische und soziale Urteilsfähigkeit gegeben. Bei der zentralen Bedeutung des Wahlrechts in einer Demokratie ist es politisch legitim, die im Wahlakt liegende Ausübung von Staatsgewalt und deren Folgen insbesondere für die Zukunft auf diejenigen zu beschränken, die in der Lage sind, diese Verantwortung für die Demokratie zu übernehmen. Eine Senkung des Wahlalters ist auch aus Sicht der partizipatorischen Demokratietheorie unerlässlich. Durch die Teilnahme am politischen Prozess, insbesondere durch eine aktive Mitwirkung an Wahlen, werden (junge) Bürger zu Staatsbürgern. Das Ideal einer Demokratie liegt in der politischen Beteiligung möglichst vieler an möglichst vielem. (vgl. Meyer 2008) Insbesondere die jungen Bürger von wichtigen Entscheidungen auszuschließen, die nachhaltig ihre Zukunft bestimmen, ist kontraproduktiv. Ob das Wahlrecht generell an die Volljährigkeit gekoppelt werden muss, sollte erörtert werden. Ein Zurückgreifen auf die Altersgrenze der Volljährigkeit ist meiner Meinung nach nicht generell zu fordern. Bereits in der Weimarer Republik waren Wahlalter und Volljährigkeit verschieden (aktives Wahlrecht: 1 Jahr Differenz, passives Wahlrecht: 4 Jahre Differenz). 121 Literaturnachweise Alanen, Leena: Zur Theorie der Kindheit. 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